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11 September 2022

Die schwarze Mühle im Koselbruch


Ich kann nicht, alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während meiner Wanderung auf der Via Regia kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Empfindungen abgelöst. Neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess der Verdrängung und Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und Begegnungen, mir geben, nicht alles, was mir unterwegs, auf Schritt und Tritt, einfällt, zustößt und zufällt, hat Beständigkeit. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens, bleibt erhalten, erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher, es wäre schön, doch es ist nicht realistisch. Abends sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in zwei getrennte Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen euphorischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet, aus dem wie ein Berggipfel im Nebelmeer ein besonders psychisch besetztes Detail herausragt. Die Ernte des Reisens!