03 Februar 2022

Im Herzen der Extremadura


Eh das Ziel mir war bewusst,
Wanderte ich leicht,
Habe manche Höhenlust,
Manches Glück erreicht
.
Hermann Hesse

Nur aus weiter Ferne nehme ich am Daheimgebliebenen teil. Es sind Splitter eines Lebens, das anderswo stattfindet und in der Erinnerung weiterlebt. Der lange und trübe Berliner Winter, der oft auf der Schwelle zur Depression schlittert, ging in diesem Jahr früh zu Ende. Es ist immer eine kleine Erlösung, wenn die Frühlingssonne den April beglückt, die Brust weitet, und zum ersten Mal über den Winter triumphiert. Während ich über nasse und schlammige Wege wandere, in feuchter Kleidung, unter viel zu oft grauem Himmel, der kein Foto wirklich gelingen lässt, liegen die Berliner in der Sonne und genießen die Wärme. Zu Hause dürstet die Natur, hier ertrinkt sie. Als ich meine Fußreise im April begann, träumte ich von mediterraner Frühlingssonne, nicht zu heiß, an einem blauen Himmel. Die Wirklichkeit hat meine Vorstellungen korrigiert, und mir neue Erfahrungen bereitet, auf die ich weder vorbereitet war, und die ich mir nicht gewünscht habe. Trotzdem frage ich mich: Ist dieser Frühling in Berlin noch ein Frühling oder ein viel zu früher Sommer?

Ich erinnere mich daran, dass der Frühling immer Regen im Gepäck hatte, um die farblose Winteratmosphäre in grüne Wiesen und Wälder mit farbigen Tupfen zu verwandeln. Wenn ich mich umschaue, stehe ich mitten in einem solchen Frühling. Die Stimmung: einmal düster, nass und frierend, dann wieder freudig erregt in hellem warmen Sonnenschein. Die Natur um mich herum sprießt und knospt. Was ist ungewöhnlicher: Wandere ich durch einen wechselhaften Frühling oder vergnügt sich Berlin in einem sich vorzeitig erschöpfenden Sommer? Irgendwie passt dieser verfrühte Sommer in unsere Zeit des Höher, Schneller und Weiter. Einer dieser beiden Frühlinge muss der richtige sein, sonst beginne ich zu glauben, dass es zukünftig mehr als einen Frühling geben wird.
Ich gehe über Méridas regennasse Straßen, belustigt über meine kruden Gedanken. Ein Spaziergang, eine Wanderung oder eine Fußreise, besonders aber eine Pilgerfahrt, fördert Hirngespinste jeder Art. Der Jakobsweg führt mich über viele asphaltierte Straßen aus der Stadt hinaus. Unerbittlich rollt der morgendliche Berufsverkehr vorüber. In den letzten Tagen bin ich unterschiedlichen Menschen aus aller Welt begegnet. Heute gehört der Weg mir allein. Heute habe ich einen ganzen Tag niemanden getroffen. Keine interessante Begegnung, kein Austausch, aber auch kein Geschwätz, kein narzisstischer Gestus. Ich bin allein unterwegs, und habe Muße zur Reflexion. Niemand will etwas von mir. Heute bin ich mir selbst genug. Ich entscheide, wer, wann und wo. Gemeinsam einsam wandere ich, wie schon so oft. Heute rede ich mir ein, der einzige Wanderer auf der Vía de la Plata zu sein, deren Länge auf diesen einen Tag, auf diese Zeit, zusammenschrumpft. Der Weg wird reines Hier und Jetzt, hat kein Gestern und kein Morgen, Beginn und Ende sind blasse Schemen, kaum Punkte am Ende einer krummen Linie. Freiheit ohne Einsamkeit gibt es nicht. Einsamkeit wird in unserer hektischen Epoche, die selbst unsere Gefühle marktfähig macht, zu einem Luxus. Ich genieße es, mit mir allein zu wandern. Dafür bin ich der Vía de la Plata dankbar. Die langsame Bewegung über Wege und durch Orte, wenn die Zeit in Dauer übergeht, ist nicht quantifizierbar, sondern Lebensqualität. Darin liegt das Besondere einer Fußreise. Tagelanges Gehen verändert die physische und psychische Konstitution, schärft das Bewusstsein, in sich selbst zuhause zu sein. Gehen fördert, richtig betrieben, das Bedürfnis weiter zu gehen. Nur die körperliche Kondition setzt die individuelle Grenze. Die Gefühle und die psychische Befindlichkeit, die das Gehen in mir auslöst, sind mannigfaltig, vielleicht unbegrenzt. Die anhaltende, gleichmäßige Bewegung des Gehens bringt mich in einen intensiven Kontakt mit mir selbst, mit meiner Umgebung und ihren vielfältigen Atmosphären. Ich kann die unterschiedlichen Stimmungen, Nuancen und Färbungen um mich herum fast auf der Haut spüren, sehe ihre Farben und Formen, atme ihren Geruch, und ahne ihren Geschmack, höre ihre Geräusche. All das verschmilzt in mir zu einer andächtigen Achtsamkeit. Strebte Novalis nicht danach, seinen Leib in die Natur auszudehnen? Wer wissen will, was Glück bedeutet, muss sich auf die Füße machen, muss wieder beginnen zu gehen, dahin, wo er durch seine Begegnung mit der Natur seine eigene Identität erlebt. In dieser befriedigenden und kreativen Arbeit wohnt das Glück.

Ein perfekter Tag. Ich bin unterwegs ins kleine Aljucén. Seit ich vor zehn Tagen in Sevilla aufgebrochen bin: no rain, not to say, easy goin´. Noch fehlt mir der Anschluss an meine erste Pilgergemeinschaft, gehe ihr vieleicht mit ein oder zwei Tagen Abstand hinter her. Auch Wolfgang, mit dem ich gestern noch zusammen war, ist irgendwo in der Landschaft verschwunden. Mir fehlt die Vertrautheit, die sich unterwegs entwickelt, das Gefühl, nicht allein auf einem einsamen Weg zu sein. Jetzt gehöre ich zu einer neuen Gemeinschaft, die aus der Pilgerherberge von Mérida, die noch nicht meine geworden ist. Die Franzosen habe ich gegen viele Deutsche eingetauscht. Heute Morgen sind wir zusammen aufgebrochen. Jeder bahnte sich seinen eigenen Weg durch Mérida. Der Abstand zu den Einzelnen, die vor mir sind, wird allmählich immer größer, bis sie im dämmrigen Licht des bedeckten Himmels im Gewirr der Gassen und Straßen verschwinden, durch die sich Kleinwagen drängeln. Eine Landstraße verlässt bergauf Mérida. Noch sind es sieben Kilometer bis an den großen Stausee, den Embalse de Proserpina, das unerschöpfliche Reservoir an Trinkwasser, das schon die Römer über den Acueducto de los Milagros in die Stadt leiteten. In der Calle Calvaría in Mérida wurde ein großer öffentlicher Brunnen ausgegraben, wo die Bevölkerung das Wasser des Stausees, das der Aquädukt über die Stadtmauern brachte, schöpfte. Auf der fast fünfhundert Meter langen, in großen Abschnitten erhaltenen Staumauer der Römer, gehe ich unter grauen Wolken am See entlang. Es ist trocken, doch die Sonne hat noch keinen Sieg errungen.
Magisch breitet sich die Landschaft vor mir aus, und ich fühle das Urbane der letzten Tage von mir abfallen. Das Geräusch der Schritte, der Gesang der Vögel, der mittags ruht und abends wiedereinsetzt, der Geruch der Wiesenblumen, der noch feuchten Erde. Frühling schwebt so aufdringlich in der Luft, dass er mich von allen Seiten bedrängt. Der friedliche Klang der Natur, kühlt meine Stimmung, Gedanken fallen wie Tropfen in den Brunnen der Naturstille. Zeilenfragmente eines fast vergessenen Lieds mischen sich ein, das von Visionen erzählt, ins Gehirn gepflanzt, aufgehoben in den Sounds of Silence. Die Geräusche der Stille. Nichts Technisches mehr. Keine Menschenseele. Selbst die Tiere halten Abstand. Den vielen Insekten bin ich inzwischen gleichgültig geworden. Sie sind in dieser Grandiosität zu klein, um zu stören. Ein perfekter Tag, der leichtfüßig an die gestrige Euphorie anknüpft.
Die Vía de la Plata ist mit den anderen Jakobswegen, die ich gewandert bin, nicht zu vergleichen. Es fällt mir noch schwer, mich mit diesem Weg anzufreunden. Ich vergleiche zu viel. Meine Wanderung durch das Baskenland oder die asturischen Berge halten mich noch gefangen. Die Eichenwälder und Olivenplantagen der andalusischen Dehesa, ihre liebliche Parklandschaft, sind beeindruckend. Die herausfordernde Monotonie der Extremadura mit dem schönen Zafra oder dem historischen Mérida waren abwechslungsreich. Im Stillen hoffe ich auf Galicien, und fühle mich wie ein Verräter an der Natur um mich herum. Eine übriggebliebene Sehnsucht aus dem letzten Jahr oder der große, sanft ockerfarbene Stein auf meinem Schreibtisch, der auf die Erfüllung eines Versprechens wartet. Galicien ist noch Hunderte Kilometer entfernt. Noch ein Monat durch die Extremadura, und dann noch Kastilien. Zuerst wird es Mai, und der Frühling nähert sich seinem Höhepunkt. Der Kuckuck wird nicht müde, mir diese Botschaft ständig ins Ohr zu kuckucken. Noch ist es viel zu nass und kalt. Doch irgendetwas lässt mich glauben, dass sich das gerade ändert. Ich gebe mir und der Vía de la Plata noch viele Chancen.
Nachmittags komme ich nach Aljucén, ich bleibe über Nacht. Ein weiteres weißes Dorf. Ruhig und friedlich, fast ausgestorben, liegt der kleine Ort in der Nachmittagssonne. Die Wolken des Vormittags sind lange verschwunden und die Mauern reflektieren blendend weiß. Es gibt wenig von dem, was mich in Berlin alltäglich umgibt. Nichts außer ein wenig Landwirtschaft und Viehzucht, dafür viel Strukturschwäche, Arbeitslosigkeit und Überalterung. Gleich neben der Kirche betreibt eine Familie eine touristische Herberge. Das Gebäude erinnert an einen ehemaligen Bauernhof: das doppelflügelige, hölzerne Tor, der große Innenhof, das Wohnhaus mit der großen, überdachten Veranda. Hier sitzt der Herr des Hauses an einem großen Tisch, mit Stempel und Quittungsblock, während die Pilger*innen nacheinander eintreffen. Für Trekkingschuhe und Wanderstöcke gibt es einen Platz neben der Tür, wo Zeitungspapier ausliegt und ein Waschbecken angebracht ist. Mehrere Tische, um die ordentlich Stühle arrangiert sind, an der hinteren Wand eine Anrichte, bilden die Küche und ein luftiges Esszimmer. Jeden begleitet der Gastgeber in den großen Empfangsraum des umgebautes Wohnhauses, in dem auch die Familie lebt. Ein Hospitalero ist er nicht, dem Geschäftsmann fehlt dazu das Ehrenamt. Zwei düstere, fensterlose Schlafsäle mit Etagenbetten und ein nach Geschlechtern getrenntes Bad stehen für die Pilger bereit. Zwölf Euro kostet die komfortable Unterkunft. Es ist nicht die erste touristische Herberge an der Vía de la Plata, in der ich übernachte, die den Vorteil kürzerer Distanzen bieten. Die nächste Pilgerherberge betreibt ein Kloster in Alcuéscar, weitere achtzehn Kilometer entfernt. Ich habe niemanden eingeholt. Von den neuen Bekannten aus Mérida übernachten nur María und Oskar in der kleinen Herberge in Aljucén. Die anderen sind schneller unterwegs.
Das Dorf ist klein, nicht viel größer als Almadén de la Plata oder El Real de la Jarra. Viele Häuser stehen leer, und ich hätte sicher keine Schwierigkeiten, eins davon zu mieten oder zu kaufen. Auch das große, mehrflügelige Gebäude am südlichen Ortsrand liegt verlassen. Auf dem verwitterten Wappen kreuzen sich ein Schwert und ein Fasces, ein Bündel aus mehreren Ruten, in dem ein Beil steckt. Das Amtssymbol der höchsten Machthaber des Römischen Reichs, das ihnen von einem Amtsdiener vorangetragen wurde, das Liktorenbündel. Ein ehemaliger Adelssitz, das verfallende Wohnhaus eines aufgegebenen Ritterguts? Keines der Gebäude ist in einem guten Zustand, sie sind heruntergekommen und sanierungsbedürftig. Die Landstraße, auf der ich in den Ort gekommen bin, teilt das Dorf in zwei Hälften. Auf einer Seite gruppieren sich die weißen Häuser um eine asymmetrisch gebaute, kompakte Kirche, auf der anderen bietet ein zertifiziertes Landhotel ein entspannendes Bad in der römischen Therme Aqua Libera zu Pilgerpreisen an. Viel zu schnell habe ich den Ort erkundet, die abschüssige Straße hinunter, auf einer anderen, parallelen gehe ich wieder hinauf zur Kirche. In Aljucén mangelt es nicht an Bars, drei sehr unterschiedliche Etablissements laden zur Einkehr. Dazu der obligatorische Supermercado, hier ein Geschäft mit beschränktem Warenangebot. Das Wenige, das in den Regalen liegt, macht den Eindruck des Nötigsten, sollte jemand etwas im Supermarkt anderenorts vergessen haben. Hier bekommt er es, wenn nicht gerade Siesta ist.
Die Kirche aus dem 15. und 16. Jahrhundert, legt man Brandenburger Maßstäbe an, erinnert an eine der gedrungenen, trutzigen Wehrkirchen. Sie ist der Nuestra Señora de la Consolacíon gewidmet, der tröstende Hohen Frau. Die Kirche besitzt ein beeindruckendes Renaissance-Portal mit Porträtköpfen, floraler Ornamentik und einem Rundbogen mit eingemeißeltem Text für den mein Latein nicht reicht. Umwelteinflüsse haben die Dekoration weitgehend zerstört, da hilft auch mein Monokular nicht weiter. Ich kann weder die Ikonographie einordnen, noch die Inschrift lesen. Über dem Sturz eines Nebeneingangs finde ich eine umgestülpte Jakobsmuschel, und ich weiß gleich wieder, auf welchem Weg ich mich befinde. Der Kirchturm Unserer Tröstenden Frau beherbergt das obligatorische Storchennest. In der Bar gegenüber treffe ich auf Celestino aus Turin: ärmelloses schwarzes Shirt, schwarze kurze Hose. Am Tisch angelehnt steht ein Rucksack, der neugierig macht, was sein Träger alles mit auf den Camino de Santiago gebracht hat. Als ich aus der Bar auf die Terrasse komme, macht er sich gerade über eine Portion Papas fritas her. Cigüeña, klärt er mich unaufgefordert auf, heißt der Storch im Spanischen, als er sieht, dass mich die schwarzweißen Vögel interessieren, die laut klappernd um den Kirchturm fliegen. Er fragt nach der Herberge, und kurz darauf treffe ich ihn im Schlafsaal wieder. Der Abend gestaltet sich wie gestern: Caminolatein, haltlose Mutmaßungen über Weg, Unterkunft und Wetter. Woher ich weiß, dass sie haltlos sind? Sie haben bisher noch nie gestimmt. Wieder steht die Leistung im Vordergrund, wieder will der eine oder andere wissen, wie viele Tageskilometer und wie viele Jakobswege. Und wer der Beste und der Schnellste ist. Spiritualität verliert sich im sportlichen Wettbewerb. Will ich mich an der Unterhaltung beteiligen, muss ich mithalten. Wie gut, dass die Vía de la Plata nicht mein erster Jakobsweg ist. Ich erzähle von Wegen und Begegnungen, von Glück und Scheitern, von der Euphorie in der Natur und dem Gefühl, aufgeben zu müssen, nach tagelanger Erschöpfung. Mit meiner Kilometerleistung kann ich nicht glänzen. Ich höre so manches Skurrile an diesem Abend auf der Terrasse der Pilgerherberge von Aljucén. Von Celestino den Spruch des Tages: No vino, no camino!

Neben einer kleinen Landstraße fließt, unter Büschen und Bäumen versteckt, der Río Aljucén. Ein blaßrotes Mohnblumenfeld breitet sich zwischen mir und dem friedlich schlummernden Aljucén aus. Ich gehe auf den Horizont zu, der aufgehenden Sonne entgegen, deren frühes Licht die weißen Mauern des Dorfs mit einem rosigen Schimmer übergießt. Eine Tankstelle bedient die ersten Kunden des Tages, während ich auf den von Schlaglöchern übersäten Weg in den Parque Natural de Cornalvo flüchte. Elftausend Hektar ehemaliges Weideland sind in ein Naturschutzgebiet umgewandelt worden, in dem zweihundertfünfzig Tierspezies sich selbst überlassen sind. Darunter neunundsiebzig Vogelarten: der vom Aussterben bedrohte Schwarzstorch, Geier, verschiedene Greifvögel, Falke, Adler und Milan, selbst die Lachmöwe verirrt sich mitunter hierher. Mein Monokular griffbereit, habe ich keinen von ihnen gesehen. Nur ein Hase kreuzt schnell meinen Weg. Dafür Blüten und Grün ohne Ende. Den ganzen Tag wandere ich durch den herrlichen Naturpark von Carnalvo, auf Viehtriften, vorbei an riesigen Landgütern, eingestreuten Äckern, durch weite Eichen- und Korkeichenwälder, gemischt mit Eukalyptusbäumen, nicht so dicht gepflanzt wie in Spaniens Norden, in España Verde. An den Bachläufen gedeihen Eschen, Ulmen und Weiden. Irgendwo im Park liegt der Embalse de Cornalvo mit seiner großen Staumauer, neben dem Stausee von Proserpina das zweite Wasserreservoir, das schon den Wasserbedarf der Römer deckte. Ich weiß nicht, durch welche Sierra ich gerade wandere. Vielleicht ist es die Sierra Bermeja oder die Sierra del Moro, in der Nähe die Ruinen des Castillo Las Atalaya, eine bergige Region, in fünfhundert Metern Höhe.
Auch jenseits des Naturschutzgebiets hat die Extremadura nichts von der Monotonie der ersten Tage. Ich wandere noch immer über Viehtrifte und Privatwege, die allgegenwärtigen Coto privado de caza, öffne und schließe weiter Gatter, die die Weiden trennen. Eine Landschaft, die den Baumsavannen des nördlichen Andalusiens ähnelt, mit ihren stundenlang andauernden, vielstimmigen Vogelkonzerten. Erst wenn es mittags heißer wird, verstummen die Vögel allmählich. Dann wird es so still und heiß, dass die Gedanken flirren. Nur der Kuckuck lässt es sich nicht nehmen, seinen Ruf in die Stille zu pflanzen. Zwischen den Bäumen weiden Rinder und Schafe. Die Vía führt durch eine abwechslungsreichere Landschaft als in den letzten beiden Tagen. Unter einem blauen, wolkenlosen Himmel, schattenlos in der Sonne, läuft der Schweiß in Strömen, und mein Wasser ist viel zu schnell ausgetrunken. Doch es gibt Bäche genug, in denen ich meine Flasche auffüllen kann. Bleibt das Wetter heiß und trocken, muss ich in den nächsten Tagen früher aufbrechen, damit ich Nachmittags nicht zu spät ankomme, und noch etwas von den Orte sehe, in denen ich übernachte. Ein steinernes Wegkreuz, das Cruz de San Juan, macht mir bewusst, dass ich mich längst in der Provinz Cáceres befinde. Nun kann es nicht mehr weit bis Alcuéscar sein, das hinter der nächsten Anhöhe liegen muss.
Ich treffe Seamus aus York wieder, der bisher in Argentinien gelebt hat. Jetzt geht er über die Vía de la Plata nach London, wo er sich für eine Ausbildung zum Sozialarbeiter und Coach eingeschrieben hat. Ich sage nichts, hoffe aber, er findet sein Glück in diesem schwierigen Feld. Eine Weile wandern wir zwischen Sträuchern mit weißen Blüten und gelb blühendem Ginster, das Landschaftsbild von vielen aufeinander abgestimmten Grüntönen bestimmt, arrangiert von einem begnadeten Designer, ein Kontrast, wie ihn nur der Frühling zaubern kann. Wir Menschen sind nur Plagiator dieser Schönheit. In einer solchen Landschaft schürfen die Gedanken tief, und die Gefühle werden geschmeidig. Wir tauschen unsere Lebensgeschichte aus. Ich erkenne in seiner Erzählung den Idealismus meiner eigenen Jugend wieder, der noch immer in der Asche glüht. Vielleicht sind meine unterschiedlichsten Erfahrungen in sozialer Arbeit eine Fundgrube für ihn. Er ist einer dieser sensiblen jungen Männer, die Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen wollen. Viele von denen, die ich gekannt habe, sind an einem erstarrten bürokratischen System gescheitert, für das das Soziale seine Priorität verloren hat.
Die Konzentration auf das Wesentliche in der psychischen Anstrengung der Bewegung zum Gegenüber hin. Das körperliche Ausgesetztsein in Unsicherheit und Fremdheit, führt zu einer neuen Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung, die in sozialen Berufen unverzichtbar ist. Tagelanges Gehen in der Fremde macht es jedem klar: aufeinander angewiesen sein und Empathie sind Grundvoraussetzungen des Zusammenlebens. Das Loslassen des Vertrauten mit der neuen Ausrichtung der Perspektive in der Begegnung besitzt eine heilsame Qualität, die nirgendwo sonst zu finden ist. Eine Fußreise ist eine Bewegung im Raum, Erinnerung eine Bewegung in der Zeit. Keine Erfahrung äußert nur das, was ein Ereignis, eine Begegnung, eine Landschaft oder einen Ort abbildet. Jede Erfahrung knüpft an frühere Erinnerungen an: Bilder, Vor-Bilder, Wege, Begegnungen. Deshalb ist meine Fußreise selbst für mich nicht wiederholbar. Sigmund Freud spricht vom inneren Ausland, das er in der Analyse des Verdrängten erkunden will. Eine Reise öffnet die Tür zur Erinnerung, und der Weg in die Erinnerung fördert alles Mögliche aus unbewussten Tiefen. Keine Reise führt nur durch äußere Räume. Wer das glaubt, der irrt. Der Reisende hebt auf seiner spirituellen Queste in ihm verborgene Schichten ins Licht des Bewusstseins, die er kennen muss, um sie mit anderen zu teilen. Erst dann kann eine authentische Beziehung entstehen. Bob Dylan gibt demjenigen, der solches erlebt hat, ermutigende Worte mit auf den Weg: and so don´t fear if you hear, a foreign´sound to your ear.
Die öffentliche Pilgerherberge der kleinen, unspektakulären Provinzstadt Alcuéscar befindet sich im Kloster Casa de la Misericordia. Wieder einer dieser sprechenden Namen. Die Mönche greifen auf das ureigenste Ideal des Christentums zurück: auf die Barmherzigkeit. Auch eine der Eigenschaften des menschlichen Charakters, die dem Konsum zum Opfer gefallen und der Habgier gewischen ist. Eine barmherzige Person öffnet ihr Herz fremder Not, nimmt sich ihrer mildtätig an, nicht gleich selbstlos, denn das ist nur wenigen möglich, und die christliche Agape verlangt das auch nicht. Ich glaube nicht, dass wir in einer barmherzigen Welt leben. Ich verstehe auch nicht, dass Menschen, die solche Werte propagieren, oft die gleichen sind, die täglich das Leitmotiv ihrer Philosophie brechen. Die Araber haben den Ort wahrscheinlich um 830 gegründet. Vierhundert Jahre später eroberten die Ritter der Reconquista ihn für die Christenheit und ihre rückständige, spätmittelalterliche Ideologie zurück. Was ich nicht wusste als ich vorbeikam, und was Alcuéscar bemerkenswert macht, sind die außerhalb des Ortes liegenden Ruinen der Ermita de Santa Lucía de Trampal, das einzige westgotische Bauwerk im Süden Spaniens aus dem achten Jahrhundert.
Das Kloster der Barmherzigkeit, Konvent und Behindertenheim der Esclavos de María y los Probes, der Sklaven Marias und der Armen, ordnet für die Pilger strenge Regeln und Öffnungszeiten an. Als ich das Kloster gegen Mittag, nach einer Odyssee durch Straßen und Gassen und mehreren Aufenthalten in Bars am Wege, in denen ich meinen Durst stillen konnte, finde, warten Seamus, María und drei andere Wanderer in der prallen Mittagssonne darauf, dass das Tor um zwei Uhr geöffnet wird. Ich will nicht warten, die Zeit nutzen, um mich im Ort umzusehen. Es gibt kaum Schatten, die sind Straßen leer. Nicht einmal ein streunender Hund oder eine träge in der Sonne dösende Katze. Wieder finde ich mich unter der Markise einer Bar wieder und vertrödele die Siesta bei Milchkaffee und Wasser. Seamus und ich bekommen eine kleine Zelle mit einem Etagenbett zugewiesen, dessen Matratze so durchhängt, dass ich die Nacht in einer Hängematte verbringe. Um acht Uhr abends kochen zwei Mitarbeiter ein reichhaltiges Menu für uns. Doch der Höhepunkt des Tages kommt nach dem Essen. Bruder Leon führt uns in eine Kapelle, wo er uns aus seinem Leben berichtet. María übersetzt simultan ins Englische. Er erzählt uns von seinem Weg ins Kloster, der mit dem Tod seiner Frau und der Krankheit seiner Tochter begann, als er schon älter war. Jetzt fühlt er sich im Kloster für die Pilger verantwortlich, denen er ein spirituelles Umfeld bieten will. Natürlich redet auch er über die Metapher des Wegs, die metaphysische Straße, die das Leben selbst ist, über die Tugenden Bescheidenheit und Armut, die jeder Pilger erst dann in sich selbst entdecken kann, wenn ihn der mysteriöse Ruf aus Nirgendwo erreicht. Es ist so, wie in Michael Endes Unendlicher Geschichte, wo Bastian Balthasar Bux durch die Seiten des Buchs in die Geschichte Fantasiens eintaucht. Für den selbstunsicheren Bastian, auf dem Speicherboden in ein seltsames Buch versunken, deutet sich die Metamorphose an, als die Schrift im Buch von Rot nach Grün wechselt. Auch ein Pilger macht die Erfahrung, dass Alltagswelt und Pilgerfahrt zwei verschiedene Handlungsebenen sind. Unterwegs überschneidet sich die Geografie des äußeren mit der des inneren Raums, und befreit sie von sozialen Zwängen. Die Seiten des Buchs sind das Leben, die Geschichte ist der Grund.

Pilgern ist eine sehr alte, moderne spirituelle Praxis, die die Institution Kirche bereits im Mittelalter für ihre Zwecke instrumentalisiert hat. Noch bevor die katholische Konfession, die nur noch Spuren des egalitären Urchristentums bewahrt hat, das Pilgern für ihre Zwecke entdeckte, handelte es sich um eine mystische Erfahrung der Volksfrömmigkeit, eine Bewegung, eine Anti-Struktur, die parallel zur offiziellen Struktur von Konfessionen verlief, und deren Merkmale Communitas, Bedürfnis- und Hierarchielosigkeit waren, wie sie Bettelmönche, einst der Orden der Franziskaner oder die buddhistischen Mönche, noch immer praktizieren. Auch die islamische Haddsch war nicht immer ein pauschal-touristisches Unternehmen. In seinem Bericht über eine Pilgerreise zum Berg Kailash in Tibet überlässt sich der deutschstämmige Pilger Lama Anagarika Govinda, auf der Suche nach mystischen Erfahrungen, wie eine weiße Sommerwolke dem größeren Strom des Lebens, der aus der Tiefe seines Wesens aufwallt und ihn über ferne Horizonte zu einem seinen Blick noch verborgenen, aber stets gegenwärtigen Ziel führt. Dieses mystische, der Gegenwart verpflichtete Ziel entspricht nicht wirklich einem realen Ort im Leben, zu dem gepilgert werden kann. Dieser Ziel-Ort ist nur vordergründig bedeutsam, eher das Symbol einer Vision von etwas sehr Persönlichem, das nur im Inneren des Pilgers existiert. Die katholische Doktrin hat diese individuelle Vision zu einem allgemeingültigen Weg in einen jenseitigen Himmel verfälscht und propagiert, bis Luther das zunehmend ablassorientierte, sinnentleerte Pilgern berechtigt als unnütz verurteilte und schließlich ganz verbot. Der Weg als ein Symbol für die Suche nach Transzendenz war von Luthers Verbot aber keinesfalls betroffen. Pilgern besaß schon immer eine größere Nähe zur persönlichen Suche nach spirituellen Erfahrungen, als zu den Strukturen einer übergeordneten Konfession mit ihren Regeln, Rollenzuschreibungen und Zwängen. Als Phänomen, entkleidet von jeglichen ideologischen Zuweisungen, ist Pilgern losgelöst von jeglichem institutionalisierten Führungsanspruch: ahierarchisch und antistrukturell. Jean-Christophe Rufin fasst diese Erfahrung in seinem Buch Pilgern für Skeptiker ähnlich zusammen: So kommt es, dass die Menschen von heute nach einem langen Umweg über die monotheistischen Religionen manchmal zu spirituellen Bezauberungen zurückfinden, bei denen ihnen das Göttliche in den Dingen der Natur erscheint. [...] Auf dem Umweg über den Körper und die Entbehrungen verliert der Geist sein sprödes Wesen und vergisst die Verzweiflung, in die ihn die Vorherrschaft des Materiellen gestürzt hatte, die Vorherrschaft der Wissenschaft über den Glauben, die Vorherrschaft der Langlebigkeit des Körpers über die Ewigkeit des Jenseits.
Jeder erlebt Situationen, in denen er nicht weiß, wie ein Bedürfnis entsteht, woher der drängende Impuls, etwas zu tun, plötzlich auftaucht. Der Gedanke zu Fuß zu gehen muss ganz im Geheimen, von mir unbemerkt geblieben, konkrete Gestalt angenommen haben. Bevor mir das Bedürfnis bewusstwurde, war ich emotional schon längst auf diese Fußreise eingestimmt. Sie besetzte meine Gedanken und Gefühle wie ein Freibeuter aus dem Inneren der Seele. Bevor ich die Konsequenzen verstand, ich mir den Wunsch eingestehen und den Gedanken zulassen konnte, hatte etwas in mir bereits die Entscheidung getroffen. Fügung? Intuition? Der mysteriöse Ruf von Nirgendwo, der so gerne bemüht wird, wenn es um Unerklärliches geht? Vielleicht die spontan kreative Tat, die handelt, bevor ein Plan festgeschrieben ist. Und so hinken die Gedanken der Intuition hinterher, die längst die Führung übernommen hat. Ohne es zu bemerken, war ich in die Liminalität gefallen. Seit ich wusste, dass ich zu Fuß gehen werde, dachte ich an eine Pilgerfahrt, und an die ethnologische Theorie von Ritual und Lebenszyklus, an Aufbruch, Übergang, an eine Communitas mit anderen, die pilgern, die mir ähnlich sind und auf kommende Wiedereingliederung und Neubeginn hoffen. Plötzlich hatten meine unbestimmten Gefühle eine theoretische Basis und Richtung bekommen, mit der ich einverstanden sein konnte. Ich dachte an Victor Turner, erinnerte mich daran, dass Pilgern ein Ritual ist, ein Zustand des Übergangs von der Statuslosigkeit in einen neuen Status, eine Zeit der Strukturlosigkeit, der fehlenden Hierarchie und der egalitären Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Eine Fußreise erschien mir die richtige Antwort auf meine psychische Befindlichkeit und soziale Situation zu sein.
Jede Pilgerfahrt findet zwischen zwei biographischen Polen statt: die Zeit des Aufbruchs und die Zeit der Rückkehr. Dazwischen, in einer parallelen Zwischenwelt, ist der Pilger sich selbst und anderen ein Fremder, ein Peregrinus. Dort wo er ist, ist er ein Ausländer, einer, der weit weg von zu Hause ist, der einer Welt gegenübersteht, der die alltägliche Vertrautheit fehlt. Unterwegs wird die Vergänglichkeit des Lebens deutlicher bewusst. Während ich weiter gehe, verändert sich ständig alles um mich herum. Nichts bleibt, nichts kann ich festhalten, wie es in den Phasen der Sesshaftigkeit zu sein scheint, in denen man hofft, das Erreichte habe Bestand. Dass dies so ist, verdankt der Mensch seiner Fähigkeit zur Verdrängung. Wir müssen zuerst vergessen, damit wir in der Erinnerung wieder erleben können, was an uns vorbei gegangen ist, dass wir immer erst im Nachhinein verstehen. Erinnerung, habe ich geschrieben, ist eine Bewegung in der Zeit, die uns unser Leben bewusster macht. Der Romanheld Harold Fry hat dies erst verstanden, als er damit begann, die Entfernung nicht mehr in Kilometern, sondern in Erinnerungen zu messen. Der moderne Pilger ist ein Homo viator, ein Wanderer, ein Eigenartiger, einer der in einer hypermobilisierten Welt wieder beginnt zu Fuß zu gehen. Er ist kein einsamer Kämpfer, der gegen den Strom schwimmt, kein Aussteiger oder seltsamer, irgendwie übrig gebliebener Kauz, sondern einer, der gemeinsam mit vielen gegen die Trägheit und Gleichgültigkeit der Welt angeht. Er ist einer, der aufrecht durch die Menge geht, die ihn verwundert, oft misstrauisch beäugt. Doch für ihn scheint die Möglichkeit einer Freiheit auf, wie am Morgen die Sonne rot über den Horizont klettert. Deshalb bleibt er seinem Zuhause für Wochen oder Monate fern. Er ist einer, der sich Verzicht und freiwilligen Prüfungen unterzieht. Pilgern ist Askese, und findet wie jede Askese in der Liminalität des Zwischenraums statt.
Wer heute auf einen Pilgerweg geht, legt nur noch selten ein ostentatives Glaubensbekenntnis ab, wie es für den mittelalterlichen Pilger selbstverständliche Pflicht und Zweck seiner Fußreise war. Wer heute auf einen Pilgerweg geht, unabhängig von Mode und Ziel, ist auf der Suche nach persönlicher Spiritualität, dem Bedürfnis, Zeit für sich selbst zu haben, für eine Weile mit den Rhythmen und Techniken seiner durchstrukturierten Welt zu brechen. Die Hoffnung des modernen Pilgers ist seiner Identität gewidmet, die obsolet geworden ist. Er bricht auf, um sich zu reinigen, das Sterben seiner alten Rolle zu inszenieren und in einen neuen Status hineingeboren zu werden. Wie dem mittelalterlichen Pilger geht es ihm um die Begegnung und Konfrontation mit dem Heiligen, das er aber nicht in den äußeren Manifestationen einer Konfession, sondern in der Natur, in der Begegnung und im eigenen Leib zu finden vermutet. Am Ziel seiner Pilgerfahrt angekommen, wenn seine alte Identität gestorben ist, hofft, er wiedergeboren zu werden. Aber es gibt Pilger und Pilger, und diese Erfahrung macht nur derjenige, dem es gelingt, die Bequemlichkeit und Sicherheit seines bisherigen Lebens für eine Weile hinter sich zu lassen. Erst dann kann er sich neu erleben. Und erst wenn der Pilger alle Gefahren vergessen hat, so Lama Govinda, und sein altes Ich, das eins geworden ist, dass er nicht mehr ist, ausgelöscht ist, erlebt er dieses Wunder, denn wie in einem Traum ist er eins geworden mit seiner Vision. Er hat die Unerschütterlichkeit eines Menschen gewonnen, der weiß, dass ihm nichts geschehen kann, als was ihm schon seit Ewigkeit zugehört.
Im Gehen durch die Landschaft, in der Natur oder im urbanen Umfeld, reduziert sich die Welt auf das Wesentliche. Das langsame Gehen verbrüdert mich mit meiner Umgebung, synchronisiert die äußere Geografie mit meiner inneren Vorstellung von Landschaft. Die Herausforderungen auf dem Weg treffen mitten ins Herz, das bereits für Erfahrungen schlägt, von denen ich zu Beginn nichts ahne. Mein Weg führt mich mitten ins Offene, auf Entdeckungen und Ereignisse zu, die eher Unwahrscheinliches und nicht Vorhersehbares, als Bekanntes und Vertrautes bereithalten. Pilgern ist eine zutiefst leibliche Erfahrung, die sich nicht allein der Herausforderung gegenübersieht, kontinuierlich die psychische Befindlichkeit zu regulieren, sondern die gleichzeitig Techniken der Leibbemeisterung entwickeln muss. Pilgern ist Yogapraxis im Gehen, in dem Sinne, dass das fließend rhythmische Schritt-für-Schritt gleichzeitig aktiv und meditativ ist. Gehen im Rhythmus des Atmens. Gehen als meditative Praxis produziert Sinn, besonders für denjenigen, der aus seinem alten Leben in eine vorübergehende Statuslosigkeit geraten ist. Gehen ist ein Ritual, eine rauschhafte Phase der Biografie, eine Initiation im Prozess des Lebenszyklus, das Pilger nutzen, um in einer schwierigen Lebensphase neue Stabilität und Klarheit zu gewinnen. Die Magie der Gehens speist sich nicht aus der Hoffnung, unterwegs zu einem Ziel zu sein, sondern in eine neue Existenz. Das Potenzial des Gehens besteht in der Erkenntnis, dass der Weg den Pilger macht, ihm Herz und Blick öffnet, und ihm eine neue Perspektive schafft. Ich werde oft gefragt: Wozu war es gut, mit schmerzenden Füßen durch Wind und Wetter zu laufen? Sonne hat es auch gegeben, antworte ich dann trotzig, und den Frieden der Landschaft, die innere Harmonie und Ausgeglichenheit, die in der Natur entsteht, wenn ich ihr tagelang allein und schutzlos ausgeliefert bin. Die Gefühle und Gedanken, die mich begleitet haben, bis sie zu einem neuen Jetzt zusammenwachsen. Die Gelassenheit, die sich erst eingestellt, wenn ich lange genug losgelassen habe. Der Weg ist das Ziel, wie das Medium die Message. Wolfgang Niedecken, mein Kölner Pilgerbruder im Geiste reduziert die Bewegung des Pilgern auf einen Teil des Körpers, seine Mundbewegung, und formuliert die kreisende Bewegung des Suchenden um seine Mitte: Ich weiss noch, wie ich nur dovun jedraeump hann / Wovunn ich nit woss, wie jet sooke sollt / Vuur lauter sookerei et finge jlatt versaeump hann / Un ovverhaup, wat ich wo finge wollt.

Ich mache es mir bequem. Heute gehe ich nicht weiter als die fünfzehn Kilometer nach Aldea del Cano, kaum ein Ort, nicht mehr als ein paar Häuser an einer breiten Landstraße, durch den der Verkehr ungebremst hindurchfährt. Ohne den großen Parkplatz und das Restaurant würde keines von ihnen halten. Der Tag wird immer heißer, und mir sind die wenigen Kilometer bis nach Aldea del Cano schon jetzt zu anstrengend. Nachmittags zeigt das Thermometer dreißig Grad. Auf den schattenlosen Wiesenwegen ist es so heiß, dass mir schummrig wird. Die Luft flimmert. Plötzlich diese Hitze, diese trockene Luft, nach all dem Regen in den letzten Tagen. Täglich begegnen mir unterwegs andere Herausforderungen als in meinem Berliner Alltag. Vieles ist mir fremd. Keine mentalen oder technischen, und erst recht keine beruflichen oder bürokratischen Beanspruchungen. Hüftabwärts körperlich. Hüftaufwärts ist es stiller, denn die Gedanken entgleiten immer wieder in die Landschaft. Während mir die Füße schmerzen, müssen die Daheimgebliebenen die Routinen ihres Alltags ertragen, viele von ihnen unfreiwillig. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich selbst im Korsett der Entfremdung steckte. Jedem das Seine. Ultreya! Vorwärts, lautet das Leitmotiv für Santiago-Pilger; einst vielleicht auch der Santiago-Ritter, von denen auch bekannt ist, dass sie mit Santiago auf den Lippen über ihre Opfer herfielen. Mir fällt ein Motiv aus Paulo Coelhos Krieger des Lichts ein: Wie die Schlacht am Ende ausgegangen ist, weiß der Krieger des Lichts selten. Wenn plötzlich alles möglich ist, ist nichts mehr notwendig. Mein Leitmotiv für innere Gelassenheit!
Die Vía de la Plata folgt ein paar Kilometer nördlich von Alcuéscar dem Lauf des Río Ayuela, der den nächsten großen Stausee bildet, die Embalse de Ayuela. Nur noch sechs Kilometer nach Casas de Don Antonio, ein kleines Dorf, dessen Zentrum auf einem niedrigen Hügel liegt, vor dem Schmutz und Lärm der N 630 geschützt. Ein abgelegener Ort, mit einem eigentümlich klingenden, sprechenden Namen: Häuser des Don Antonio, erinnert an eine Zeit, in der Großgrundbesitzer nicht nur das Land besaßen, auch alles andere, und die Menschen, die dort lebten. Eine perverse, abstruse Einstellung, dass ein Mensch einen anderen besitzen kann wie einen Gegenstand. Ein sandiger Feldweg mündet über eine gut erhaltene, mittelalterliche Bogenbrücke in den Ort, der jenseits der Nationalstraße liegt. Unmittelbar daneben die eigentliche Sensation des Tages: die aus klobigen Felsbrocken gefügte Calzada Romana, ein Abschnitt der ursprünglichen Vía de la Plata. Ich stehe neben einem archäologischen Denkmal, schaue von der Straße auf ein vielleicht hundert Quadratmeter großes Stück Geschichte herab. Ein Stück Straße zum Anschauen, zu betreten, aber nicht um darauf zu gehen. Seamus, der kurz nach mir eintrifft, und auf den Verlauf des gelb markierten Pilgerwegs konzentriert ist, läuft achtlos an dem Kleinod vorbei. Erst als er mich fotografieren sieht, bemerkt er, wo er steht. Gelbe Pfeile, die es auch nicht gibt, sind nicht notwendig, denn das Felssteinpflaster weist die Richtung. Wir gehen hinauf in den Ort, auf der Suche nach der einzigen Bar. Ruhetag. Der Ort ist leer, bis auf einen alten Mann, der mit seinem Hund spazieren geht. Er nimmt uns die letzte Hoffnung auf den ersten erfrischenden Schluck. Am Ortsausgang, in der Tankstelle, ruft er uns nach; doch die Tankstelle ist auch geschlossen.
Allmählich finde ich meinen Rhythmus, eine Routine, die mein Gehen strukturiert und mir einen Rahmen gibt. Selbstverständlichkeiten nehmen zu. Mehr als zwanzig Kilometer täglich reichen mir, damit noch Zeit für anderes bleibt. Ich vermeide mehr zu gehen, und beschließe, die jüngeren Wanderer nicht länger zu bewundern. Sie gehen schneller und mehr Kilometer. Ich habe alle Zeit der Welt, und muss meine Fußreise nicht in einem Terminkalender unterbringen. Wer jünger ist als ich, benötigt eine andere Herausforderung, muss sich erproben, will sich bewähren, muss in den Ring steigen und den Konkurrenten herausfordern. Ich kenne das. So lange ist das noch nicht her. Vielleicht wäre es schön, schon in Salamanca zu sein, wie ein Freund vermutet. Doch dann wäre ich einer der Roadrunner, dem Wesentliches entgeht. Sollen es andere eilig haben. Ich fühle mich in der Rolle des Flaneurs oder Spaziergängers. Zwanzig Kilometer am Tag sind genug. Unterwegs sehe und erlebe ich viel, trödele, bleibe stehen, schaue mich um, und es bleibt immer genug Zeit für alles Mögliche in den Herbergen und den Orten. Ich will ein Fußreisender sein, der nichts anderes im Sinn hat, als leiblich in der Landschaft unterzutauchen. Vorübergehen und schauen, Atmosphären einzusammeln. Dem Klima bin ich schutzlos ausgeliefert. Ich will nicht idealisieren: auch das gehört zu den Besonderheiten einer Fußreise. Das Wetter ist kompromisslos. Es fragt nicht nach menschlichen Bedürfnissen. Manchmal glaube ich, dass sich Elementargeister einmischen, mir zu ihrem Vergnügen Herausforderungen anbieten, die ich nicht zurückweisen kann. Meistens sind sie mir wohlgesinnt, manchmal tückisch und schadenfroh. Am besten komme ich mit ihnen zurecht, wenn ich ihnen keine Aufmerksamkeit schenke. Zumindest bin ich dann mental vor ihnen sicher. Nirgendwo Berlin habe ich diesen unmittelbaren Kontakt mit Sonne, Wind und Regen, ihrem vielfältigem Zusammenspiel, eine Reinheit, die es im Asphalt der Städte nicht gibt. Wenn es mir auch nicht sofort gefällt, die Wetterkapriolen sind ein Erlebnis für sich. Stundenlang in Regen und Matsch unterwegs, auf schattenlosen Pfaden und unter heißer Sonne, ist eine gute Übung in gelassenem Hinnehmen. Das Glück, aus blendender Helle in das umhüllende Grün der Wälder einzutreten, wo Lichtflecken, die die Sonne durch die Blätter zaubert, silbrig auf den Wegen tanzen. Die Zuverlässigkeit des Kuckucks im Frühjahr, der täglich den Frühling verspricht. Das alles gibt es überall auf der Welt, es beginnt gleich vor der eigenen Haustür. Ich gehe weiter und weiter durch die Landschaft. Nur einen Moment bleibt meine schnell schwindende Spur sichtbar, dann verweht sie Wind oder Regen, der noch fallen wird. Mit gefällt es immer besser, täglich im Freien herumzustreifen, frei zu sein; keine Verpflichtungen und keine Verantwortung. Nur mir selbst gesetzte Aufgaben und Ziele. Wer glaubt, das stehe mir nicht zu, der irrt. Sich selbst erkennen, zu erfahren, wer man ist, kann man nur außerhalb seiner Lebenswelt und den festgefahrenen Rollen und Erwartungen der anderen. Ob ich am Ende mehr über mich erfahren habe, was spielt das schon für eine Rolle. Ich weiß nicht, ob ich etwas suche. Ich weiß es nicht. Ich habe manches über die Erkenntnissuche von Pilgern gelesen; geflügelte Worte, die in meinen Ohren nachklingen. Glauben kann ich diesen ideologischen Überbau nicht. Caminolatein, wie ich den pilgertypischen Small Talk gerne nenne. Ich nehme mir aus all dem Gerede, was zu mir passt. Als Fußgänger will ich mich Schritt für Schritt wieder auf die Füße stellen. Nur weil es mir gefällt. Wenn alles möglich ist, ist irgendwann nichts mehr notwendig.
Der Feldweg aus Casas de Don Antonio nach Aldeo del Cano löst sich immer mehr in einer nassen Wiese auf. Plötzlich gibt es keinen sichtbaren Weg mehr, und ich suche mir meinen Weg durch das Regenwasser der letzten Tage, das große Lachen auf der Wiese bildet, die unter meinen Schritten schmatzt. In der Flussniederung des Río Ayuela reicht das Grundwasser an die Oberfläche. Obwohl fast unsichtbar, gibt es keinen Zweifel über die Richtung, in die ich gehen muss. Meilensteine der Römer, die sogenannten Miliarios, die hier vor fast zweitausend Jahren aufgestellt wurden, weisen mir den Weg. Die ehemaligen Wegmarken der Römer liegen willkürlich über die weglose, nasse Wiese verstreut. Manche von ihnen stehen aufrecht wie grimmige Legionäre, die dem Zahn der Zeit trotzen, obwohl der schon reichlich an ihnen genagt hat. Ein paar hat ein barmherziger Restaurator museal hergerichtet, besonders den mit einer Nische für die Ablage von Postsendungen, den Miliario Correo, in den Briefsendungen für das abgelegene Hofgut Santiago de Benacaliz deponiert werden. Ursprünglich standen diese mannshohen Steinsäulen im Abstand von 1480 Metern auseinander; eine römische Meile. In der Extremadura, zwischen Mérida und Cáceres, flankieren diese Miliarios den Verlauf der Vía de la Plata. Sie sorgen dafür, dass ich nicht vergesse, dass ich auf der antiken Calzada Romana unterwegs bin. Irgendwo auf der weglosen Wiese wird es mir zu nass. Aldea del Cano taucht am Horizont auf. Ein schmaler Streifen Kultur begrenzt die Weite der Landschaft. Nicht entfernt rauscht der Verkehr über die N 630. Unwillkürlich geistern mir Bilder von Meeresstrand und kühler Brise durch den Sinn. Eine römische Brücke, der gemauerte Bogen der Puente de Santiago, liegt verlassen im Gras, als ob der Weg sie aus den Augen verloren hat. Einsam erinnert das Relikt an den lange vergangenen Weg. Eine surreale Struktur in den Edgelands, weglos, die zu nichts mehr hinführt. Spontan, ohne nachzudenken, biege ich in Richtung N 630 ab, verführt von der Hoffnung schneller voranzukommen, in den Schatten. Doch der Asphalt ist von der Sonne aufgeladen und die Nationalstraße ein Kachelofen, der gnadenlos die gespeicherte Hitze reflektiert. Vom Asphalt steigt flimmernde Hitze auf, presst mir den letzten Schweiß aus der Haut. Während ich mich das lange graue Band entlangschleppe, träume ich vom nassen Gras der Calzada Romana.
Die ereignisreiche Geschichte Spaniens ist auf dieser Fußreise allgegenwärtig. Niemand muss bewusst danach suchen. Sie umgibt den Wanderer wie das Klima, liegt in der Luft, eine historische Atmosphäe, nie weit entfernt. Die Landschaft ist kultiviert, und wirkt doch oft natürlich. Manchmal findet man eingestreut den Hauch vermeintlicher Wildnis, den Anschein, fern der Zivilisation zu wandern. Doch die Natur ist bis auf wenige Residuen gezähmt, verschönert, zugänglich, verwertbar gemacht. Es sind die Edgelands, die Ränder von Städten oder schwer kultivierbare Landstriche, verwilderte Parzellen, die die Natur zurückerobert hat: Brachland, übriggebliebene Waldgebiete, tiefe, felsige Schluchten, durch die kalte Bäche einen Weg gebahnt haben, die steilen Gipfel der Mittelgebirge mit zugewachsenen Hängen, einsame Steilküsten, nur zu Fuß zu erreichen. Wer echte Wildnis sucht, Gegenden ohne die Spur menschlicher Aktivität  ist, in Spanien falsch. Die Gipfel des Naturparks Picos de Europa, der eine oder andere Winkel der Pyrenäen, bilden vielleicht noch eine Ausnahme. Die Landschaft der Vía de la Plata bildet einen riesigen Park, der gelegentlich Felder akzeptiert. Monokultur: Wein, Oliven, Korkeichen. Die Viehweiden, die den Charakter der Landschaft prägen, sind malerisch, und jede Kritik verstummt. Die Orte entlang der Vía, die Dörfer und Städtchen, die großen Städte Sevilla, Mérida, Cáceres, Salamanca, Zamora oder Ourense, historisch bedeutend seit der Epoche der Römer vor zweitausend Jahren; kulturelle Hinterlassenschaften der Neandertaler, die Eiszeitkunst des Magdaléniens, der Westgoten und der Mauren. Das Gefühl, auf den alten Wegen zu wandern, ausgetretene, zugewachsene Pfade, die unregelmäßigen Steine einer jahrhundertealten Brücke unter den Füßen, ein Bogen über einen schmalen Fluss, der auch schon mehr Wasser führte. Die Vorstellung, wer auf den Pflastersteinen gegangen ist, die wie lose im Kiefer verankerte Zähne aus dem Boden ragen. Es fällt leicht, Bilder zu assoziieren, von Ochsen, die einen hoch beladenen Wagen polternd über das Pflaster ziehen, während die Peitsche des Kutschers über ihren Köpfen sirrt. Kinder, die barfuß ihren mit Körben beladenen Eltern hinterhereilen. Gerüstete Wachen an einer Zollstation. Erbaut von Römern, von Mauren genutzt, und im Mittelalter restauriert. Jahrhunderte unverändert im Dienst des Transfers von Waren, Heeren und Pilgern.
Die historischen Altstädte mit ihren engen Gassen, verschmelzen in einer römisch-arabischen, architektonischen Melange, ungeachtet der inzwischen eingestreuten Modernität. Tempel, Theater, Arenen, Paläste, Festungen, Stadtmauern, Aquädukte, Brunnen und die Fragmente des antiken Straßenpflasters, auf das der Wanderer überall trifft. Die mobile Kleinkunst in den Museen, ein an die Ewigkeit der Erinnerung gemahnendes, archäologisches Residuum, das die iberische Halbinsel überzieht. Unbeeindruckt leben Dörfler und Städter inmitten der Vielfalt ihrer Geschichte. Es ist unmöglich in vollem Bewusstsein dieser Bedeutung zu leben, und sich unbedeutend zu fühlen. Ihre Vergangenheit steht ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Alle sind sie anwesend: Arabisches an jeder Ecke, der Stolz und das ausgeprägte Gefühl für Ehre, das Savoir vivre der Römer und der tief wurzelnde Katholizismus seit der Reconquista, der so viele naive Züge tradiert, die mich an meine Jugend in den 1950er Jahren erinnern. Die künstlerische Ausdrucksweise des Marienkults grenzt an Kitsch und Glamour, Glanz und Glorie. Das Gold, der Prunk in den Kirchen, selbst in strukturschwachen Gebieten ist orientalisches Erbe. Gibt es eine Grenze, die den Pilger vom Touristen unterscheidet? Die Vía de la Plata ist ein hybrider Weg, vom Tourismus modernen Pilgertums nicht unberührt geblieben. Nicht wie der Massentourismus des nördlichen Camino Francés. Noch ist die Wirklichkeit eine andere.
Spät abends trifft ein Radpilger in der Herberge von Aldea del Cano ein, sein Fahrrad, ein E-Bike. Ich weiß, jedem sein eigener Camino! Aber ich frage ich mich doch; Welchen Entbehrungen radelt ein elektronisch gerüsteter Pilger auf der Vía entgegen? Die Grenze zwischen Heimat und Fremde, der Übergang der Liminalität, in der die Erfahrungen des Pilgerns erworben werden, sind ohne Grenzübertritte nicht zu haben. Ich bewundere Menschen wie Camille, die in einem Alter, in dem viele das Haus nicht mehr verlassen, den Rucksack schultert und sich unversehens auf den Weg macht. Pilgern findet an Orten des Übergangs statt, für die es keine andere Legitimation gibt als die eigene Sehnsucht. Für die Region ist der Pilgertourismus ein Segen, denn er ermöglicht die Existenz in den Randgebieten der Ökumene, durch die die Jakobswege zum größten Teil führen. Heutzutage ist diese Ambivalenz unauflösbar, und der Pilger muss seinen Weg durch die Verlockungen von Samsara finden, in der Hoffnung, die leidvollen Bindungen loszulassen, die ihn auf diesen Weg geführt haben. Die Menschen, die entlang der Vía leben, profitieren von dem materiellen Zugewinn, den die Wanderer bringen. Ich befürchte, eine weitere Tradition abendländischer Kultur befindet sich in Auflösung. Ich hoffe, die mystische und spirituelle Atmosphäre, die meine Vorgänger noch erlebten, verlässt die Jakobswege nicht ganz. Ohne die Unbequemlichkeiten und Entbehrungen, das Ausgesetztsein einer Fußreise, gibt es keine Askese fördernde Erkenntnis. Antonío, ein junger Pilger aus São Paulo, den ich erst Wochen später in Laza treffe, versucht mich davon zu überzeugen, dass pilgern, ohne zu leiden, keinen Sinn ergibt. Er definiert seine täglich Etappe an seiner Erschöpfung. Will mich das der Camino lehren? Doch sobald ich wieder draußen und allein unterwegs bin, höre ich den Weg unter meinen Füßen raunen, während die Landschaft Schritt für Schritt ihre Magie entfaltet, und mich Glücksgefühle durchfluten. Ich bin kein Katholik mehr. Für mich gehören Pilgern, Leiden und Schuld nicht zusammen.
Die Herberge in Aldeo del Cano befindet sich in einer Parterrewohnung in die eine Außentreppe hinaufführt. Am Treppengeländer trocknet Keidung in der Sonne. Ggegenüber des Restaurante Las Vegas an der Hauptstraße. Ein großer Gemeinschaftsraum mit Kochnische und Waschmaschine, zwei Zimmer mit Etagenbetten und ein Bad. Sie teilt sich das Haus mit einer Bar, verbunden durch eine schmale Veranda. Die N 630 ist nur einen Steinwurf entfernt. Ununterbrochen rauscht der Verkehr durch den Ort. Restaurant und Bar sind durchgehend geöffnet, trotzdem fehlen die Gäste. Eine touristische Herberge, kühl hinter dicken Mauern, gemütlich und familiär eingerichtet, erfrischend an einem heißen Tag. Wir sind zu fünft in dieser Nacht: Nancy aus Australien und Sean aus Neuseeland, ein Paar, das seit Jahren gemeinsam wandert, weit jenseits der Sechzig. Ihr letztes Projekt war eine Wanderung rund um Australien. Sie tragen ungewöhnliche Trekkingschuhe, Barfußschuhe mit einzelnen Taschen für die Zehen. Louise befragt sie ausführlich über ihre ungewöhnlichen Schuhe und sie erzählen Erstaunliches: 17 000 Kilometer haben sie mit diesen Schuhen Australien umrundet, alle tausend Kilometer ein neues Paar Schuhe. Jetzt wandern sie durch Europa und die Vía de la Plata ist eine Etappe ihrer Fußreise. Auch Louise lebt in Australien. Ich kenne sie aus Alcuéscar, wo sie spät nachmittags im Kloster eintraf. Sie wollte bis nach Cáceres, doch es zu heiß für eine lange Wanderung.
Morgen ereiche ich Cáceres, wo ich das Wochenende verbringe, in einer Stadt, interessant wie Mérida. Auch in Cáceres haben alle ihre Spuren hinterlassen: die Neandertaler, die Iberer, die Römer, die Goten, die Araber, mit ihrer toleranten Kultur. Nach ihnen kamen die fundamentalistischen Berber, dann die katholischen Santiago-Ritter im Auftrag von Klerus und Krone. Und Francos Faschisten, die dieser alten Stadt einen suspekten Ruf hinterlassen haben. Morgen gehe ich nach Cáceres.

Im Morgennebel sehe ich die große Tafel mit dem gelben Pfeil nicht und verfehle die Calzada Romana, die ein paar hundert Meter entfernt, parallel zur N 630, in die Wiesen abbiegt. Ich finde die Vía nicht wieder, die ich gestern ein paar Kilometer vor Aldea del Cano verlassen habe. Unsicher über den Weg setze ich mich aus Verlegenheit auf eine Bruchsteinmauer neben den Weg für ein zweites Frühstück. Das monotone Rauschen des Verkehrs einer nahegelegenen Autopista stört den Morgengesang der Vögel, und trägt auch nicht dazu bei, mich für einen der abbiegenden Feldwege zu entscheiden. Eine Dose Bier ist von gestern übriggebleiben, die ich nicht nach Cáceres tragen will. In der morgendlichen Kühle trinke ich Bier zu einem Stück Brot und Käse. Louise kommt vorbei, von der ich mich gerade erst verabschiedet habe. Wir überlegen, welchen Weg wir nehmen. Die Richtung, in der wir unterwegs sind, ist uns nicht geheuer. Schließlich einigen wir uns auf die falsche Richtung. Von einer Wiese schauen uns ungläubig Schafe zu, wie wir uns entschlossen verlaufen. Wir sind schon auf der Brücke über die Autobahn, als uns lautes Rufen aufhält. Der Schäfer hat uns gesehen, verstanden und uns unbeliebte Extrakilometer erspart. Eos, die Sanftfingrige, hat uns in die falsche Richtung gelockt.
Louise lebt in Melbourne, ist aber Tschechin. 1968, als die Russen den Prager Frühling brutal zerschlugen, war sie sechszehn. Ihre Eltern, politisch in der Opposition aktiv, stellten einen Urlaubsantrag und reisten rechtzeitig ins ehemalige Jugoslawien aus, wo sie politisches Asyl beantragten. Mit Hilfe der UNESCO konnten sie nach sieben Monaten Flüchtlingslager nach Australien ausreisen. Sie ist verheiratet, selbständig als Zahnärztin tätig, und wie Seamus von unserem deutschen Sozialsystem begeistert. Sie kann erst aufhören zu arbeiten, wenn sie ihre Altersversorgung angespart hat. Ihre zweiundneunzigjährige Mutter lebt schon lange wieder in der alten Heimat. Louise hat sie in Prag besucht, und nutzt die Gelegenheit in Europa zu sein, für eine vierte Pilgerfahrt. Sie hat schwierige Jahre hinter sich, hat ihren Sohn gepflegt, der mit dreiundvierzig Jahren an einer schweren Krankheit verstorben ist, und dann ihren Mann, der vor einem Monat an der Wirbelsäule operiert wurde. Sie kommt jedes Jahr nach Spanien, sagt, es hilft ihr, für ein paar Wochen Abstand von ihrem Alltag zu gewinnen, an nichts anderes zu denken, nur an den einen Tag, der vor ihr liegt. In dreißig Tagen muss sie in Santiago de Compostela sein. Ich denke an Jules Verne, der seine Protagonisten in seiner Erzählung in achtzig Tagen um die Welt hetzt. Santiago kann sie in der verbleibenden Zeit nur in Gewaltmärschen erreichen. Oder wenn sie Etappen mit Bus fährt. Mittags treffen wir Sean und Nancy in Valdesalor, in einer Bar mit schattiger Terrasse auf der Gasse. Ein kommunikativer Tag. So viel wie mit Louise habe ich während des Wanderns lange nicht mehr geredet. Wir haben uns ununterbrochen unterhalten. An Valdesalor erinnere ich mich nicht mehr, eine uninteressante, moderne Stadt, glaube ich. Der Weg und die Landschaft sind an mir vorbeigeflogen; ein aufgegebener Flugplatz war dabei. Noch mehr Edgeland, ein großer wilder Platz an der Türschwelle von Cáceres. Grasland, verfallene Gebäude, Graffities und ein weiter Blick. Der Pfad, auf dem wir ankommen, ist nur der Hauch einer Spur. Mehr Erinnerungen sind es nicht, dafür habe ich viel über Australien erfahren, über Louise, ihre Familie, ihre Geschichte. Die verbleibenden elf Kilometer nach Cáceres vergehen im Flug.
Ich kenne zwei Weisen des Wanderns: einsam oder sozial in der Gruppe, kontemplativ oder kommunikativ. Wenn ich allein unterwegs bin, erlebe ich die Natur unmittelbar und intensiv, ihren Geruch, ihre Geräusche, ihre Gestalt, Pflanzen und manchmal Tiere, das sich wandelnde Klima, die wechselnde Windstärke und die unterschiedlich wärmende Sonne. Das ist die eine Qualität des Wanderns. Zu zweit oder mehreren steht das Gespräch im Vordergrund: zuhören, fragen und antworten, erzählen. Die Konzentration auf den Menschen verändert mein Gefühl für die Umgebung. Die soziale Qualität des Wanderns ist auf den Jakobswegen international. Wir führen spannende Gespräche über die Zukunft der Welt, ökologisch, sozial, politisch, über die Länder, in die wir gehören und durch die wir gereist sind.
Zweieinhalb Stunden später taucht Cáceres aus der Landschaft auf. Auf den ersten Blick eine spanische Stadt wie Dutzende andere entlang der Jakobswege. Wie so oft in den Städten fehlen auch in Cáceres die gelben Pfeile. Auf den Arkadenbögen und Türmchen einer historischen Fassade nistet eine Kolonie von siebzehn Storchenpaaren, an denen ich mich nicht sattsehen kann. Doch Louise drängt weiterzugehen. Es ist spät am Nachmittag und wir haben noch kein Quartier. Allmählich verläuft die belebte Straße, in die sich die Vía verwandelt hat, aufwärts, eine mittelalterliche Stadtmauer kommt in Sicht, an der vorbei ein Fußweg in die Altstadt führt. Irgendwo dort muss das Hotel liegen, dass wir uns ausgesucht haben, denn eine Pilgerherberge gibt es nicht. Wir geraten in ein Gewirr aus Gassen, in denen wir die Orientierung verlieren. Ein junger Mann, den wir nach dem Weg fragen, zückt sein Smartphone, und leitet uns durch die verwinkelten Gassen zur touristische Albergue las Veletas, in der Nähe der Plaza Mayor. Ein mürrischer alter Mann, den Louise den Grunge nennt, macht es unnötig kompliziert. Wir bekommen das letzte Doppelzimmer und werfen uns erschöpft auf die Betten. Nachmittags schlendere ich durch die Gassen der Stadt. Unter der Markise einer Bar auf der Plaza Mayor, die an das Barrio Monumental grenzt, die historische Altstad, treffe ich sie alle wieder: Louise, Oskar, Seamus und Rainer vom Bodensee, der mit der großen Kamera, der vom Pacific Crest Trail schwärmt, obwohl er weiß, dass ihm dazu die Kondition fehlt. Die Vía de la Plata, sagt er, wird sein Testlauf, was ich nicht glaube, denn was ich über den PCT gelesen habe, dagegen ist die Vía ein Spaziergang. Gegenüber erhebt sich der trutzige Torre de Bujaco, einer von drei erhaltenen mittelalterlichen Türmen der Stadtmauer. Eine beeindruckende Szenerie für ein geselliges Beisammensein und einem verfrühten Drink.
Seit Jahrhunderten ist die Plaza Mayor das Zentrum des sozialen und kommerziellen Lebens der Stadt; einst ausgedehnter Raum für Messen und Jahrmärkte außerhalb der Stadtmauer. Die Ostseite des Platzes bildet eine Front historischer Bauten, deren Geschichte bis ins mittelalterliche Cáceres reicht: der Bujaco-Turm, die Ermita de la Paz, die Eremitage des Friedens oder der Arco de la Estrella, der Sternenbogen, das Haupttor in die Ciudad Monumental Cáceres. An der Südseite das Rathaus aus dem 19. Jahrhundert. Die Plaza Mayor ist teilweise von Arkaden gesäumt, die die Passanten vor Sonne und Regen schützen, abgesenkte Bögen, die von robusten Steinsäulen getragen werden. Die darunter liegenden Gebäude, vielfach Bars und Restaurants, mit in die Plaza ausgreifenden Terrassen, stammen aus unterschiedlichen Zeiten. Im 16. Jahrhundert entstanden, fanden unter den Säulengängen die vielen Handwerke der Stadt ihren Platz. Unter ihnen die Gilden des Portal del Pan, des Portal de los Plateros, des Portal de los Escribanos, des Portal de los Apicarios und das Portal de los Relojeros.
Wie Mérida gehört die historische Altstadt von Cáceres seit 1986 zum UNESCO-Weltkulturerbe, vorbildlich und sensibel restauriert. Einzigartig und unvergleichbar sind sie: das römisch geprägte Mérida und das mittelalterliche Cáceres. Zwei Städte der Extremadura an der Vía de la Plata mit einer historischen Vielfalt, die schwer auszulassen ist. Die Stadt, inmitten ausgedehnter Dehesas und beweideter Eichenhaine, geht vielleicht auf die zweieinhalb Kilometer nordöstlich gelegene, ehemalige römische Festung Castra Caecilia zurück, Jahrzehnte vor der Zeitenwende von Caecilius Kiloe Metellus Pius angelegt. Eine antike Hügelfestung, strategisch und militärisch optimal gelegen, die weithin die Extremadura beherrscht. Ein konkurrierender Anwärter auf den Ursprung des modernen Cáceres ist auch die vierundvierzig Jahre später vom römischen Prokonsul Gaius Norbanus Flaccus als Colonia Norba Caesarina gegründete Stadt, in einer der fünf wichtigsten Provinzen Lusitaniens gelegen. Doch die Geschichte dieses Siedlungsplatzes reicht tief ins Dunkel der Vergangenheit. Das mittelalterliche Cáceres erlebte wechselnde Herrscher. Unter den Westgoten verfiel die Stadt, die Mauren bauten sie als Hizn Quazris neu auf. Während der Reconquista fiel Cáceres immer wieder an das Königreich Léon, wurde von einen portugiesischen Abenteurer, Geraldo dem Furchtlosen, erobert, an den Santiago-Orden gegeben, um dann endgültig an Léon zu fallen. Eine Anekdote berichtet, dass Isabella I. von Kastilien, die meisten der stolzen Türme der Stadt schleifen ließ, weil die Stadt sie nicht in einem Thronfolgestreit unterstützte. Bis heute trägt Cáceres deshalb den Beinamen Enthauptete Hauptstadt. Im Spanischen Bürgerkrieg unterstützten die Streitkräfte von Cáceres im Juli 1936 Francos Militärputsch. Die auf Francos Seite kämpfende Legión Española, die spanische Fremdenlegion, errichtete ihr Hauptquartiert in die Stadt.

Gegenüber der Bar führt eine breite Treppe hinauf durch den Arco de la Estrella, das Sternentor am Torre de Bujaco, in die historische Altstadt. Die interessantesten historischen Gebäude von Cáceres befinden sich jenseits der Plaza Major, innerhalb der Rundbögen der ehemaligen maurischen Stadtmauer mit ihren fünf Toren, die ockerfarben in der Sonne leuchten. Lediglich die römische Stadtmauer des galicischen Lugo hat mich mehr beeindruckt. Der Platz hat sich mittlerweile mit Besuchern gefüllt, die ununterbrochen die Treppe hinauf in die Altstadt streben. Ob jemand von ihnen an die vierzig Ritter denkt, die der Legende zufolge von Mauren auf dem Platz geköpft wurden? Eine Hinrichtung, wie sie neuerdings der islamische Fundamentalismus von al-Qaida und islamischem Staat wieder eingeführt hat. Niemand will mit mir in Altstadt. Ich zögere noch, denn durch das Sternentor strömt ununterbrochen ein Strom von Besuchern ins Innere der Monumentalität des Parte Antigua, wie sie die Altstadt im Fremdenverkehrsbüro am Fuß der Treppe nennen. Zahlreiche Gebäude aus unterschiedlichen historischen Epochen säumen die engen Gassen innerhalb der Mauer. Kreuz und quer geht es an Palästen, Türmen und Kirchen vorbei. Alle zu betreten, die architektonischen, sakralen und mundanen Besonderheiten zu bewundern, dazu reichen mein Budget und meine Zeit nicht aus. Ohne Eintritt kein Sightseeing. Gemessen an den Besuchern fließen viele Euros Tag für Tag ins Stadtsäckel. Ich begnüge mich mit einem entspannten Spaziergang auf gepflegtem Kopfsteinpflaster, entlang hoch aufragender Gebäude, die der Sonne nur einen schmalen Streifen lassen, durch den sie auf das Pflaster trifft. In den schmalen Gassen fühle ich mich auf dem Grund einer Schlucht; so eng, dass ich mit ausgestreckten Armen fast die Mauern berühren kann. Unten ist es dämmrig, und erst wenn ich aufschaue, leuchten die ockergelben Mauern weiter oben in der Sonne. Die Kanten, Winkel und Ecken der Mauern zaubern ein Spiel von Licht und Schatten an die Wände und unter meine Schritte. Trotz der vielen Menschen um mich herum, spüre ich das Gewicht der Zeit auf mir lasten, eine subtil unter die Haut gehende Atmosphäre, die Mittelalterklischees zaubert wie aus zahlreichen Filmen des Genres zu bekannt, von denen manche in diesen Gassen gedreht wurden. Ich muss nur Augen und Ohren schließen, und die Szenen und Bilder dieser Film laufen vor meinem inneren Auge ab. Szenarien, fremd und exotisch, in lebhaften Farben, ein Gemenge von Orient und Okzident, eine Melange von Wirklichkeit und Fantasie. Fragmente einer multi-kulturellen Geschichte.
Der Arco del Cristo, das östliche Tor der antiken Stadtmauer von Cáceres, führt in den ältesten Teil der Stadt. Er besteht aus großen römischen Quadern sowie aus zwei großen Halbkreisbögen auf beiden Seiten der Mauer. Wahrscheinlich verband ein Weg, der durch dieses Tor in die Stadt führte, die Colonia Norba Caesarina mit der Vía de la Plata aus Augusta Emerita, dem modernen Mérida. Die römischen Quader im Arco del Cristo zeigen die cardō, die Distel im Straßenkreuz einer römischen Siedlung. Dieser eigenartige Begriff, der auf den ersten Blick an eine Pflanze denken lässt, stammt aus der römischen Stadtplanung. Er bezeichnet die nordsüdlich ausgerichtete Straße als Achse der großen, zentralen Kreuzung eines Militärlagers, die möglicherweise dem Verlauf der Vía de la Plata entsprach. Das Wort hat seinen Ursprung in der Linie, die die römischen Auguren, Priester oder Wahrsager, von Nord nach Süd zogen, um Zeichen zu deuten, und den Willen der Götter zu entziffern, sich deren Schirmherrschaft bei der Gründung einer Siedlung zu versichern. Von hier aus ist es zu den geographischen Kardinalpunkten des Kompass nicht sehr weit. Doch das nur nebenbei, denn die sonderbare Distel ist nur eins der vielen Details, die dem Flaneur, nimmt er sich Zeit, auf seinem Bummel durch die Geschichte der Stadt ins Auge fallen. Das moderne Quartier San Antonio de la Quebrada beherbergte einst das alte jüdische Viertel innerhalb der maurischen Stadtmauer. Mittlerweile sind die Gassen zu Gässchen geworden, eng und abfallend, Sackgassen, gesäumt von kleinen Häusern mit einem oder zwei Stockwerken. Die meisten von ihnen sind weiß getüncht, mit blühenden Pflanzen geschmückt. Mitten im labyrinthischen jüdischen Viertels steht die Ermita de San Antonio auf den Fundamenten der alten Synagoge. Ein Stein gewordenes Zeugnis katholischer Intoleranz, denen das Judentum, anders als der mittelalterlichen maurischen Kultur, schon immer ein Dorn im Auge war. Am höchsten Punkt der Altstadt, im Palacio de las Veletas, hat eine in den Fels gehauene Aljibe der Berber-Dynastie der Almoraviden, der größte Zisternenbau der Welt, die Jahrhunderte überdauert. Einige Säulen der Zisterne, inzwischen Teil des Museums von Cáceres, verraten römischen Ursprung. Obwohl die Mauren exzellente Baumeister waren, nutzten sie vielerorts die Ruinen der römischen Architektur. Einst ein wichtiger Ort der maurischen Alcázaba, ermöglichte dieser Wasserspeicher, mit seinen fünf Schiffen aus Hufeisenbögen und belüfteten Gewölbedecken, unbegrenzten Zugang zum lebensnotwendigen Wasser. Siebenhundert Kubikmeter Trinkwasser, ein Reservoir, mit dem die Bewohner manche Belagerung überstehen konnten. Ein spektakuläres Erbe einer glorreichen Vergangenheit: eine maurische Zisterne in einem Palast der Renaissance.
In Mérida nisten die Störche auf den Fragmenten eines römischen Aquädukts, Cáceres besitzt einen Palacio de las Cigüeñas, einen Palast der Störche. Er war das Wohnhaus des Diego de Ovando, Vasall und Mitglied des Rats, der von Isabel I. de Catolíca das Recht erhielt, seinem Haus einen hohen Turm mit Zinnen hinzuzufügen, den einzigen nicht überdachten Turm im Barrio Monumental. Storchenpalast heißt er allerdings nur im Volksmund. Die Pfade der Störche und anderer Zugvögel, aber auch die Wechsel der Waldtiere, gehören zu den ältesten Wegen überhaupt, unsichtbar an den Himmel gezeichnet und von magnetischen Feldern strukturiert. Der Flug der Zugvögel ist ein faszinierendes Phänomen, das erst annährend verstanden ist. Wenn die Zugunruhe einsetzt, fliegt der Vogel, wohin es ihn zieht. Die Theorien, warum er das tut, bewegen sich zwischen genetischen und ökologischen Ursachen, doch anscheinend ist sie weitgehend genetisch bedingt. Sie lässt sich an der motorischen Aktivität unmittelbar vor Beginn des Zugs ablesen. Woher die Zugvögel von ihrer Flugrichtung und Flugdauer wissen und ihr Ziel finden, liegt an einem besonderen Sinn. Störche besitzen einen ausgeprägten Orientierungssinn, der mit einem Magnetsinn korrespondiert, einen inneren Kompass mit Magnetfeld-Rezeptoren. Wolfgang Wiltschko, ein deutscher Zoologe und Verhaltensforscher, speziell in der Ornithologie, erforscht den Magnetsinn der Vögel, der noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen ist. Experimentelle Befunde weisen auf Auge und Schnabel der Zugvögel als Sitz hin. Durch die Forschungsergebnisse von Wolfgang und Roswitha Wiltschko weiß man, dass sich Zugvögel an der Inklination, dem Neigungswinkel der Feldlinien des Erdmagnetfelds orientieren, und polwärts oder äquatorwärts unterscheiden. Zusätzlich scheint der Orientierungssinn von Zugvögeln lichtabhängig zu sein. Magnetsinn und visuelle Wahrnehmung ergänzen sich. Verantwortlich dafür sind Proteine der Netzhaut, sogenannte Cryptochrome, die es ermöglichen, Hell-Dunkel-Strukturen zu sehen, magnetische Felder auf der Erdoberfläche, die auf der Landschaft liegen, und für das Zusammenspiel von Magnetsinn und visueller Wahrnehmung sorgen. Wer das weiß, dem fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich auch der Mensch seit jeher auf diesen Feldlinien bewegt hat. Niemand weiß, ob unsere Vorfahren diese Linien wahrnehmen konnten oder die Wege von den Tieren abgeschaut haben. Ein faszinierender Gedanke, setzt man eine Wahrnehmung früher Hominiden voraus, die sich eher am Spüren als am Denken orientiert hat. Wie dem auch sei, den Zugvögeln dienen auch Landmarken zur Orientierung. Der Verlauf von Autobahnen und die nächtliche Beleuchtung der Innenstädte, Lichtverschmutzung, Lasershows oder Großveranstaltungen beeinflussen den Flug der Zugvögel. Heutzutage verkürzen Weißstörche ihre Reiseroute und bleiben auch im Winter auf der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika, wo sie in den menschlichen Ansiedlungen ausreichend Nahrung finden. Mittlerweile bleiben sie auch im Winter in Deutschland oder in der Schweiz. Die von der Klimakrise verursachte globale Erwärmung, dazu die plattentektonische Umlenkung des warmen Golfstroms und des kalten Humboldtstroms sowie das damit zusammenhängende Nahrungsangebot sind weitere Gründe dafür, dass die Störche im Lande bleiben. Auf Dauer wird es das afrikanisch-eurasische Zugsystem vielleicht nicht mehr geben.

Morgens um sieben Uhr warte ich an der unbesetzten Rezeption der Albergue Las Veletas, um für eine weitere Nacht einzuchecken. Rad- und Fußpilger brechen nach und nach auf, doch die Rezeption bleibt verlassen. Irgendwann kommt der mürrische Alte und vertreibt mich, heftig schimpfend. Ich muss das Hotel verlassen, einchecken kann ich erst um zwölf Uhr. Mein Gepäck lasse ich im Flur und gehe ohne Jacke hinaus in den kalten Wind eines wolkenverhangenen Tages. Die historische Altstadt umgibt eine schmale Zone von Restaurants für jeden Geschmack und jede Brieftasche, die in das alltägliche Cáceres übergeht. Das moderne Cáceres wirkt nach dem altem Gemäuer, mit den ehrwürdigen Portalen und hohen, fensterlosen Hausmauern, ernüchternd. Nur die Menschenmassen, die durch die Straßen strömen, gleichen sich; die Touristen vor einer historischen Kulisse, die in jedem Mittelalterfilm passt, die einheimischen Spanier auf breiten Boulevards zwischen Geschäften, Bürohochhäusern, Bars und Restaurants. Das archaische Barrio Monumental umgibt ein glamouröses Zentrum: zwei Welten, deren Grenzen sich übergangslos überschneiden. Stundenlang schlendere ich durch das moderne Cáceres, über Boulevards, deren Fahrbahnen Grünanlagen teilen, durch verkehrsreiche Straßen, in denen sich Passanten drängeln und schmale Nebenstraßen, in denen es plötzlich gemächlicher zugeht. Männer sitzen in den Bars, Frauen kommen vorüber, mit ihren Einkäufen und Kindern an der Hand. Eilige Männer und Frauen, die ihren Aktivitäten nachgehen, luxuriöse Geschäfte und Läden mit Artikeln des täglich Bedarfs. Eine typisch europäische Innenstadt, die allmählich in Straßenzüge mit mehrstöckigen Wohnblocks übergeht. Der Kontrast zum aufwändig gepflegten Barrio Monomental, wo, wie in Itálica, eine Episode von Game of Thrones gedreht wurde, ist viel zu offensichtlich. Aber es ist ein anderes Vergnügen durch belebte spanische Städte zu wandern, in denen Menschen kaum etwas anderes tun, als alltäglichen Aktivitäten nachzugehen. Städte bieten dem Flaneur ein Milieu für die kleinen Beobachtungen, die offensichtlichen Dinge, die nie jemand wahrnimmt.
Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Themen für Reflexion und Erzählung.
Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Der Flaneur hat sich mit dem Wandel seiner Umgebung, urban und sozial, verändert. Den Flaneur des 20. Jahrhunderts porträtiert Walter Benjamin als Fokus sozialer Ereignisse, der versucht, in der Anonymität der Straße aufzugehen, um ungestört und unbemerkt das soziale Geschehen zu beobachten. Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, schreibt er in Berliner Kindheit um 1900, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Straßennamen sprechen zu dem Wanderer wie das Knacken trockener Zweige und die Tageszeiten sind für ihn so klar wie ein Bergtal. Flaneur und Wanderer, Stadt und Land, Natur und Kultur. Die Motivation des Flaneurs spiegelt den Wanderer, der die Natur durchstreift, weil sie in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Wie Benjamins Flaneur will er in der Umgebung, den Landschaften, durch die er streift, aufgehen, sich verirren, um die Dinge zu finden, die nicht offensichtlich sind. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate mehr denn je unterscheiden, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten, wie dem flanierenden Fußgänger. Der Gegensatz von Stadt und Land! Die vielen Möglichkeiten von Arbeit, Begegnung, Konsum und Kultur locken die Landbevölkerung erneut aus der freien Weite der Landschaft in die Stadt und verführen sie. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land frustrieren und fordern auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit und soziale Geborgenheit in den Dörfern und Weilern auf dem Land. Macht Stadtluft immer noch frei? Oder inzwischen krank, da ihr der frische Atem der Natur fehlt? Der Wanderer-Flaneur Henning Sußebach, der der Großstadt überdrüssig ist, geht in seinem Buch Deutschland ab vom Wege zu Fuß durch das Hinterland. Dabei stellt er fest, dass Stadtmensch und Landmensch sich nicht mehr verstehen, nicht mehr solidarisch sind. Umwelten und Lebenswelten sind zu verschieden geworden. Kaum das der eine noch vom anderen weiß. Als gebe es kein Leben außerhalb der Großstadt, spricht er von der urbanen Herablassung des Städters. Auf seiner Wanderung durch Deutschland, von Nord nach Süd, kommt es ihm vor, als befände [er sich] exakt auf einer Kluft, auf einer historischen Verwerfung, die zwischen Stadt und Land, zwischen Avantgarde und Abgehängten, zwischen Morgen und Gestern zu verlaufen schien, womöglich aber auch zwischen Arroganten und Ignorierten. Rainald Grebe singt in seinem maskierten Liebeslied von diesem modernen Stadt-Land-Dilemma in Brandenburg, wenn er es auch nicht benennt. Stadt und Land sind nicht länger reziprok, sie sind antipodisch. In der Stadt vermutet man die Lebensqualität, auf dem Land die Zurückgebliebenheit. Daneben kulminieren Arbeitslosigkeit und Langeweile auf dem Land, dominieren Konsum und Wohlstand das Leben in der Stadt. Wer heute noch in den entleerten Dörfern und Regionen der Ökumene lebt, das glaubt der Stadtmensch, hat es aus irgendeinem Grund nicht geschafft, von dort fortzukommen. In einer Zeit, in der ein Stadt-Land-Dualismus, nicht länger mehr das Nord-Süd-Gefälle, das Zusammenleben der Menschen bestimmt, fördern die Reflexionen und Erzählungen des Wanderer gegenseitiges Verständnis. Wie dieses Unverständnis für einander, die asymmetrische Sozialisation der Protagonisten in der Stadt oder auf dem Land, das soziale Leben eines brandenburgischen Dorfs eskaliert, das schildert Juli Zeh sarkastisch in ihren Romanen Unterleuten und Über Menschen.
Wer durch eine Stadt wandert, wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühle und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt. In Berlin habe ich meine eigenen Wege, meine eigenen Plätze und Kieze, Etappen, die ich gerne und oft zurücklege. Sie gehören mir allein, denn meine Schritte und Blicke konstruieren diese Umgebung, die subjektiv, aber mitteilbar ist, die sich der Haut der Stadt einschreiben wie ein Tattoo. Sie lässt sich nacherzählen, ist selbst für mich nicht wiederholbar, stimmt nicht mit der eines anderen Wanderers restlos überein. Mein Bedürfnis nach unterschiedlichen Formen der Urbanität, nach städtischen Atmosphären, ändert sich ständig. Jeden Tag den gleichen Weg zu gehen, welch eine schreckliche Vorstellung. Eine Langeweile, die die Mannigfaltigkeit Berlins verhöhnen würde. Berlin ist nie dieselbe. Berlin fühlt sich immer wieder anders an, je nach Temperatur, nach Wetter und Umgebung. Meine Wahrnehmung ändert sich mit meiner Stimmung, mit meinem Bedürfnis zu schlendern, zügig zu gehen oder zu eilen. Ob ich flaniere oder mich beeile, macht bereits den Unterschied. Mein Rhythmus komponiert die städtische Landschaft, die nicht das Geringste mit der anderer zu tun hat. Mein Gehen bestimmt meine Gefühle. In jedem Bezirk liegen andere Atmosphären in der Luft: die Straßen, eng, breit, gerade, gewunden; Bäume oder Autos an ihren Rändern, Kopfsteinpflaster oder Asphalt; die Bebauung aus unterschiedlichen historischen Epochen, mit ihren Kiezen und Parks, menschenleer oder bevölkert, bürgerlich oder multi-kulturell; eine Vielzahl an Geschäften oder Gaststätten, bunte Flecken auf monochromen Hauswänden, unfassbar in ihrer Internationalität. In den Nischen Street Art, einzelne politische, kommerzielle oder absurde Graffiti oder dem Uneingeweihten nicht zu decodierende Tags anonymer Writer, die sich auf ihre eigene Weise in den Körper der Stadt einschreiben.

Am Stadtrand von Cáceres liegt eine Höhle, wie ein Safe gesichert, in einem Kalksteinplateau, in das Regenwasser jahrtausendelang Gänge und Kavernen gegraben hat. Besucher sind nicht zugelassen, da deren Atem irreversible Schäden an den prähistorischen Malereien im Höhleninneren verursacht. Pilze und Algen in der Atemluft überziehen die Bilder mit einer weißen Kalzitschicht. Seit 2019 ist die Höhle in eine Parkanlage eingebettet, ein begrenzter, kontrollierter öffentlicher Bereich, mit einem Informationszentrum, das die Geschichte der Höhle erläutert. Schautafeln, Vitrinen mit ein paar der gefundenen Artefakte, ein Video sowie eine Höhlennachbildung aus Gips vermitteln einen flüchtigen Eindruck. Ob es daran liegt, dass die Höhe soweit außerhalb liegt, so schwer zu finden ist, andere Besucher waren nicht gekommen. Nachdem ich eine Weile umhergeirrt bin, den großen Kreisverkehr, über den der Verkehr die Stadt verlässt, mehrfach umrundet habe, frage ich, und: Gegenüber, sagt mir der Mann, der mit seinem Hund spazieren geht, und weist mit einem Finger auf ein hinter Bäumen verborgenes Grundstück. Ich hätte dort eine Privatklinik, vielleicht eine noble Villa, aber nie im Leben eine Höhle vermutet. Eine Höhle in der Stadt, umgeben von Wohnhäusern und Straßen, eine seltsame Vorstellung.
Die Cueva de Maltravieso befindet sich am Rand von Cáceres, in einem Kalksteinfelsen, aber noch ins Stadtgebiet integriert. Sie ist nicht die einzige Höhle der Region; ganz in der Nähe liegen El Conejar und Santa Ana. Die Höhle von Maltravieso enthält allerdings eine Besonderheit: die einzigen prähistorischen Bildnisse der Extremadura, die frühesten sind über 60 000 Jahre alt, und, stimmt die Datierung, von Neandertalern angebracht. Die Höhle wurde bereits 1951 bei der Gewinnung von Kalkstein entdeckt, als eine Sprengung einen Hohlraum freilegte. Die Arbeiter fanden bronzezeitliche Skelettreste und Keramik, was die Aufmerksamkeit der Archäologen weckte. Die Höhlenmalereien, weit entfernt von den Stätten der franko-kantabrischen Malereien des Homo sapiens, wurden erst Jahre später von Carlos Callejo Serrano entdeckt. 1963 wurde die Höhle dann zum historischen Denkmal erklärt, ohne die Abbauarbeiten zu beenden, die zu schweren Einstürzen führten, und das Höhleninnere schwer beschädigten. Seit 1985 genießt die Höhle juristisch den Schutz eines Orts kulturellen Interesses, und das Interpretationszentrum das Museums von Cáceres wurde eingerichtet.
Das häufigste, und auch spektakulärste Motiv, sind die siebzig Handnegative des Neandertalers des mittleren Paläolithikums sowie die Reihen von Punkten und Dreiecken. Vielen Handabdrücken fehlt der kleine Finger, keine rituelle Verstümmelung, sondern eine Übermalung während der Herstellung. Symbolisches Denken ist also keine Errungenschaft des jungpaläolithischen Homo sapiens, der die Höhle später nutzte, und Darstellungen von Pferd, Steinbock, Hirsch und Rind hinterlassen hat. Die zuerst entdeckte bronzezeitliche Nekropole gehört in die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends. Sie enthält Schädel mit einer Trepanation am linken Parietal, die das Individuum anscheinend überlebt hat, wie die Regeneration des Knochengewebes an den Wundrändern belegt. Solche Höhlen waren nie bewohnt, sondern dienten dem prähistorischen Menschen für seine Rituale. In der älteren Literatur ist viel von Jagdmagie die Rede. Für die berühmten franko-kantabrischen Höhlen Altamira und Lascaux prägte man so respektable Namen wie Kathedralen der Eiszeit oder Sixtinische Kapelle der Frühzeit. Doch was diese frühe Menschen dazu bewegte, Bilder und Symbole auf den Höhlenwänden anzubringen, oft in dunklen, schwer zugänglichen Bereichen, was sie dachten und fühlten, bleibt gelehrter Spekulation vorbehalten. Wirklich wissen können wir es nicht. Ich stelle mir gerne vor, dass die Wände der Höhle eine Leinwand sind, eine dünne Membran, die Grenze nach Irgendwo, auf der die prähistorischen Menschen von ihren Überlieferungen und Überzeugungen erzählten, eine für Botschaften durchlässige Projektionsfläche. The medium ist the message, so der kanadische Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan. Er meinte damit einen Zugang, der von den Sinnen ausgeht. Wahrnehmung, behauptet er, wird überhaupt erst durch mediale Prozesse konstituiert. Es sind nicht so sehr die Inhalte, die wichtig sind. Die Botschaft ist nicht das, was wir gerade sehen. Es sind die Formierungsprozesse, die die eigentliche Botschaft enthalten. In den dunkelsten Winkeln einer Höhle, mit Tranfunzeln nur spärlich beleuchtet, vor einer Wand voller Zeichen, fanden die Übergangrituale des Lebenszyklus statt, in denen Jugendliche in das esoterische Wissen ihrer Gemeinschaft eingeweiht wurden. Eine Initiation, ein liminaler Schwellenzustand, der dem des Pilgerns gar nicht so fremd ist.

Auf dem Rückweg treffe ich Oskar, der auf der Suche nach einer Herberge orientierungslos durch die Stadt läuft. Oskar aus Graz ist bereits über siebzig Jahre alt, ein gutmütiger, vertrauensseliger Mann, den nichts so schnell aus der Ruhe bringt. Ihm haftet die naive Weisheit des Alters an, in seinem Blick leuchtet das Staunen eines Kindes. Immer wirkt er etwas neben der Spur, doch ihn beschützt die Aura des Narren. Langsam und gemächlich spaziert er über die Vía, sorglos und gottvertrauend. Er leidet unter Parkinson, ist kognitiv etwas langsam. Ständig zittern seine Hände, und wenn ich mit ihm zusammen bin, muss ich an meine Mutter denken. Ich bewundere seinen Mut. Oder seinen Leichtsinn? Die Vía de la Plata ist kein Sonntagsnachmittagsspaziergang für ältere Herren, sie hält so manche unvorhersehbare Überraschung und Herausforderung bereit. Das in seinem Alter und seiner physischen Kondition imponiert mir. Ich kenne viele zu Hause, die nur den Kopf schütteln, oder von Leichtsinn schwadronieren. Er sieht das nicht so, er wändert über die Vía, um abzunehmen. Er redet gerne über die Frage seiner Enkel, ob er schwanger sei, und lächelt als er es mir zum zweiten Mal erzählt. Für mich gehört er trotz seines sportlichen Motivs zu den echten Pilgern, weil er sich nicht viele Gedanken an morgen macht, darauf vertraut, dass alles gut ausgeht. Ich erzähle ihm, dass uns eine über dreißig kilometerlange Wanderung bevorsteht, und wir entschließen uns spontan zu einer Busfahrt. Der Fernbus fährt um 13 Uhr, der nächste erst Morgen um 22 Uhr. Es gibt keine Wahl: Es muss heute sein. Ich verabrede mich mit ihm auf der Plaza Mayor, eile zurück zur Herberge und hole meinen Rucksack. Auf dem Rückweg treffe ich Rainer, der schwer beladen in ein luxuriöseres Hotel auf die Plaza Mayor umzieht.
Im Bus ist es kühl und die Sitze sind bequem; pilgern einmal anders. Ich habe einen Fensterplatz und gute Sicht auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Extremadura ist zu einer hügeligen Parklandschaft geworden. Baumgruppen im Weideland. Eine Spur Bedauern, so schnell aufgegeben zu haben. Ein kurzer Aufenthalt am Bushof von Casar de Cáceres, wohin Louise gestern aufbrach. Der Bahnhof ist eine Kuriosität. Einer der Passagiere zeigt auf die geschwungenen runden Formen. Er lacht, und erzählt, dass ihn die Einheimischen patata frita, Kartoffelchip, nennen. Als der Bus die Embalse de Alcántara erreicht, den größten Stausee Europas, tanzen glitzernde Sterne im Sonnenlicht auf dem Wasser. Nachmittags sind wir in Cañaveral, ein Dorf nur, dessen Name Ried oder Zuckerrohrfeld bedeuten könnte. Ich denke an dunkelhäutige Sklaven, mit nackten Oberkörpern, schwitzend in der feuchten Hitze. Cañaveral war im 16. Jahrhundert eine Raststation an der Cañada Real, dem Königlichen Weg, dem die Vía nun immer häufiger folgt. Die Herberge liegt gleich an der Hauptstraße, nur ein paar hundert Meter entfernt vom Bahnhof, die Straße hinauf. Eine Rezeption, eine helle Lobby mit gepolsterten Sitzmöbeln und großen Fenstern. Zeitschriften liegen auf den Tischen. An einer Längswand führen mehrere Türen hinaus. Wir können mit Frühstück für den kommenden Morgen buchen. Die komfortable Hostal-Albergue Cañaveral, zwei Restaurants. Sonst nichts im Ort an diesem Samstagnachmittag. Auf einer Fensterbank sitzt eine getigerte Katze zwischen zwei Blumenkübeln, in denen eine Pflanze rote Blüten treibt. Männer palavern bei Kaffee oder einem Glas Wein auf der Terrasse eines der Restaurants. Die Straße, auf der kaum Autos verkehren, liegt menschenleer in der Nachmittagssonne, eine der Häuserzeilen bereits im Schatten. Ich vertrödele den immer noch kalten Tag im Bett. Meine Mitpilger in dem Zehn-Betten-Schlafsaal gehören zu der Kategorie Gehen-Essen-Schlafen. Sie absolvieren ihre tägliche Ration Kilometer, warten in der Herberge auf den Abend, gehen ins Restaurant zum Menu del Día, kommen zurück in die Herberge, legen sich ins Bett und schlafen. Morgens zwischen fünf und sechs Uhr stehen sie auf, packen im Dunkeln zusammen und wiederholen ihr alltägliches Ritual, während ich erst allmählich wach werde. Männer um die fünfzig, zu denen ich keinen Kontakt finde. Sie sehen mich nicht, und ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll. Sie pilgern nicht in meiner Liga. Mir kommt es vor, wir pilgern auf unterschiedlichen Wegen. Unterwegs begegne ich dem einen oder anderen, sehe sie am Wegrand rasten oder, ohne links und rechts zu schauen, schnell vorübereilen. Auf meinen Spurensuchen durch die Orte, durch die ich komme, oder in denen ich übernachte, habe ich selten einen von ihnen getroffen.

Cañaveral am frühen Morgen. Es ist kalt und der Himmel schwer von dunkelgrauen Wolken. Zwanzig Kilometer bis Riolobos. Nachdem ich eine Weile unterwegs bin, hat es die Sonne durch die Wolken geschafft, die ihr immer wieder die Herrschaft streitig machen. Doch es bleibt trocken, und erst als ich in Riolobos eingecheckt habe, regnet es heftig, sodass am Nachmittag Abend ist.
Ein Tag auf schmalen Pfaden unter Korkeichen. Eine Dehesa folgte der nächsten, ein Gatter öffnen, hindurchgehen, schließen, wandern bis an die nächste Grenze. Einmal versperrt ein eisernes Tor den Weg, dann ein Drahtverhau oder drei Reihen Stacheldraht an windschiefen Ästen; einmal ein Riegel, ein anderes Mal eine Schlinge aus Draht oder Plastik, die sich kaum lösen lässt, ohne dass das ganze Provisorium umkippt. Ein Weg biegt von der Vía ab, steil hinauf ins Dörfchen Grimaldo zur Pilgerherberge. Die Neugier lockt mich, hinauf zu steigen. Es ist noch zu früh, den Tag zu beenden. Bäche kreuzen meinen Weg, dünne, fast versickerte Rinnsale, die mit einem großen Schritt hinter mir liegen, schnell abwärts fließende Gewässer, die um glitschige Trittsteine plätschern. In einem rutsche aus, ein schräger Trittstein, Algen und vom feuchten Gras nasse Sohlen reichen aus. Wie ein Käfer auf dem Rücken liege ich auf dem Bauch im Bach, kurz hilflos, unbeweglich durch Rucksack und Wanderstöcke, während das Wasser hämisch um mich gurgelt. Hautabschürfungen an Schienbeinen und Händen, nasse Hosenbeine und Wasser in den Schuhen. Ein Stück entfernt sitzt Rául, ein Lehrer aus Valencia, mit dem Rücken im Schatten an eine Eiche gelehnt, und reicht mir schmunzelt eine geschälte Orange. Trost für mein gekränktes Selbstbewusstsein. Ein ganzer Tag allein auf der Vía, nur ich und die Natur, der Weg durch sanfte Hügel mäandernd. Extremadura, weites Land. Eingehüllt in lichte, schattige Wälder, in deren grünen Blätter Sonnenstrahlen brechen und helle Flecken auf den Waldboden sprühen. Sonnenbeschienene Hügel, wo mannigfaltig Blumen zwischen niedrigen Sträuchern blühen, grüne Wiesen mit bunten Punkten und unverstelltem Blick über ein sonniges Frühlingsland. Die letzten Kilometer folgt die Vía de la Plata einem breiten Forstweg, der kontinuierlich abwärtsführt, vorbei an eingezäunten Arealen. Zwanzig Kilometer, ein gemütlicher Spaziergang. Zum ersten Mal schmerzen mir weder Füße noch Rückenmuskeln. Ich gewöhne mich an die tägliche Arbeit des Gehens und Tragens. Entspannt, aber ausgehungert, erreiche Riolobos. Camping Las Catalinas, das quadratische Hostel an der Straße, eine Villa mit übereinanderliegenden Galerien um einen Patio. Dahinter dehnt sich ein Campingplatz in die Weite. Es ist Sonntagnachmittag und Siesta. Mein überstürzter Aufbruch in Cáceres ließ mir keine Zeit einzukaufen, in Cañaveral waren die Läden heute Morgen noch geschlossen. Für ein Pilgermenu in der Bar des Campingplatz ist es noch viel zu früh. Ich checke ein, bringe meinen Rucksack nach oben, reserviere ein Bett und wasche mich und meine verschwitzte Kleidung.
Unten in der Bar setze ich mich an den Tresen, esse Chips und trinke leichtes, spanisches Bier. Ich warte vergeblich, ob Oskar oder Louise noch ankommen. In dem zweistöckigen Hostel des Campingplatzes ist ein wortkarger Radwanderer in dieser Nacht mein Bettnachbar. Wir teilen uns das enge Zimmer und haben das Hostel für uns allein. Niemand anderer übernachtet heute in Riolobos. Vielleicht ist Oswald nicht in einen Bach gefallen, nass geworden ist er sicher, denn es regnet noch, als ich mich ins Bett lege. Mein Nachbar im Bett gegenüber schnarcht sich leise im Schlaf.


Weiterlesen: Auf Jakobswegen ans Ende der Welt


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