Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.
Walter Benjamin
Wer durch seine Welt wandert, wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht
mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in
ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl
und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen.
Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
Brandenburg heißt eine Stadt, aber in Wirklichkeit ist Brandenburg eine Landschaft mit dem
Titel Mark. Brandenburg kenne ich erst seit fünf Jahren. Unsere Beziehung war vom ersten Tag
an eine leidenschaftliche. Ich wusste damals noch nicht, dass es möglich ist, mit einer
Landschaft eine emotionale Beziehung einzugehen. Wer zu Fuß durch geht, tritt mit seiner
Umgebung nicht nur in eine physische, sondern auch in eine emotionale Beziehung ein. Er spürt
den Boden unter seinen Sohlen, die wechselnde Temperatur, Wind und Regen im Gesicht oder
den Schweiß, der früher oder später seinen Körper bedeckt. Eine Fußreise, ob in der Stadt oder
auf dem Land, ist eine sinnlich ganzheitliche Erfahrung, eine akustisch bis visuelle Odyssee,
selbst ein haptisches Vergnügen, denn der Wanderer kommt nicht umhin, Gegenstände am Weg
zu berühren, auch wenn es manches Mal nicht mehr als eine Tasse Kaffee ist. Von den
Gerüchen einmal ganz zu schweigen, denn die sind unbeschreiblich. Die Erfahrung des Gehens
fordert den ganzen Leib. Dieser spürt sich mit einer Kakophonie angenehmer und
unangenehmer Sinneseindrücke konfrontiert, die eine ständige Sinngebung provozieren. Der
Wanderer streift nicht nur durch seine Umgebung, sie lagert ihrerseits ihre Sedimente in ihm
ab. Plötzlich bemerkt er: Er ist zu einem Teil von ihr geworden. Die eigene Umgebung hat es
verdient, gespürt und gekannt zu werden. Der Mensch muss sich dessen bewusst sein, was er
seiner Geographie zu verdankt.
In Brandenburg habe ich meine eigenen Wege, meine eigenen Landschaften und Orte, Etappen, die ich gerne und oft gehe. Sie gehören mir allein, den meine Schritte und Blicke konstruieren eine Umgebung, die subjektiv und unteilbar ist. Sie lässt sich erzählen, aber nicht mit der eines anderen Wanderers synchronisieren. Mein Bedürfnis nach unterschiedlichen Formen der Landschaft, nach dem ständigen Auf und Ab städtischer Atmosphären mit Wald, Feld und Flur, wie es in so mancher Erzählung und manch einem Lied heißt. Jeden Tag den gleichen Weg zu gehen, welch eine schreckliche Vorstellung angesichts der Vielfalt von Wegen. Eine Verschwendung, die die Mannigfaltigkeit Brandenburgs verhöhnt. Brandenburg ist nie dasselbe. Brandenburg fühlt sich immer wieder anders an, je nach Temperatur, nach Wetter und Umgebung. Meine Wahrnehmung ändert sich mit meiner Stimmung, mit meinem Bedürfnis zu schlendern, zügig zu gehen oder zu eilen. Ob ich flaniere oder mich beeile, macht bereits den Unterschied. Mein Rhythmus komponiert die Landschaft, die nicht das Geringste mit der anderer zu tun hat. Mein Gehen bestimmt meine Gefühle. In jeder Region liegen andere Atmosphären in der Luft: die Straßen, eng, breit, gerade, gewunden; Bäume oder Autos an ihren Rändern, Kopfsteinpflaster oder Asphalt, eigenständige Stadtteile, Kieze und Quartiere, vielfältig ihre Parks; die Wälder, Kiefernmonokultur oder Mischwälder aus Eichen, Buchen und Nadelhölzern; moorige Teiche, deren stilles,
undurchdringliches Wasser unter den Schwimmblättern der Mummeln lauert; immer wieder ausgedehnte Seenlandschaften mit versteckten kleinen Buchten, einem labyrinthischen Gewirr kleiner und kleinster Fließe, Badstränden oder Bootsanlegern; Bäche, kleine Flüsse und Kanäle auf denen in die Jahre gekommene polnische Flussschiffer Metallschrott aus dem Westen in den Osten befördern und Rentner mit ihren Motorbooten oder Yachten ihren Lebensabend verbringen; die Dörfer mit einer Bebauung aus unterschiedlichen historischen Epochen, Burgen, Schlösser und Kirchen und die zahllosen Gutshöfe, von denen der eine oder andere einst als Rittergut des märkischen Adels gegründet wurde. Menschenleere Landschaften, monotone, weite Flächen, Moor- und Heide, in denen die Vögel letzte Habitate finden; die Dörfer ordentlich zurecht gemacht, die Bewohner, ich weiß nicht wo; die größeren Orte bevölkert, kleinbürgerlich, nicht multikulturell, so mancher von ihnen unter einem autoritären Dunst; kaum Geschäfte oder Gaststätten, an deren monochromen Hauswänden nicht das Alter nagt; die Discounter in ihren flachen Hallen hocken wie ein Rudel Wölfe am Rand vieler Orte; und natürlich Tankstellen, denn ohne Autor läuft hier schon lange nichts mehr; von Wind und Wetter zerfledderte Werbung oder absurde politische Graffiti, unfassbar in ihrer Intoleranz. Landschaften und Orte wirken oft wie ein leeres Land.
Stadtluft macht schon lange nicht mehr frei. Vielmehr macht sie krank. Das ist dem
postmodernen Menschen mittlerweile bewusst und erinnert ihn an ein anderes Leitmotiv aus
vergangener Zeit: Zurück zur Natur! Fontanes Statement für Reisende, die sich aufmachen, die
Landschaften, Ortschaften und historischen Hinterlassenschaften Brandenburgs zu suchen, ist
ungemein hilfreich, wenn es darum geht, die Fremde vor der eignen Haustüre zu erkunden: das
Besondere auch im Gewohnten zu finden. Das Zeitalter des Ferntourismus mit dem modernen
Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit
befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wir möglich mit der
Fremde bekommt, denn er findet dort nur seine eigene Umgebung, in der er sich wie zuhause
fühlen kann. Weit ist er gekommen, doch gefunden hat er nichts, außer dem, was er schon
immer kennt. Wer im Nahraum wandert, wer sich dabei von den touristischen Angeboten
weitgehend fernhält, der findet eine ganz besondere Fremde vor, mit der er zuerst gar nicht
gerechnet hat. Brandenburg ist das Umland von Berlin, könnte man meinen. Aber es ist genau
umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, der Fokus, der Fluchtort, der sich gegen die
scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von
Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur
Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit,
Stadt und Land in unmittelbarer Nähe zu haben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg
gehen; und rundherum durch Brandenburg zurück nach Berlin.
Seit zwei Wochen bin ich aus Spanien zurück, wo ich noch einmal auf Jakobswegen durch
vielfältige Landschaften gewandert bin.
Seit zwei Wochen bin ich wieder in Berlin und sehne
mich danach, wieder aufzubrechen. Ist das Nostalgie, die melancholische Stimmung, in der sich
jemand nach vergangenen Zeiten und Lebensweisen sehnt. Es kann eine schmerzliche Erfahrung sein, an einen Ort zurückzukehren, stellen auch Roger M. Downs und David Stea in ihrem Buch über kognitive Karten und die Welt in unseren Köpfen fest. Sie sprechen von der Nostalgie, die uns ergreift, wenn etwas Erfüllendes und zutiefst Befriedigendes beendet ist. Sie erinnern daran, dass das Wort Nostalgie, viel zu oft unbedacht verwendet, sich aus den griechischen Lexemen nostos und algos zusammensetzt; aus Heimkommen und Schmerz. Es
fällt mir jedes Mal schwer, mich schnell wieder zuhause zu fühlen. Wiedereingliederung nach einer wochenlangen Fußreise gelingt nicht immer gut.
Bevor es Winter wird, muss ich noch einmal unterwegs sein. Es ist wie so oft, die Inspiration kommt über Nacht. Als ich eines Morgens aufwache, weiß ich, dass ich wieder in Brandenburg wandern werde. Vor drei Jahren führte mich eine tagelange Fußreise von Berlin über Bad Wilsnack nach Tangermünde an die Elbe, mitten durch die Prignitz und die Altmark. Noch mit den gröberen Augen, wie Fontane es nennt, denn der Weg nach Tangermünde war meine erste Fernwanderung. Durch die Mark, wie man sagt, die sich um Berlin von der Oder bis an die Elbe dehnt. Die Mark nimmt Berlin in die Mitte und versorgt sie von allen Seiten. Jetzt gehe ich noch einmal durch Brandenburg. Fast vierhundert Kilometer rund um Berlin. Ich brauche kein Meeresrauschen, keine endlosen Sandstrände, keine Städte mit ihren Konsummeilen, wenn ich zwischen hier und dort tausende Kilometer zurücklegen muss. Ich freue mich auf die klaren Linien der brandenburgischen Landschaft, auf die Seen, die sich wie in der Sonne glitzernde Perlen um Berlins urbanen Körper schmiegen, auf die offenen Weiten, auf Havel und Spree, die sie verbindenden Schifffahrtskanäle, auf die vielen Vögel im Luch und in den Auen, die verstreuten Wälder mit ihren Laubbäumen im Norden und den Nadelbäumen im Süden der Stadt. Nach unverbrauchter Luft, nach weitem Himmel und blendender Sonne, nach Nächten unter unverschmutztem Sternenhimmel. Auch auf die Dörfer, Kleinstädte, Klöster und Kirchen mit ihren Gebäuden und Kunstschätzen, Zeugen einer bewegten und abwechslungsreichen Geschichte. Hinterlassenschaften seit Mittelalter und Romanik, die bis zu Karl dem Großen, dem ersten deutschen Kaiser zurückreichen. Ganz besonders darauf, wieder unbefestigte Erde unter meinen Sohlen zu spüren, auf die weichen, federnden Wege der Landschaft, nach harten Tritten auf Berliner Asphalt. Ich gehe noch einmal nach Brandenburg, durch ein Landschaftsform, die ich noch nicht kannte – Heide, Wald und Wasser -; alles andere, als eintönig, was immer behauptet wird.
Es gibt Länder, wo was los ist . . . In Rainald Grebes satirischer Hymne kommt das Wort Brandenburg redundant vor. Das muss etwas bedeuten:
Es gibt Länder, wo was los ist
Es gibt Länder, wo richtig was los ist und es gibt
Brandenburg Brandenburg
[...]
Brandenburg, Brandenburg
Ich fühl' mich heut' so leer, ich fühl' mich brandenburg
In Berlin bin ich einer von drei Millionen!
In Brandenburg kann ich bald alleine wohnen, Brandenburg
[...]
Berlin, Halleluja Berlin, Halleluja Berlin
[...]
Ich fühl' mich heut' so ausgebrandenburgt
In Berlin kann man so viel erleben, in Brandenburg
Soll es wieder Wölfe geben, Brandenburg
Die Versfragmente des Lieds Brandenburg drücken die Spannung aus, die in den beiden
unterschiedlichen Weisen liegt, sein Leben zu verbringen. Da ist die Stadt Berlin mit ihrer
verschlingenden Urbanität, umgeben von einem Bundesland, in dem nichts los sein soll. Der
Gegensatz von Stadt und Land wird thematisiert. Die vielen Möglichkeiten von Arbeit,
Begegnung, Konsum und Kultur locken die Brandenburger in die Städte, die sie belügen und
verführen. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land am allheilbringenden Konsum
teilzunehmen, frustriert und fordert auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. In der
Regel verlassen die Jungen die Alten. Das war schon immer so, und nun hat es Brandenburg
getroffen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit in Spot sozialer
Teilhabe. Jeder kennt jeden auf dem Land, manche kennen einige in der Stadt. Einer von drei
Millionen zu sein, wird plötzlich erstrebenswert. Macht Stadtluft wirklich frei? Der Journalist
Henning Sußebach geht den umgekehrten Weg. Er macht sich auf, das zu entdecken, wovon
Rainald Grebe in seinem maskierten Liebeslied singt: das Land. Schon Martin Luther schrieb
eine Parabel zum Thema: Von der wohlhabenden Stadtmaus und ihrer armen Verwandten, der
Feldmaus, um nicht vom Stadtmenschen oder Landmenschen zu sprechen. Die Feldmaus
entscheidet sich freiwillig für ihr bescheidenes Landleben, nachdem sie einer Einladung der
Stadtmaus in ihr Revier gefolgt ist, und dort beinahe gestorben wäre. Und die Moral, die die
Feldmaus ihrer reichen Verwandten entgegenhält: Ich bin frei, und meine Armut nehme ich
dafür in Kauf.
Henning Sußebach stellt auf seiner Wanderung fest, und das ist das Besondere an seinem
Bericht, dass sich Stadtmensch und Landmensch nicht mehr verstehen, nicht mehr solidarisch
sind. Umwelten und Lebenswelten sind zu verschieden geworden. Kaum das der eine noch was
vom anderen weiß. Empathisch? Als gebe es kein Leben außerhalb der Großstadt, spricht der
Hamburger Journalist Sußebach von der urbanen Herablassung des Städters. Auf seiner
Wanderung durch Deutschland, von Nord nach Süd, kommt es ihm vor, als befände ich mich
exakt auf einer Kluft, auf einer historischen Verwerfung, die zwischen Stadt und Land, zwischen
Avantgarde und Abgehängten, zwischen Morgen und Gestern zu verlaufen schien, womöglich
aber auch zwischen Arroganten und Ignorierten. Deutschland hat kein soziales Nord-Süd-Gefälle, sondern ein Stadt-Land-Gefälle. Rainald Grebe singt von diesem modernen StadtLand-Dilemma, wenn er es auch nicht benennt. Stadt und Land sind nicht reziprok, sie sind antipodisch. In der Stadt vermutet man die Lebensqualität, auf dem Land die
Zurückgebliebenheit. Dominiert von Großbetrieben mit ihren von Maschinen und in
Monokultur, automatisierter und chemisch gedopter Landwirtschaft sowie umweltzerstörender
Massentierhaltung, die mittlerweile unser Trinkwasser bedroht. Daneben kulminieren
Arbeitslosigkeit und Langeweile. Wer heute noch in den entleerten Dörfern und Regionen
Brandenburgs lebt, das glaubt der Stadtmensch, hat es aus irgendeinem Grund nicht geschafft,
von dort fortzukommen aus. Warum sollte jemand freiwillig in Brandenburg bleiben? Trotzdem
gehe ich wieder hin, und, was erstaunlich klingt, viele bleiben gern. Die Schönheit der
Landschaft und die historische Bedeutung Brandenburgs, die Theodor Fontane Ende des 19.
Jahrhunderts in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg in fünf Büchern beschrieb,
haben die Zeiten überdauert. Wer durch Brandenburg wandert wird feststellen, dass Fontanes
Texte nicht das einzige sind, was von Brandenburg übriggeblieben ist. Doch dazu braucht es eben diesen feinen Natur- und Landschaftssinn, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit, sich
vom ganz Anderen des modernen Lebens berühren zu lassen, sich einzulassen, offen zu sein,
zu riskieren, dass sich das Band, das uns mit dem Alltag verbindet, für einen Moment lockert.
Das Land Brandenburg ist nicht irgendein Bundesland. Wer zu Fuß durch Brandenburg reist,
betritt eine Region, die lange Zeit eine herausgehobene Rolle in der deutschen Geschichte
spielte. Zeugnisse aus dieser Zeit findet man bis in die entlegensten Orte. Der Wanderer streift
durch eine besondere deutsche Landschaft, die Mark, die nicht so aufdringlich spektakulär
daherkommt wie das Matterhorn oder die Ostseebäder. Die Region war schon vor dem 12.
Jahrhundert Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Seit dem 13.
Jahrhundert besaß der brandenburgische Markgraf eine wichtige Stimme als Kurfürst bei der
Wahl der deutschen Könige. Die Altmark westlich der Elbe, die Mittelmark, das Kernland
zwischen Elbe und Oder, und die Neumark, die Gebiete östlich der Oder im heutigen Polen
sowie Teile der Niederlausitz bilden diese Region mit dem antiquierten Namen. Eine Mark,
vom Lateinischen marchia, war im mittelalterlichen Europa das Grenzgebiet eines Reiches. In
Brandenburg an Oder und Elbe gegen die vordrängenden Slawen. Karl der Große führte das
System der Marken ein, um die durch die Kriege der Franken eroberten Gebiete zu halten. Den
Markgrafen wurde eine Mark vom König als Lehen gegeben, mit dem Recht des
Befestigungsbaus und der Mobilmachung, den Heerbann im eigenen Territorium aufzubieten.
Die südlichen Gebiete des Bundeslands Brandenburg gehörten nie zur Mark; weder historisch
noch territorial, denn hier gab es keine Grenzen zu sichern.
Märkische Heide, märkischer Sand, die erste Zeile der heimlichen Nationalhymne
Brandenburgs, eine Landschaft, die des Heiligen Römischen Reichs Streusandbüchse genannt
wurde. Sand und Heide als charakteristische Merkmale einer Landschaft? Weit gefehlt! Die
Verse des anderen Brandenburglieds, das Rainald Grebe verschweigt, erzählen von uralten
Eichen, dunklen Kiefernwäldern, grünen Birken am Wegesrain, blauen Seen, Wiesen und
Mooren. Vom roten Adler, dem Wappentier Brandenburgs, der hoch hinauf in die Lüfte steigt.
Berggipfel hat die Mark nicht zu bieten, die höchste Erhebung ist gerade einmal hundertfünfzig
Meter hoch. Keine Berge, die zu bezwingen des Wanderers Herz höherschlagen lassen.
Stattdessen gibt es in Brandenburg über dreitausend Seen, die Berlin einrahmen wie eine Insel.
Sechsundsechzig von ihnen werde ich in den nächsten Wochen sehen, in dem einen oder
anderen vielleicht auch baden. Vielfältig verbinden Gewässer und unzählige Wasserläufe die
Seen; Entwässerungsgräben, Schifffahrtskanäle, Bäche und kleine Flüsse, dazu noch
Dorfteiche, Wald- und Wiesentümpel. Dazu kommen noch die künstlich angelegten
Fischteiche, deren Ernte in Imbissbuden und Restaurants am Straßenrand angeboten wird.
Brandenburg bietet keine spektakulären Schönheiten, darauf weist Fontane immer wieder hin,
wenn er von dem gröberen Blick spricht, der reizüberflutet, erwartungshungrig und
abgestumpft ist. Die Schönheit der brandenburgischen Landschaft will erworben werden. Wie
eine schüchterne Geliebte wartet sie auf den Richtigen, der sie versteht und zu nehmen weiß.
Wer zu Fuß geht, hat die besten Chancen erhört zu werden.
Die Mark Brandenburg besitzt den größten Anteil an Naturschutzgebieten deutscher Bundesländer, und ist dabei alles andere als eine ursprüngliche Naturlandschaft. Die Eiszeit hat der Landschaft ihr Profil gegeben, aber menschliche Landschaftsgestaltung hat sie in Jahrhunderten ausgestaltet. Die Eismassen haben nordische Gesteine bis nach Brandenburg geschoben, das abfließende Eiswasser hat Rinnen und Seen zurückgelassen und mit ihrem Schmelzwasser gefüllt. Die Klimaerwärmung nach der letzten Eiszeit begünstigte die Vegetation. Es entstanden Urwälder aus Birken, Buchen und anderen Baumarten. Menschliche Besiedlung rodete die Wälder und schuf landschaftlich nutzbare Inseln im zusammenhängenden Wald. Felder und Weiden werden mittlerweile durch Hecken und Gehölze begrenzt. An den Wegen zwischen den Feldern wachsen Büsche und Obstbäume. Die modernen Wälder, besonders die Kiefernwälder, sind Produkte einer planvollen Forstwirtschaft, die auf Nachhaltigkeit gründet.
Charakteristisches Merkmal der brandenburgischen Landschaft sind die Flüsse mit ihren
wechselnden Betten, mit ihren Verzweigungen und seeähnlichen Buchten. Menschliche
Bedürfnisse zwangen die Flüsse in geordnete Bahnen, sumpfige Uferbereiche wurden durch
Kanäle urbar gemacht. Die weitgehend unregulierte Havel entzieht sich diesen
Begehrlichkeiten noch immer.
Die Seen der brandenburgischen Landschaft liegen zwischen Feldern, Wiesen und Wäldern
eingebettet, oft versteckt. Ihre Gestalt erhielten sie vor zehntausend Jahren als sich die
Weichseleiszeit zurückzog. Sie prägte die Form der Flussseen wie der Havelgewässer genauso
wie die tieferen Rinnenseen. Die Seen der Eiszeit unterlagen einem Alterungsprozess, der deren
Lebenszyklus mit Moorbildung und Verlandung abschloss. Sümpfe und Feuchtgebiete boten
zahlreichen Wasservögeln ein artgerechtes Biotop bevor sie versandeten. Wassertiefe,
Sauerstoffgehalt und Nährstoffe ermöglichen verschiedenen Fischarten einen idealen
Lebensraum, so der Maräne in tiefen, klaren und sauerstoffreichen Seen, dem Zander in den
trüben, flachen und schlammigen Landseen oder dem Hecht und der Schleie in den klaren
Waldseen mit ihren Krautwiesen und aquatischen Pflanzengemeinschaften. Während die
meisten Fischarten keine natürlichen Populationen sind, gehört der Wels zu Brandenburg wie
der rote Adler. Neue Seen entstanden durch Torfstiche und Torfgruben, durch Kiesgruben und
Tagebau. Künstliche Wasserwege, Entwässerungsgräben und Kanäle, verbinden die großen
Seen und erschließen sie als Transportwege für die Schifffahrt.
Eine andere Hinterlassenschaft der letzten Eiszeit sind die großen Findlinge und Feldsteine, die
von den skandinavischen Eismassen zerkleinert, geschliffen und nach Süden geschoben
wurden. Gesteine der nordischen Gebirge, um die sich volkstümliche Sagen und Namen ranken,
liegen als kubikmetergroße Felsbrocken im Gelände. Die aus diesen Riesensteinen errichteten
Hügelgräber datieren aus der jüngeren Steinzeit und der Bronzezeit, von einzelnen Großsteinen
vermutet man, dass sie rituellen Praktiken dienten. Die viel kleineren Feldsteine besaßen einst
als Baumaterial für Burgen, Kirchen und Stadtbefestigungen eine große Bedeutung. Das
Gemäuer vieler brandenburgischen Kirchen wurde aus den auf den Feldern gesammelten
Feldsteinen errichtet.
Brandenburg ist von vielen kleinen Dörfern geprägt, deren Häuser sich um eine Dorfkirche, ein
Herrenhaus oder ein Schloss gruppieren. Drei Dorfanlagen sind für die Region charakteristisch:
das Angerdorf, mit seiner langen Dorfstraße, die sich im Zentrum teilt, wo sie Kirche, Teich
und Schmiede wie auf einer Insel umschließt, das Runddorf mit nur einem Zugang zur
Dorfmitte und den sie kreisförmig umgebenen Häusern sowie das Straßendorf mit einer
Zugangsstraße, die das Dorf nicht teilt, sondern wo Kirche, Teich und Schmiede im
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Ortszentrum auf einer Seite der Straße liegen. Den Kirchen aus Feldsteinen ist ihr ehemaliger
Festungscharakter immer noch anzusehen. Sie waren einst als Wehrkirchen mit Fenstern wie
Schießscharten für den Schutz der Bevölkerung unerlässlich. Und der Dorfteich, er war
Waschplatz und Reservoir für das Löschwasser bei Bränden. 1400 Dorfkirchen soll es in
Brandenburg geben. Aus großer Entfernung sichtbar, bieten sie dem Fußgänger Orientierung
und Ziel. Nachdem die Mark Brandenburg im 12. Jahrhundert von Zisterziensern christianisiert
wurde, entstanden im 13. Jahrhundert die charakteristischen, vollständig mit Feldsteinen
gebauten Kirchen als Wehrkirchen, Zufluchtsort der Dorfbewohner in unruhigen und
kriegerischen Zeiten, mit später ergänztem Turm und Schießschartenfenstern. Sie gehören zum
ältesten Kulturerbe Deutschlands, das immer noch genutzt wird, aber dessen Erhaltung
aufgrund fehlender Mittel der Kirchengemeinden ungewiss ist.
Mit dem Rückgang des Eises drangen prähistorische Sammler und Jäger in die Mark
Brandenburg ein. Ausgrabungen belegen, dass Menschen hier seit zehntausend Jahren leben.
Archäologische Funde weisen auf eine keltische Besiedlung sowie auf hier lebende nordische
Völker hin. Mit der Völkerwanderung kamen im 6. Jahrhundert die Slawen nach Brandenburg
und ließen sich dauerhaft in der Region nieder. Kurz nach ihnen zogen germanische Stämme
durch die Mark und breiteten sich in ganz West- und Nordeuropa aus. Der Zusammenprall
beider Ethnien benachteiligte die am weitesten westlich lebenden Slawen, die ihre Sprache und
Kultur verloren. Reste slawischer Sprache in Brandenburg erhielten sich im Spreewald. Ortsund Familiennamen mit den Endungen -ke und -ow sind immer slawischen Ursprungs. Mit den
Hohenzollern, seit dem 15. Jahrhundert, kamen neue Siedler und Kolonisten in die Mark, die
von den Machthabern gezielt angesiedelt wurden. Die Flamen, von denen der Fläming seinen
Namen erhielt, Religionsmigranten aus Frankreich und Böhmen sowie Deutsche aus anderen
Landesteilen folgten dem Ruf, erhielten zu kultivierendes Land und leiteten den
wirtschaftlichen Aufschwung der Mark Brandenburg ein. Die brandenburgische Bevölkerung
ist heute ein Konglomerat der slawischen Urbevölkerung, von Germanen und Deutschen,
Franzosen, Holländern und Böhmerländern. Nach dem Zweiten Weltkrieg erneuerte sich die
Bevölkerung ein weiteres Mal. Viele Brandenburger flohen vor der Roten Armee nach Westen
und machten den nachrückenden Flüchtlingen aus dem Osten, von jenseits der Oder und Neiße
Platz. Der sogenannte Berliner Speckgürtel mit den neugegründeten Industriegebieten und
Wohnsiedlungen für die wohlhabende Berliner Bevölkerung, die keine Brandenburger, sondern
von überall her Zugezogene sind, vervollständigt die multiethnisch gemischte Bevölkerung der
Mark Brandenburg.
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