29 September 2022

Felsenwelt Schrammsteine


Wem es gefällt, und wer es dringend bedarf, der Enge und Un-Natur Berlins zu entfliehen, kann sich auf den Weg machen. In die Sächsische Schweiz, die gleich vor den Toren der Stadt liegt. Wer vergessen hat, wie sich Euphorie anfühlt, sich nicht mehr vorstellen kann, dass körperliche Anstrengung Dopamin und Serotonin ins Blut pumpt, braucht nur tief ins Felslabyrinth der Schrammsteine einzutauchen. Er wird sich wundern, wie Mensch sich fühlen kann.

Hinter meinem Wanderquartier führt ein Weg den Hang hinauf in den Wald. Ich bin früh aufgestanden. Als ich morgens aus der Tür trete, liegt die vom Tau noch feuchte Wiese in der warmen Morgensonne. Einige Meter nur, und der Weg auf die Ostrauer Ebenheit biegt steil den Hang hinauf unter die Bäume. Ein verwurzelter, mit Steinen übersäter Pfad bergan. Sehr schnell schweißtreibend, wie auf jeder anderen Wanderung auch. Habe ich mich erst einmal an die nasse Haut und das feuchte Hemd gewöhnt, macht der Schweiß mir nichts mehr aus. Meine Aufmerksamkeit wendet sich der Umgebung zu, ist schnell von der Natur um mich herum absorbiert. Ein großer Felsblock hat sich malerisch in einer steilen Serpentine niedergelassen, die nach ein paar hundert Metern in eine Landstraße mündet. Ein Fahrradweg, von Apfelbäumen gesäumt, verläuft am Straßenrand bis an den Ortsanfang von Ostrau. Nicht weit entfernt sehe ich die Schrammsteine durch morgendliche Dunstschleier, wie durch verregnete Fenster, von denen kondensierte Tropfen abperlen. Etwas abseits von ihnen, die schroffen Klippen des Falkensteins. Das Objekt meiner Begierde, zum Greifen nahe. Meine innere Spannung steigt, lange bevor ich selbst bergwärts wandere. Ich spüre mein Herz vor Aufregung schneller schlagen. Diesem Moment habe ich entgegengefiebert.

11 September 2022

Die schwarze Mühle im Koselbruch


Ich kann nicht, alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während meiner Wanderung auf der Via Regia kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Empfindungen abgelöst. Neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess der Verdrängung und Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und Begegnungen, mir geben, nicht alles, was mir unterwegs, auf Schritt und Tritt, einfällt, zustößt und zufällt, hat Beständigkeit. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens, bleibt erhalten, erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher, es wäre schön, doch es ist nicht realistisch. Abends sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in zwei getrennte Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen euphorischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet, aus dem wie ein Berggipfel im Nebelmeer ein besonders psychisch besetztes Detail herausragt. Die Ernte des Reisens!

09 September 2022

Kamm und Flöte


Eins


Was ist erforderlich, das Fremde angemessen darzustellen?


Es ereignete sich an einem meiner letzten Tage in Soë. Jedenfalls in der letzten Woche. Kurz vor meinem Abflug nach Bali. Eines Morgens steht Sapay unerwartet vor der Tür. Es ist noch früh. Für mich, weniger für ihn. Er ist schon einige Stunden unterwegs und muss sein Haus in Nunusunu vor Sonnenaufgang verlassen haben. Ich muss unbedingt noch jemanden kennenlernen, drängt er, fällt gleich mit der Tür ins Haus. Jemand wichtigen. Einen Mann. Er wohnt ganz in der Nähe, am Ende der Jalan Ahmed Yani. Dort, wo es zu den Bungalows der Provinzregierung hinaufgeht.
Meine Arbeit in Amanuban ist beendet. Meinen Abschied habe ich vor einer Woche aufwändig zelebriert. Alle sind gekommen. Reden und Geschenke wurden ausgetauscht. Ein Schwein wurde geschlachtet und gegessen. Und vieles mehr. Der Abschied vollendet. Was bleibt ist ordnen, packen, abreisen. Ob ich will oder nicht. Der neue Beamte im Kantor Imigrasi in Kupang hat ein Machtwort gesprochen. Über meine Wünsche hinweg, meine Beziehungen ignorierend, jeden meiner Freunde in Amanuban beleidigend. Er schickt mich zurück nach Deutschland, weil ich meine Aufenthaltsgenehmigung überzogen habe. Er ist Jawaner. Und das reicht. Wäre ich nicht Deutscher, sagt er, würde er mir Schwierigkeiten machen, die ich nicht vergessen werde.