15 September 2021

Das Museo del Bandolero in Ronda


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puente Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.

17 August 2021

Pilgern - einst und jetzt


Ein peregrinus war im frühen Mittelalter der Fremde, der aus welchen Motiven auch immer unterwegs war. Auch falsche Pilger, Räuber und Betrüger, konnten sich in diese Rolle hüllen, und ihre wahren Absichten verbergen, sodass Pilgerfahrten im Mittelalter weitaus gefährlicher waren, als sie es heute sind. Der mittelalterliche Pilger trug verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitmierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh dem Pilger einen offiziellen Rechtsstatus, den habitus peregrinorum, der ihn schützte und unterwegs unterstützte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben Pilgerhut und -umhang, sind im Jakobusbuch Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert, und machten ihn als Pilger kenntlich. Die Tasche war klein, fasste im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, nur wenig persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der alte Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab als dritter Fuß des Pilgers symbolisierte die göttliche Trinität. Der Pilger ein franziskanischer oder buddhistischer Betelmönch. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im 8. Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben.

30 April 2021

Unterwegs auf der Vía de la Plata


Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar
.
Mario Erdmann

Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und Lebensart und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die sich in einer Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist, und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.

22 April 2021

Pilgern? Weshalb überhaupt?


Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert, schreibt Paul Coelho in der im eigenen, oft als schwülstig empfundenen Sprache. Doch es gibt Ausnahmen wie bei Henry David Thoreau, der nicht im Verdacht steht, einer leeren Spiritualität das Wort zu reden. In seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern fordert auch er seine Leser auf, in Richtung ihrer Träume zu leben. Dann werden sie Erfahrungen machen, verspricht er, die sie sich gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Fußreisen, die sich in postmodernen Zeiten vollständig von der ideologischen Doktrin des Pilgerns gelöst und dafür einen Hauch Subversivität gewonnen haben.