Ein schöner Tag. Ein perfekter Tag um zu wandern. Die Sonne scheint warm vom blauen Himmel, über den dicke Pakete weißer Wolken ziehen. Immer wieder machen die Kumuluswolken der Sonne ihren Auftritt streitig, doch wenn sie sich durchsetzt, wird es gleich warm. Trotzdem weht ein kühler Wind. Abwechselnd wird mir warm oder ich friere wieder, aber dafür schwitze ich nicht, was mir gefällt. Es ist immer ein Kompromiss zwischen der richtigen Kleidung und der herrschenden Temperatur. Mir macht es weniger aus, gelegentlich zu frieren, als zu viel Gewicht auf dem Rücken zu tragen. Gefüllte Wasserflaschen sind mir lieber als eine wärmende Jacke; jedenfalls im Frühling und Sommer. 27 Grad sollen es heute werden. Ich habe mich für ein kurzärmeliges, dünnes Hemd entschieden, und die Jacke zuhause gelassen. Im Wind bedauere ich es beinahe, denn es sind gefühlt höchstens zehn Grad.
10 September 2019
05 September 2018
Im Nahraum Brandenburg
Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.
Walter Benjamin
Wer durch seine Welt wandert, wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht
mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in
ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl
und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen.
Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
Brandenburg heißt eine Stadt, aber in Wirklichkeit ist Brandenburg eine Landschaft mit dem
Titel Mark. Brandenburg kenne ich erst seit fünf Jahren. Unsere Beziehung war vom ersten Tag
an eine leidenschaftliche. Ich wusste damals noch nicht, dass es möglich ist, mit einer
Landschaft eine emotionale Beziehung einzugehen. Wer zu Fuß durch geht, tritt mit seiner
Umgebung nicht nur in eine physische, sondern auch in eine emotionale Beziehung ein. Er spürt
den Boden unter seinen Sohlen, die wechselnde Temperatur, Wind und Regen im Gesicht oder
den Schweiß, der früher oder später seinen Körper bedeckt. Eine Fußreise, ob in der Stadt oder
auf dem Land, ist eine sinnlich ganzheitliche Erfahrung, eine akustisch bis visuelle Odyssee,
selbst ein haptisches Vergnügen, denn der Wanderer kommt nicht umhin, Gegenstände am Weg
zu berühren, auch wenn es manches Mal nicht mehr als eine Tasse Kaffee ist. Von den
Gerüchen einmal ganz zu schweigen, denn die sind unbeschreiblich. Die Erfahrung des Gehens
fordert den ganzen Leib. Dieser spürt sich mit einer Kakophonie angenehmer und
unangenehmer Sinneseindrücke konfrontiert, die eine ständige Sinngebung provozieren. Der
Wanderer streift nicht nur durch seine Umgebung, sie lagert ihrerseits ihre Sedimente in ihm
ab. Plötzlich bemerkt er: Er ist zu einem Teil von ihr geworden. Die eigene Umgebung hat es
verdient, gespürt und gekannt zu werden. Der Mensch muss sich dessen bewusst sein, was er
seiner Geographie zu verdankt.
05 Juli 2018
Das Glück des Gehens 1
Der Schreibende ist ein Grenzgänger.
Nach seinen Entrückungen kehrt er in die
eigene Welt heim, um sein Lied zu singen,
in dem er seine Gemeinschaft teilnehmen lässt,
was er in der anderen »Welt« erfahren hat.
Michael Obert
In Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg findet sich eine auf den ersten
Blick verstörende Bemerkung: Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren
Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich
einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause
bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste - sagt
das Sprichwort - hat immer noch sieben Schönheiten.« Die spröde brandenburgische
Landschaft als Flora, Fauna und Klima, durch die der Wanderer geht, bildet den Fokus meines
affektiven Betroffenseins. Rationalisierung und Intellektualisierung haben meine Welt
entzaubert, sodass ich mich inmitten der urbanen Öde eines extremen Mittels bedienen muss,
um mir meiner Herkunft bewusst zu werden: Ich muss wieder zu Fuß gehen. Wo Menschen
früherer Kulturen authentische Erzählungen und Mythen besaßen, breiten sich in meinem Leben
nun komplexe Erklärungen aus, die mir meine Welt nur mit Mühe erklären. Was Landschaft
bedeutet, ist nicht durch deskriptive Beschreibungen oder beeindruckende
Hochglanzfotografien zu verstehen. Landschaft, und die Natur, die sie ist, lässt sich nur im
unmittelbaren leiblichen Kontakt erfahren. Novalis liegt mir im Ohr, der versucht hat, die
Landschaft, die ihn umgab, zu spüren wie eine Erweiterung seines Leibs.
Fontanes Statement für Reisende, die sich aufmachen, die Landschaften, Ortschaften und
historischen Hinterlassenschaften Brandenburgs mit feinerem Sinn zu suchen, wurde mein
Leitstern, als es darum ging, die Fremde vor meiner eignen Haustüre zu erkunden. Das
Besondere auch im Gewohnten zu finden, war zu Beginn nur graue Theorie. Ich beschloss im
Nahraum zu wandern, und mich von der touristischen Infrastruktur weitgehend fern zu halten.
Ich fand eine ganz besondere Fremde vor, mit der ich zuerst nichts anfangen konnte.
Brandenburg ist das Umland von Berlin, dachte ich. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die
Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die
Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und
Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut
noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe und Mischung
zu erleben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und kreuz und quer durch
Brandenburg zurück nach Berlin.