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05 September 2018

Im Nahraum Brandenburg



Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung
.
Walter Benjamin

Wer durch seine Welt wandert, wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
Brandenburg heißt eine Stadt, aber in Wirklichkeit ist Brandenburg eine Landschaft mit dem Titel Mark. Brandenburg kenne ich erst seit fünf Jahren. Unsere Beziehung war vom ersten Tag an eine leidenschaftliche. Ich wusste damals noch nicht, dass es möglich ist, mit einer Landschaft eine emotionale Beziehung einzugehen. Wer zu Fuß durch geht, tritt mit seiner Umgebung nicht nur in eine physische, sondern auch in eine emotionale Beziehung ein. Er spürt den Boden unter seinen Sohlen, die wechselnde Temperatur, Wind und Regen im Gesicht oder den Schweiß, der früher oder später seinen Körper bedeckt. Eine Fußreise, ob in der Stadt oder auf dem Land, ist eine sinnlich ganzheitliche Erfahrung, eine akustisch bis visuelle Odyssee, selbst ein haptisches Vergnügen, denn der Wanderer kommt nicht umhin, Gegenstände am Weg zu berühren, auch wenn es manches Mal nicht mehr als eine Tasse Kaffee ist. Von den Gerüchen einmal ganz zu schweigen, denn die sind unbeschreiblich. Die Erfahrung des Gehens fordert den ganzen Leib. Dieser spürt sich mit einer Kakophonie angenehmer und unangenehmer Sinneseindrücke konfrontiert, die eine ständige Sinngebung provozieren. Der Wanderer streift nicht nur durch seine Umgebung, sie lagert ihrerseits ihre Sedimente in ihm ab. Plötzlich bemerkt er: Er ist zu einem Teil von ihr geworden. Die eigene Umgebung hat es verdient, gespürt und gekannt zu werden. Der Mensch muss sich dessen bewusst sein, was er seiner Geographie zu verdankt.

05 Juli 2018

Das Glück des Gehens 1


Der Schreibende ist ein Grenzgänger.
Nach seinen Entrückungen kehrt er in die
eigene Welt heim, um sein Lied zu singen,
in dem er seine Gemeinschaft teilnehmen lässt,
was er in der anderen »Welt« erfahren hat
.
Michael Obert

In Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg findet sich eine auf den ersten Blick verstörende Bemerkung: Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste - sagt das Sprichwort - hat immer noch sieben Schönheiten.« Die spröde brandenburgische Landschaft als Flora, Fauna und Klima, durch die der Wanderer geht, bildet den Fokus meines affektiven Betroffenseins. Rationalisierung und Intellektualisierung haben meine Welt entzaubert, sodass ich mich inmitten der urbanen Öde eines extremen Mittels bedienen muss, um mir meiner Herkunft bewusst zu werden: Ich muss wieder zu Fuß gehen. Wo Menschen früherer Kulturen authentische Erzählungen und Mythen besaßen, breiten sich in meinem Leben nun komplexe Erklärungen aus, die mir meine Welt nur mit Mühe erklären. Was Landschaft bedeutet, ist nicht durch deskriptive Beschreibungen oder beeindruckende Hochglanzfotografien zu verstehen. Landschaft, und die Natur, die sie ist, lässt sich nur im unmittelbaren leiblichen Kontakt erfahren. Novalis liegt mir im Ohr, der versucht hat, die Landschaft, die ihn umgab, zu spüren wie eine Erweiterung seines Leibs.
Fontanes Statement für Reisende, die sich aufmachen, die Landschaften, Ortschaften und historischen Hinterlassenschaften Brandenburgs mit feinerem Sinn zu suchen, wurde mein Leitstern, als es darum ging, die Fremde vor meiner eignen Haustüre zu erkunden. Das Besondere auch im Gewohnten zu finden, war zu Beginn nur graue Theorie. Ich beschloss im Nahraum zu wandern, und mich von der touristischen Infrastruktur weitgehend fern zu halten. Ich fand eine ganz besondere Fremde vor, mit der ich zuerst nichts anfangen konnte. Brandenburg ist das Umland von Berlin, dachte ich. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe und Mischung zu erleben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und kreuz und quer durch Brandenburg zurück nach Berlin.