30 September 2018

Das Glück des Gehens: Zweiter Teil


Ich will nicht pilgern! Ich stelle mir eher eine Fußreise vor, unbelastet durch die Aura von Kirche und Konfession. Schon das Wort ist für mich schwierig, da viel zu religiös besetzt. Und erst recht das Ziel einer Pilgerfahrt: Heiligenverehrung, paradoxe Wunder und ein Reliquienkult, der mittelalterlicher Frömmigkeit entsprungen ist. Die offizielle Amtskirche hat das Pilgern instrumentalisiert, zum Schaden der freien, spirituellen Pilgerfahrt. Osho vertritt die Auffassung, dass alle Ziele, Ideale, Ideologien, Religionen und Morallehren Lügen [sind]. Erkennen Sie die Lüge, folgert er, schauen sie tief in die Lüge Ihrer Persönlichkeit; denn wenn sie die Lüge sehen, verschwindet sie. Oshos Rede von den Lügen allzu wörtlich zu nehmen, führt zu einem Missverständnis. Ihm geht es um ein Phänomen, dass Gustav Jung den Schatten genannt hat. Auf einer Fußreise, die den Reisenden zu sich und seiner Welt in Distanz bringt, erkennt man den eigenen Schatten am besten.

Der Gedanke, auf einem Weg zu gehen, den vor mir Hunderttausende aus Nord- und Osteuropa gegangen sind, fasziniert mich. Die Vorstellung in die Spuren von Menschen zu treten, die diesen Weg mit ihrem Leben und ihren Idealen bevölkerten, manch einer von ihnen mit seinem Leben bezahlt hat, lässt mich nicht mehr los. Auf eine spirituelle Perspektive kann ich mich einlassen. Am ehesten buddhistisch! Auf keinen Fall will ich auf diesem Weg mittelalterlicher Pilgerfahrt katholisch sein. Der Pilgerweg nach Wilsnack, entscheide ich mich, muss eine buddhistische Pilgerreise werden. Die Worte eines fernöstlichen Zenmeisters lösen mein Dilemma auf:

»Wohin gehst du?« fragte Titsang.
»Auf eine Pilgerreise,« antwortete Fayen.
»Was ist der Grund deiner Pilgerreise,« wollte Titsang wissen.
»Ich kenne ihn nicht,« antwortete Fayen.
»Ihn nicht zu kennen kommt ihm am nächsten,« sprach Titsang.

05 September 2018

Im Nahraum Brandenburg


Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung
.
Walter Benjamin

Wer durch seine Welt wandert, wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
Brandenburg heißt eine Stadt, aber in Wirklichkeit ist Brandenburg eine Landschaft mit dem Titel Mark. Brandenburg kenne ich erst seit fünf Jahren. Unsere Beziehung war vom ersten Tag an eine leidenschaftliche. Ich wusste damals noch nicht, dass es möglich ist, mit einer Landschaft eine emotionale Beziehung einzugehen. Wer zu Fuß durch geht, tritt mit seiner Umgebung nicht nur in eine physische, sondern auch in eine emotionale Beziehung ein. Er spürt den Boden unter seinen Sohlen, die wechselnde Temperatur, Wind und Regen im Gesicht oder den Schweiß, der früher oder später seinen Körper bedeckt. Eine Fußreise, ob in der Stadt oder auf dem Land, ist eine sinnlich ganzheitliche Erfahrung, eine akustisch bis visuelle Odyssee, selbst ein haptisches Vergnügen, denn der Wanderer kommt nicht umhin, Gegenstände am Weg zu berühren, auch wenn es manches Mal nicht mehr als eine Tasse Kaffee ist. Von den Gerüchen einmal ganz zu schweigen, denn die sind unbeschreiblich. Die Erfahrung des Gehens fordert den ganzen Leib. Dieser spürt sich mit einer Kakophonie angenehmer und unangenehmer Sinneseindrücke konfrontiert, die eine ständige Sinngebung provozieren. Der Wanderer streift nicht nur durch seine Umgebung, sie lagert ihrerseits ihre Sedimente in ihm ab. Plötzlich bemerkt er: Er ist zu einem Teil von ihr geworden. Die eigene Umgebung hat es verdient, gespürt und gekannt zu werden. Der Mensch muss sich dessen bewusst sein, was er seiner Geographie zu verdankt.