Ich will nicht pilgern! Ich stelle mir eher eine Fußreise vor, unbelastet durch die Aura von Kirche und Konfession. Schon das Wort ist für mich schwierig, da viel zu religiös besetzt. Und erst recht das Ziel einer Pilgerfahrt: Heiligenverehrung, paradoxe Wunder und ein Reliquienkult, der mittelalterlicher Frömmigkeit entsprungen ist. Die offizielle Amtskirche hat das Pilgern instrumentalisiert, zum Schaden der freien, spirituellen Pilgerfahrt. Osho vertritt die Auffassung, dass alle Ziele, Ideale, Ideologien, Religionen und Morallehren Lügen [sind]. Erkennen Sie die Lüge, folgert er, schauen sie tief in die Lüge Ihrer Persönlichkeit; denn wenn sie die Lüge sehen, verschwindet sie. Oshos Rede von den Lügen allzu wörtlich zu nehmen, führt zu einem Missverständnis. Ihm geht es um ein Phänomen, dass Gustav Jung den Schatten genannt hat. Auf einer Fußreise, die den Reisenden zu sich und seiner Welt in Distanz bringt, erkennt man den eigenen Schatten am besten.
Der Gedanke, auf einem Weg zu gehen, den vor mir Hunderttausende aus Nord- und Osteuropa gegangen sind, fasziniert mich. Die Vorstellung in die Spuren von Menschen zu treten, die diesen Weg mit ihrem Leben und ihren Idealen bevölkerten, manch einer von ihnen mit seinem Leben bezahlt hat, lässt mich nicht mehr los. Auf eine spirituelle Perspektive kann ich mich einlassen. Am ehesten buddhistisch! Auf keinen Fall will ich auf diesem Weg mittelalterlicher Pilgerfahrt katholisch sein. Der Pilgerweg nach Wilsnack, entscheide ich mich, muss eine buddhistische Pilgerreise werden. Die Worte eines fernöstlichen Zenmeisters lösen mein Dilemma auf:
»Wohin gehst du?« fragte Titsang.
»Auf eine Pilgerreise,« antwortete Fayen.
»Was ist der Grund deiner Pilgerreise,« wollte Titsang wissen.
»Ich kenne ihn nicht,« antwortete Fayen.
»Ihn nicht zu kennen kommt ihm am nächsten,« sprach Titsang.
Titsangs Antwort schenkt mir Beruhigung und Zuflucht. Denn wenn mir etwas unklar ist, dann ist es mein Motiv, plötzlich aufbrechen zu müssen. Ich habe diesen Impuls bisher weder verstanden, noch kann ich mir erklären, woher er gekommen ist. Wilsnack, später Tangermünde, sind nur äußerliche Ziele, das fühle ich ganz deutlich; es können aber auch andere Orte sein, auf die ich jetzt zu gehen muss. Die Psychodynamik, die meine Fußreise anscheinend unvermeidbar macht, liegen in inneren Nebeln verborgen. Immer wenn ich kurz davor bin, Grund zu fassen, verschleiern die trüben Wasser des Unbewussten meinen suchenden Blick. Und neuer Nebel steigt auf.
Der mittelalterliche, brandenburgische Jakobsweg verläuft von Berlin durch die Mark Brandenburg nach Wilsnack, durch die weite Luchlandschaft der Prignitz, die ehemalige Vormark.
Anschließend geht es zwischen Havel und Elbe weiter durch die Altmark, in die Hansestadt
Tangermünde, wo der kleine Fluss Tanger in die Elbe mündet. Dabei streift der Weg zwei
weitere historisch bedeutende Hansestädte: Havelberg und Werben. Doch dieser Weg ist schon eine Verbindung zwischen Wilsnack und dem großen, mitteleuropäischen Jakobswegenetz. Der brandenburgische Jakobsweg dürfte auch nicht so heißen, denn das Wilsnacklaufen, die Pilgerfahrt nach Wilsnack, hat mit Santiago de Compostela thematisch nichts zu tun. Die Pilger kamen nicht nach Wilsnack um einen Apostel zu verehren, sondern drei blutbefleckte Hostien, die noch dazu einen Brand überstanden hatten, eine Blutreliquie, wie solche Gegenstände genannt wurden. Sie wandten sich auch nicht an Jakobus, sondern gleich an dessen Herrn, an einen höheren Vermittler, an Jesus selbst.
1586 schrieb der Havelberger Stiftsdekan Matthaeus Ludecus über seine Heimatstadt Wilsnack:
Eine grosse anzal Völcker aus frembden Nationen / Königreichen und Landen dahin
Walfahrten gangen seind. Heute weiß kaum noch jemand von diesem einst berühmten Ort vor den Toren Berlins und der spannenden Route durch die brandenburgische Landschaft. Die
Fußreise nach Wilsnack nimmt gemächlich eine Woche in Anspruch, nach Tangermünde sind
es weitere drei, vier Tage, eine Reise, die sich aufgrund der zahlreichen Pilgerherbergen auch anders
einteilen lässt. Wer schneller gehen will, kann dies durchaus tun, der Weg heißt jeden
willkommen. Nur verpasst der Roadrunner leicht den nicht unmittelbar augenscheinlichen Reiz
der Rhin- und Havelluche, die Weiten der Altmark oder die erstaunliche mittelalterliche
Kirchenkunst in den vielen kleinen Ortschaften am Weg. Going fast nowhere wurde auf eine
Mauer am Camino de la Costa bei Castro Urdiales gesprüht. Es lohnt die Mühe, die
Langsamkeit wieder zu entdecken Sie beschenkt den Fußgänger mit intensiven, sinnlichen
Eindrücken, mit absichtslosen Gefühlen und Gedanken, die die Achtsamkeit für den Weg und
für die Landschaft fördern.
Es gibt keinen Weg zum Glück, wird Gautama Buddha zitiert. Das Glück ist der Weg! Der
Buddha spricht dabei vom Leben. Zu Fuß zu gehen war nie mein Anliegen, besonders nicht
tagelang. Mit dem Kajak, einem Kanadier oder dem Fahrrad war ich oft unterwegs. Aber
wandern, gar pilgern. Eine auf den ersten Blick kuriose Idee. Unerwartet und plötzlich war sie
da und lockte mich hinaus auf den Weg. Was hat diesen fremden Impuls ausgelöst, der immer
vertrauter wurde? Handelt es sich um den mysteriösen Ruf von Nirgendwo, den unsere Ahnen hören konnten, lange bevor sie Pilger wurden. Eine Schneeflocke, fügt Peter Matthiessen erfrischend hinzu, fällt nie auf die falsche
Stelle. Mein Motiv muss eine dieser Schneeflocken sein. Inzwischen bin ich 64 Jahre alt. Mein
Alter erinnert mich an den Beatles-Song When I`m Sixty-Four, der nur scheinbar unschuldig
und harmlos daherkommt. In Text und Melodie schwingt eine geheime Botschaft mit. George
Martin, der Produzent, hat den Song auf ähnliche Weise verstanden: If you look at the lyrics
you can see that underneath the jokeness they are saying: Isn`t old age awful? Banality, tedium,
nothingness, poverty, routine, schreibt er. Mag sein, dass das auf denjenigen, der es zulässt,
auch zutrifft.
Jahrzehntelang war ich beruflich gezwungen mehrere Stunden am Tag im Sitzen zu verbringen.
Gezwungen nannte ich es erst, als mit bewusst wurde, dass mein Berufsleben endet. Ohne
Verdrängung hätte ich nicht so lange durchgehalten. Ich dachte die ganzen Jahre, im richtigen Leben zu sein. Auf wie viele Mitmenschen und Zeitgenossen trifft Adornos Bemerkung zu: es gibt kein richtiges Leben im falschen. Mittlerweile erscheint mir das als schlechter Scherz. Ich spüre diese zwanzig
Jahre schwer auf meinen Schultern. In all den Jahren habe ich mich beruflich meistens nur mit
Dingen beschäftigt, die mit meinen Träumen nichts zu tun hatten. Für meine Träume blieben
gestohlene Minuten in abgelegenen Räumen. Der Versuch einer Verwirklichung endete in
zahlreichen Fragmenten, die mir geblieben sind. Ich habe mich nur unregelmäßig und viel zu
wenig bewegt, habe mich zu oft in Routinen und Konventionen verloren. Um meine psychische
und physische Kondition war es schlecht bestellt. Wie gut, dass es nur zwanzig Jahre waren. Es gibt Menschen, die sitzen länger im Gefängnis. Ich stelle mir manchmal vor, dass ich den Weg nach
Wilsnack vielleicht doch nicht schaffe. Aber nur nebenbei und in unruhigen Minuten, wenn mir
mein Unternehmen gewagt vorkommt. Die meiste Zeit überwiegen Freude auf Neues und
Neugier auf die Fremde, die unmittelbar vor meiner Haustür liegt. Meine erste Fußreise! Hermann Hesse hat das in
seinem Gedicht Stufen treffend formuliert. Warum also keine Fußreise, ohne Vorbild oder Idol?
Seit Wochen träume ich nicht mehr. Liegt das daran, dass ich wieder mit offenen Augen
träume? Ich höre mir zu, wie ich davon erzähle, mein Drittes Alter bewusst zu beginnen. Nein, nicht nur beginnen: Ich will eine Brücke bauen, hinüber zu Sein und Bewusstsein des Alters.
Ich erzähle immer wieder davon, was ich vorhabe, um dort anzukommen. Ich will mir mein
Alter erobern, will Senior und Ältester sein, befreit von der Mühsal der Existenzsicherung. Ein
Privatier, jemand, der seinen eigenen Interessen nachgeht, der seine Erfahrungen dem erzählt,
der von ihnen hören will. Für andere war ich nun lange genug präsent. Zwanzig Jahre
Sozialarbeit, kaum geschätzt, schlecht bezahlt; viel zu oft mühsam und vergebenes. Es ist ein deutscher Skandal, die Menschen, die sich aufgefordert fühlen, die Wunden zu heilen, die dass kapitalistisch-neoliberale System schlägt, so wenig zu würdigen. Ich habe
gehört, dass Torfbrände bis tief hinab im Boden brennen und das Areal geflutet werden muss,
will man den Brand endgültig löschen. Mein ganzes Arbeitsleben lang war ich Brandlöscher
und Feuerwehrmann. Ich will nie mehr Feuerwehrmann sein, sondern den Rest meiner Glut in der Asche schüren.
Mein Erzählen ist magische Beschwörung, ein Ritual, dass helfen soll, meine Ängste zu bannen,
die zwischen den Worten hocken und mich höhnisch angrinsen. Zu reden, um zu hören, gehört zu werden.
Zwanzig Jahre zum Sitzen verurteilt, breche ich auf, um mich gehend
auszuprobieren. Vielleicht eine Vision, ein traumhafter Blick, hinüber auf eine vermutete
andere Seite. Vor allem anderen bin ich neugierig. Neugierig auf mich selbst und darauf, was
in all den Jahren von mir übrig geblieben ist, das wartet, entdeckt und verwirklicht zu werden.
Vielleicht verschwindet es sonst ungenutzt, wie vieles andere auch. Wo bleibt das
Unverwirklichte im Leben eines Menschen? Wenn ich darüber nachdenke, wächst
vor meinem inneren Auge ein reichhaltiges Potential. Ich will es wenigstens versuchen, und
erwarte nichts! Aufbrechen – Gehen – Ankommen!
Ich werde wandern! Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auf meinen eigenen Füßen gehen, als ob
das etwas Besonderes ist: Kein Kanadier mehr auf Fluss oder See, kein Fahrrad mehr in der
weiten Landschaft und im tiefen Wald. Ein Auto schon gar nicht. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg. Ganz einfach:
immer nur einen Schritt nach dem anderen. Viele Kilometer weit. Von Osten nach Westen,
durch Ort und Land, über Stock und Stein. Wandern ist Symbol meines Aufbruchs und
Leitmotiv meines beginnenden dritten Alters.
Für mein bevorstehendes Übergangsritual habe ich mich für das Gehen entschieden. Schließlich
war ich einst Ethnologe und weiß um die Bedeutung von Passagen in ein anderes Leben, in eine
andere Rolle, in einen neuen Status, in eine lebenswerte Welt. Eine neue Reise! Vielleicht ist dies mein vorletzter
Übergang. Ich bin mir bewusst, dass damit auch die Zeit meines letzten Übergangs langsam
näher rückt. Häufiger erreicht mich inzwischen das Gefühl des Letztmaligen. Herbst! Abschied
liegt in der Luft. Noch einmal ruft mir das Leben zu, meine Kräfte zu mobilisieren, mir ein
buntes Kostüm zu schneidern. Auch wenn es ein Narrengewand werden sollte. Es ist ein gutes
Gefühl, mich nach so langer Zeit wieder auf den Weg zu machen, zu welchem Zweck und Ziel
auch immer.
Weiterlesen: Das Glück des Gehens 3
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