22 Mai 2025

Hypnagon am Río Sella


Nachmittags fahre ich hinauf in die Berge nach Arriondas. In Llanes scheint die Sonne, aber an den Bergen steigen schwarze Wolken auf. Schon die Busfahrt ist spektakulär. Die Landstraße von Ribadasella führt durch das Tal des Río Sella. Zu beiden Seiten des Flusses ragen Berge auf, die Gipfel graues Felsgestein oberhalb der Baumgrenze. Allem Anschein zum Trotz scheint in Arriondas die Sonne, als ich aus dem Bus steige.
Geografisch ist Asturien eine Landschaft im Nordwesten Spaniens, zwischen dem Kantabrischen Meer und der Kantabrischen Kordillere, das im Westen an Galicien grenzt, heute eine politische Verwaltungseinheit, das Fürstentum Asturien (Principado de Asturias), beziehungsweise die Autonome Gemeinschaft Asturien (Comunidades Autónomas). Den Titel Fürst von Asturien (Principe de Asturias) trögt heute der spanische Thronfolger, auch wenn sich daraus keine politischen Aufgaben ergeben. Im 8. vorchristlichen Jahrhundert wurde Nordwestspanien und Nordportugal (Asturien und Galicien) von keltischen Ethnien besiedelt, die in der Archäologie als Träger der eisenzeitlichen Castro-Kultur bekannt sind, deren namengebendes Merkmal befestigte Siedlungen (castros) auf Hügeln waren wie Chao Sanmartín bei Grandas de Salime unweit der asturisch-galicischen Grenze.
Obwohl die Wettervorhersage Regen ankündigt, ist ein schöner Tag mit blauem Himmel, über den ein paar wattebäuschige Kumuluswolken segeln. Beim Frühstück im Café nebenan meinte eine Frau, mit der ich über meine Wanderung nach Cangas de Onís sprach: Jetzt ist die Zeit, in der wir an einem Tag das Wetter jeder Jahreszeit haben. Ich hatte morgens einen kühlen Frühlingstag und am Nachmittag einen warmen und sonnigen Frühsommertag. Geregnet hatte es bereits in der vergangenen Nacht, sodass ich sicher vor neuen Niederschlägen war.

Cangas de Onís. Ein Name, der in meinen Ohren gar nicht spanisch klingt. Afrikanisch. Maurisch vielleicht? Im asturischen Dialekt heißt der Ort Cangues d'Onís. Welche Geheimnisse verbirgt wohl ein solcher Name, der in mir Fremde, Exotik weckt? Ich war schon einmal hier, vor fünfzig Jahren, als ich mit dem Auto zum ersten Mal Nordspanien bereiste. Ich hatte einen VW-Variant umgebaut, sodass man auf der Ladefläche schlafen konnte. Nora und ich haben an einem der Covadonga-Seen übernachtet. An welchem? Vielleicht war es der Lago Enol. Wir waren nicht allein am See, es waren noch andere da, hatten ihre Zelte aufgebaut. Irgendwer spielte Gitarre. Das magische Licht der Abenddämmerung bleibt mir für immer. Ein flacher See, eine Bergwiese, eingerahmt von hoch aufragenden Felswänden. In der aufziehenden Dunkelheit ein fahles, unwirkliches Panorama, als das letzte Licht der Sonne noch einen Augenblick über den Bergspitzen schimmert. An mehr erinnere ich mich nicht.

Aber dieses Bild hat sich mir lebhaft eingeprägt. Nach all den vielen Jahre sehe ich es noch immer deutlich vor mir. Warum gerade an dieses Detail? Ich erinnere mich an nichts anderes mehr so deutlich von dieser Reise. Irgendetwas schwer Bestimmbares hat mich fasziniert, dass ich die Namen Cangas de Onís und Covadonga nie mehr vergessen habe. Von ihrer Bedeutung für das Schicksal Spaniens wusste ich damals noch nichts als an diesem See von Covadonga übernachtete, und die diffuse Vorstellung von einer magischen Landschaft mit nach Hause brachte. Überhöht und idealisiert in meiner Erinnerung.

Pelayo. Oder Pelagius, wie sie ihn später lateinisch nannten, was im Mittelalter in den Kreisen von Klerus und Adel üblich war, die noch im Schatten der Westgoten standen. Pelayo. Ein spanischer Nationalheld wie El Cid. Sieger von Covadonga. Erster König von Asturien, ein Mann, der im Schatten der Vergangenheit kaum sichtbar ist. Ein König, verehrt und umstritten, schwankend zwischen historischer Realität und Legende. Pelayo, ein asturischer Arthur. Pelayo, ein Faktoid?
Ich traf Pelayo zum ersten Mal in Gijón auf der Plaza del Marqués im Stadtteil Cimavilla. Eine Bronzestatue aus dem Jahr 1891, gestaltet von José María López Rodríguez. Sie zeigt Pelayo mit erhobenem Schwert und dem Cruz de la Victoria, dem Siegeskreuz, dem Wappen Asturiens. Die Statue besteht aus dem Metall erbeuteter Kanonen aus dem Marokko-Krieg in den Jahren 1859–1860. Jahre später traf ich Pelayo zum zweiten Mal in auf dem Vorplatz der Basilika von Covadonga, wo die imposante Bronzestatue des Bildhauers Gerardo Zaragoza von 1964 an ihn erinnert.

Auch sie zeigt Pelayo mit dem ikonischen Siegeskreuz, die Hand gebieterisch erhoben, nahe der berühmten Grotte, der Santa Cueva de Covadonga, in der er auch begraben ist. Die Santa Cueva ist ein bedeutendes Heiligtum in Asturien in der sich eine Kapelle mit einer Statue der Jungfrau von Covadonga befindet, die als La Santina verehrt wird. In den Jahren und Jahrhunderten nach diesem Ereignis wurde eine Legende geboren, die heutzutage Pelayos Vita überschattet, denn dass er gelebt hat, daran zweifelt auch die Geschichtswissenschaft nicht. Chronisten wie Alfonso III. beschrieben die Schlacht von Covadonga als einen göttlich unterstützten Sieg: Der Legende nach erschien die Jungfrau Maria dem asturischen Heerführer Pelayo und stärkte die moralische Kraft seiner kleinen Streitmacht, sodass feindliche Pfeile und Steine, die auf die Christen geschossen wurden, von der Höhle von Covadonga (der Santa Cueva) abprallten und die Mauren selbst trafen. Seitdem wird die Jungfrau von Covadonga als Schutzpatronin Asturiens verehrt.

Der kleine Sieg eines Rebellen wurde zum Beginn eines Heiligen Krieges, der die christliche Rückeroberung, die Reconquista, einleitete. Aus einem lokalen Anführer mit einer kleinen Schar von Kämpfern, wurde der erste König des neuen Königreichs Asturien. Und aus einem kleinen Scharmützel in den Bergen wurde der Ausgangspunkt einer Jahrhunderte währenden christlichen Rückeroberung Spaniens.

Zuerst bin ich enttäuscht über die Wanderoute, die geplant gestern habe. Ich gehe durch einen Park auf dem befestigten Uferweg am Río Sella entlang. Der Wasserstand ist niedrig, obwohl Frühling ist, und er aus den Picos de Europa herabfließt. Wo ist all das Schmelzwasser? Hat die Biskaya es bereits verschluckt. In der Flussmitte eine Kiesbank; am anderen Ufer die Häuser von Arriondas. Statt am Ufer entlangzustreifen, gehe ich auf einer Landstraße durch einen Vorort von Arriondas hinauf in die Berge. Immer höher hinauf, bis die Berge, die den Río Sella in ein enges Tal zwängen, schroff in den Himmel ragten. Über den steilen Hängen reichen schneebedeckte, felsige Gipfel bis weit über die Baumgrenze. Den Asphalt der Landstraße wurde ich erst in dem Weiler El Cable los, wo ich an einer Kapelle unerwartet über einen Waldweg stolpere, der zum Camino de Los Sanctuarios nach Covadonga gehört. Den Eingangsbereich der Kapelle versperrt ein eisernes Gitter und das Gebäude ist in keinem guten baulichen Zustand. Rundherum gibt es weitere Ruinen, die seit langem verfallen. Der Weg führt um die Kapelle hinunter in einen Wald. Es wird schattig, gut zu gehen und zunehmend abschüssiger. Die Berge, die eben noch die Szenerie beherrschten, verschwinden hinter Bäumen. Plötzlich scheint es, als ob die fantastische Bergwelt, an der ich mich nicht sattsehen kann, nur ein Traum war, der mich aus der Monotonie den drei Wochen des Camino Francés für einen Moment erlöste. Der Weg verlässt den Wald so plötzlich wie er in ihn abgebogen ist. Die Welt öffnet sich ein weiteres Mal auf Bergwiesen, wo Rinder und Schafe die hohen Gräser und bunten Blüten abweiden.

Am Fuß einer gigantisch aufragenden Felswand, halb zwischen wild wucherndem Strauchwerk verborgen, steht einsam das romanische Monesterio de San Pedro. Ein graues Pferd beäugt mich neugierig, und Hunde hinter den Zäunen einzelner einsamer Höfe bellen mir hinterher. Der Weg schlängelt sich zwischen eingezäunten Weiden hinab nach Villanueva zurück an den Río Sella. Am Ortseingang entsteht ein neuer Kreisverkehr. Straßenarbeiter malen Fahrbahnmarkierungen und Zebrastreifen auf. Die frisch auf dem Asphalt aufgetragene weiße Farbe leuchtet in der Sonne, der die sich auflösenden Wolken das Firmament überlassen haben. Villanueva ist mehr ein Weiler als ein Dorf, aber malerisch am Ufer des Río Sella gelegen.

Mitten im Dorf, von allen Seiten von Häusern bedrängt, steht ein traditioneller Hórreo, der erste, auf den ich auf dieser Reise treffe. Diese Speicherbauten, Getreidekästen, charakteristisch in Asturien und Galicien. Sie sind aus Holz und Stein gebaut und stehen auf steinernen Pfeilern, die mir bis an die Brust reichen, und auf denen eine großen Steinscheibe liegt. Auf diesen Mäusepfeilern liegt der Speicherboden, in dem die Feldfrüchte vor Nagern sicher sind. Kleinere Hórreos wurden einst von einer oder zwei Familien genutzt; größere Speicher waren dörfliche Gemeinschaftsspeicher. Heutzutage sind nicht mehr im Gebrauch, werden als Merkmal kultureller Identität geschätzt und gepflegt und gelegentlich als Wohnraum umgebaut. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber die Bewohner, denen ich begegne oder die vor ihren Häusern in der Sonne sitzen, beäugen mich misstrauisch und erwidern meinen Gruß nicht. Auf einer Kiesbank im Río Sella wirft ein Angler seine Angel aus, und die Schnur zieht eine Schlinge durch die Luft.

Nach Cangas de Onís ist es nun nicht mehr weit. Der Weg bleibt auf dem Flussufer und sein Rauschen begleitet mich, mal leise gurgelnd, mal tosend über Stromschnellen. Im Lied des Sella klingen Erinnerungen an. Mir fallen meine Flusswanderungen mit Freunden im Kajak und meinem Sohn im Canadier ein. Wie schön wäre es, sich vom schnellen Lauf des Flusses davontragen zu lassen, Richtung und Geschwindigkeit mit wenigen Paddelschlägen zu bestimmen. In strahlendem Sonnenschein erreiche ich Cangas de Onís. Meine Wanderung endet eher absichtslos an der Sehenswürdigkeit von Cangas de Onís, für die die Stadt bekannt ist, und die ihr einen florierenden Tourismus beschert: die Puente romana, die römische Brücke. Obwohl sie als römische Brücke bezeichnet wird, wurde sie in der Regierungszeit von Alfonso XI von Kastilien gebaut (14.Jahrhundert). Wahrscheinlich nennt man sie römisch, da sie an der Römerstraße lag, die Lucus Asturum (Lugo de Llanera) und Portus Victoriae (Santander) verband, und eine frühere, römische Brücke ersetzte. Im Zenith des großen Bogens hängt seit 1939 das asturische Wappenkreuz, das große Kreuz des Sieges, dessen Aufhängung mit der Rückkehr des Bildes der Jungfrau von Covadonga aus Paris nach dem Bürgerkrieg zusammenfiel. Als ich unvermittelt am Fuß der mittelalterliche Brücke von Cangas de Onís stehe, weiß ich wieder, dass ich schon einmal auf den unterschiedlich großen Geröllen, die das Pflaster der steil ansteigenden Brücke bilden, gegangen bin. Ich erinnere mich nicht an den Steinbogen und die Tafel mit der Widmung am Fuß der Brücke, und nicht an den touristischen Rummel. Machen fünfzig Jahre einen solchen Unterschied? Wie damals sitze ich im Schatten unter der Brücke auf den Geröllen, die der Río Sella aus den Picos angehäuft hat, während über mir Touristen auf die Brücke hochsteigen und die über dem Fluss hängende Imitation von Pelayos Cruz de la Victoria fotografieren. Ich denke an Covadonga, wohin ich morgen wandern will, und an die Schlacht, die Pelayo im achten Jahrhundert schlug. Mir gehen Bilder durch den Kopf, vermischt mit all dem, was ich gehört und gelesen habe. Ich sitze ich in einem Kinosaal. Der Río Sella summt mir wie einer der Filmprojektoren meiner Jugend ins Ohr und die Bilder fließen. Meine Gedanken beginnen zu schweifen, lösen sich ins Assoziative, und ich drifte in eine Traumwelt ab. Die Wirklichkeit um mich herum entgleitet mir und ich verliere mich zwischen den Zeiten. Es ist, als würde sich eine Tür öffnen.

Der Wind heulte wie ein verwundetes Tier durch die engen Schluchten von Covadonga. Nebel legte sich wie ein grauer Schleier über die zerklüfteten Felsen, und die schweren Wolken hingen tief, als wollten sie die Berge selbst verschlingen. Der Regen hatte den Bergpfad in einen glitschigen Strom verwandelt. Nebel zog sich wie ein Schleier durch die Tannen, und das leise Rauschen des Flusses wurde vom gedämpften Trommeln sich näherndem Hufschlag übertönt. In einer dunklen Höhle, verborgen zwischen moosbedeckten Felsen, kniete Pelayo im Schatten einer Felswand, von der Wasser tropfte. Die Kälte der feuchten Erde kroch durch seine Finger, klamm und erbarmungslos. Er spürte die Härte des Steins unter seinen Händen, als wollte die Erde selbst ihn zurückweisen. Doch er hielt sich daran fest, als könne er den Boden zwingen, ihm Halt zu geben. Flehend bat er die Jungfrau Maria um Hilfe. Hufschläge hallten wie ein ferner Donner über die Berge. Feinde? Verbündete? In diesen Tagen, in denen die Welt zerbrach, schien jeder Schritt ein Bote des Todes. Er senkte den Kopf, seine Lippen bebten: „Heilige Jungfrau Maria, steh uns bei . . . Sieh nicht weg von uns Verlorenen . . ." Doch in seinem Herzen pochte eine andere Stimme, eine dunklere. War es nicht seine eigene Schuld? Er, Pelayo, der einst als Waffenträger am Hofe des Westgotenkönigs gedient hatte, ein Mann des Reiches, das nun untergegangen war. Ein Reich, das zerbrach, weil es sich selbst verraten hatte – von Gier zerfressen, von Eifersucht zerrissen. Hatten sie die Mauren nicht selbst in ihr Land gelassen, als Werkzeug in ihren endlosen Intrigen?
Er sah auf, hinaus in den Wald, wo zwischen den Tannen eine kleine Schar von versprengten Kämpfern wartete. Männer mit leeren Augen, Männer, mehr Schatten ihrer selbst als Soldaten. Sie waren dem Untergang der Westgoten am Río Guadalete entkommen – oder hatte sie der Tod nur noch nicht eingeholt? Was habe ich ihnen zu bieten? dachte er. Ein Leben auf der Flucht? Ein ewiger Kampf? Der Traum eines freien Asturiens, eines Landes, das wir gegen einen übermächtigen Feind behaupten müssen? Ist es Mut oder bloße Verzweiflung, die mich weiterkämpfen lösst?
„Pelayo!“ Die Stimme seines Sohns Favila riss ihn zurück. Der Junge war kaum mehr als ein Junge, der zu früh zum Mann werden musste. Seine Mutter Ermesinde blickte uns aus verweinten Augen nach, als wir aufbrachen. In Favilas Augen brannte eine Flamme, die Pelayo beinahe beneidet hätte. „Pelayo, was sollen wir tun?“
Er zwang sich aufzustehen. Sie kalte, klamme Erde zerbröckelte im Griff seiner Finger. Er zwang sich, sie loszulassen. Sein Blick suchte seine Männer. Sie hatten alles verloren, und waren ihm doch gefolgt. Warum? Sahen sie einen Führer in ihm ? Oder einfach den einzigen, der es wagte, nicht in die Dunkelheit zu verschwinden? „Wir kämpfen.“ Seine Stimme klang fester, als er sich fühlte. „Wir kämpfen, nicht weil wir siegen müssen, sondern weil wir überleben müssen.“
Noch während die Männer sich sammelten, während Favila mit leuchtenden Augen nach seinem Schwert griff, erstarrte er innerlich. Ein Mann, der ein Reich verloren hatte, und nun für ein kleines Stück karges Land sein Leben einsetzte. Ein Mann, der gegen Schatten kämpfte, die draußen, und die in seinem eigenen Herzen. Seine Männer. Ein Haufen zerlumpter Gestalten, Bauern mit Sicheln, Jäger mit Bögen, Krieger mit rostigen Schwertern. Sie waren wenige, aber ihre Augen leuchteten. Keine Helden, nur Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten.
„Sie kommen,“ keuchte Favila, seine Augen vor Angst weit aufgerissen. „Sie sind zu viele.“
Pelayo schloss die Augen. Ein Gebet flüsterte über seine Lippen, aber es war kein lautes Flehen, nur ein gemurmelter Dank. Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Und er hatte gewusst, dass sie zu wenige sein würden. Ein Häufchen Rebellen gegen das mächtige Heer von Córdoba. Doch das hier war ihr Land. Ihr zu Hause. Langsam richtete sich Pelayo auf, seine Gestalt wuchs in der Dunkelheit. Sein einfaches Kettenhemd schimmerte matt, sein Gesicht war scharf geschnitten, die Augen wie kalter Stahl. Er trat hinaus, seinen Speer in der Hand, seine Stimme stark wie der Nordwind.
„Das sind keine Berge, die uns verstecken! Das sind unsere Mauern! Und wer uns holen will, muss diese Mauern zuerst bezwingen!“
Ein Ruf erhob sich, erst zögernd, dann wie ein Donnerhall.
„Nehmt eure Stellungen ein,“ rief Pelayo, seine Stimme ruhig, als wären sie auf der Jagd. Die Männer kletterten die Hänge hinauf, verbargen sich zwischen den Felsen und dem dichten Unterholz. Ihre Bögen waren einfach, ihre Speere alt und abgenutzt, aber ihre Augen leuchteten mit einem Funkeln, das Pelayo nur zu gut kannte. Der Funke der Verzweiflung.
Die Männer kletterten höher, verbargen sich in den Felsspalten, legten Pfeile auf die Sehnen. Sie kannten jeden Pfad, jeden Stein. Der Wind war ihr Freund, die Schatten ihre Verbündeten.
Wie eine dunkle Flut drängte die maurische Streitmacht in die Schlucht. Eine scheinbar endlose Kette von Speeren und Bannern, die sich durch den engen Pfad wand. Sie waren zahlreich, gut gerüstet, aber auch selbstsicher. Warum sollten sie sich vor ein paar Banditen in den Bergen fürchten? Speere blitzten, Banner wehten im Wind, und die Befehle des Heerführers zerschnitten die Luft.
„Viele? rief Pelayo. „Das ist gut. Dann müssen wir sie nicht einzeln jagen." Worte wie ein Schrei im Wind, eine Maske aus Mut, die er sich aufgesetzt hatte. Doch sein Lächeln glich einer Grimasse. Dahinter brannten Bilder, Erinnerungen, wild wie Flammen, die sich durch sein Inneres fraßen. Guadalete. Wasser, das sich rot färbte, die Schreie von Männern, die untergingen, als wären sie nie gewesen. Der Boden, nass und glitschig vom Blut, die Sonne erbarmungslos, ein gleißendes Auge, das alles sah und nichts vergab. Die Standarten der Westgoten, im Schlamm des Flusses verloren, zerrissen und zertrampelt wie das Reich. Und Roderich, unser König, der mir einst die Hand gereicht hat, den Blick so schwer wie die Krone auf seinem Haupt. Der Mann, den Pelayo Herr genannt hatte, dessen Vertrauen er genossen hatte. Ein König, den er hatte retten wollen und doch nicht retten konnte. Bleib bei mir, Pelayo. Die Worte des meines Königs, fast ein Flehen, die Hände, die nach mir griffen, in der Hast nur Luft fanden. Ich bleibe . . . Habe ich das gesagt? Oder nur gedacht? Der Lärm der Schlacht verschlang jedes Wort. Männer, die fielen, einer nach dem anderen, als wären sie nichts weiter als Ähren im Wind. Und Roderich. Wo war er? War er gefallen? War er geflohen? Die Legenden flüstern von einem König, der im Fluss ertrank, dessen Krone in den Wellen verschwand. Ein Geist, zerrissen zwischen Ruhm und Schande.
Doch Pelayo wusste es besser. Er hatte ihn gesehen, hatte seinen Blick gesehen, einen Mann, der das Ende seines Traums erlebte. Der König war gefallen, ja, aber das Reich war bereits vorher gefallen. Gefallen an Gier, an Verrat, durch die Intrigen der Höflinge, die ihre eigenen Machtspiele mehr achteten als das Land, das sie schützen sollen. Und ich? Waffenträger des Königs, sein Vasall. Ich sah den Bruch kommen, hätte ihn warnen müssen. Habe ich wirklich geglaubt, ich hätte etwas ändern können. Ich, der neben ihm geritten war, der ihm die Standarte reichte, als wir noch glaubten, wir könnten bestehen. Ein Nichts unter den Großen, und ein Zeuge ihres Scheiterns.
„Viele?“ rief Pelayo. „Das ist gut.“ Gut, weil er sich einreden musste, dass der Kampf eine Bedeutung hatte. Dass es nicht nur das letzte Aufbäumen eines sterbenden Reiches war. Aber tief in sich wusste er: Er kämpfte nicht mehr für Roderich. Nicht für das Westgotenreich. Er kämpfte, weil er leben, seinen Sohn beschützen und seine Frau wiedersehen wollte. Und er lebte, weil er kämpfte. Ein Kreis ohne Ende, ein Schrei, der nie verhallte.
Ein Pfeil surrte, ein schneller, tödlicher Schatten. Dann ein zweiter. Ein dritter. Pfeile regneten auf die Soldaten herab wie der Zorn der Berge selbst. Die ersten Soldaten taumelten. Plötzlich brach die Hölle los.
Steine lösten sich von den Klippen, auf die Pelayos Männer sie gerollt hatten, krachten wie donnernde Felsbrocken in die Reihen der Angreifer. Pfeile regneten unablässig aus unsichtbaren Verstecken. Der schmale Pfad wurde zur Todesfalle.
„Haltet die Formation!“ brüllte der maurische Offizier. „Vorwärts! Zerschmettert die Aufständischen!“ Doch seine Worte gingen in den Schreien der Gefallenen unter. Die Schlucht war zu eng, die Hänge zu steil. Panik ergriff die Soldaten. Sie sahen Männer fallen, ohne zu wissen, woher der Tod kam.
Und dann fielen sie wie Wölfe aus dem Nebel über die maurische Armee her, die in der Schlucht feststeckte. Pelayos Männer sprangen brüllend in die Schlucht. Pelayo stürmte aus der Höhle, sein Speer wie ein Blitz in der Hand. Ein Soldat hob das Schwert, doch Pelayo wich aus, rammte ihm die Klinge in den Bauch und trat ihn den Hang hinab. Seine Männer folgten, wie Schatten, die aus den Felsen hervorschossen. Was ihnen an Rüstung und Zahl fehlte, machten sie mit Wut und Verzweiflung wett.
Pelayo führte den Angriff, sein Speer bohrte sich in den Hals eines Soldaten. Ein zweiter schlug auf ihn ein, doch er duckte sich, riss dem Mann das Schwert aus der Hand und trieb es ihm in die Brust.
Alfonso, der Hirte, kämpfte wie ein Verrückter. Sein Messer blitzte auf, ein Soldat sackte stöhnend zu Boden. Neben ihm stand Juan, der alte Jäger, der Pfeil um Pfeil abschoss, als wäre er eins mit dem Berg.
„Zurück!“ brüllte ein maurischer Offizier, aber es war zu spät. Ein Erdrutsch, ausgelöst von der Regenflut, verschüttete den Rückweg. Panik griff um sich. Die Soldaten, die einst in geordneten Reihen marschiert waren, stürzten übereinander. Einige warfen ihre Waffen weg, andere versuchten verzweifelt, den Steinschlag zu überwinden. Viele fanden den Tod, nicht durch Klinge oder Pfeil, sondern unter den Füßen ihrer fliehenden Kameraden.
Stille. Der Nebel legte sich schwer über den Pfad. Blut mischte sich mit dem Regenwasser, als die letzten maurischen Soldaten flohen.
Pelayo atmete schwer, seine Brust hob und senkte sich, aber sein Blick war ruhig. Um ihn herum standen seine Männer, zerlumpt, erschöpft, aber lebendig. Und in ihren Augen sah er etwas, das er nie erwartet hatte: Hoffnung.
„Wir leben noch!“ rief Alfonso, das Lächeln des jungen Hirten war breiter als der Himmel.
„Wir haben gesiegt“, murmelte Pelayo. Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass dies nur der Anfang war. Der Anfang von etwas Größerem.
„Wir leben noch!“ rief Favila, das Lächeln des Jungen war breiter als der Himmel. Seine Stimme zerschnitt die plötzliche Stille wie ein strahlender Pfeil, drang durch das Blätterdach und verlor sich im fernen Murmeln des Waldes. Sie hallte über das blutgetränkte Feld, wo das Klirren von Metall noch in der Luft lag. Rauch stieg in schwachen Spiralen auf, der Geruch von Feuer und Eisen mischte sich mit dem von feuchter Erde.
Pelayo sah ihn an, den Jungen, dessen Augen noch den Glanz des Sieges trugen. So jung. So voller Leben. Ein Kontrast zu der Schwere, die er in sich fühlte.
„Wir haben gesiegt.“ Die Worte kamen kaum als Flüstern über seine Lippen, fast nur für ihn selbst zu hören. Eine Wahrheit, die nicht vollständig in seinem Herzen Wurzeln schlagen wollte. Die Männer jubelten, feierten, doch Pelayo spürte keinen Triumph. Nur Erschöpfung. Nur Leere. Sein Blick glitt über die Toten, die verstreut auf dem Feld lagen. Freunde und Feinde, alle gleichermaßen dahingeschlachtet. Dem erbarmungslosen Urteil des Krieges unterworfen. Ein Zittern durchlief seine Finger, eine Müdigkeit, die über den Körper hinausging, eine Last, die ihn zu erdrücken schien. Wieder dachte er seine Familie. An seine Frau Ermesinda, die ihn mit sorgenvollen Augen verabschiedet hatte, an seine Kinder, die zu jung waren, um die Bedeutung seines Abschieds zu verstehen. War das der Preis, den er zahlen musste, um ihnen eine sichere Heimat zu schaffen? Das Blut an seinen Händen, das Sterben, das kein Ende fand?
„Nur der Anfang.“ Die Worte waren stumm, nur in seinem Kopf. Der Anfang von was? Ein Reich, das auf Leid gegründet war? Eine Freiheit, die durch das Schwert errungen und bewacht werden musste? Favila rannte auf ihn zu, schmutzig, blutbespritzt, aber voller Energie. „Herr, wir haben es geschafft! Asturien ist unser!“
„Ja.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, ein schwacher, brüchiger Versuch. „Asturien ist unser.“
Doch in seinem Herzen fraßen Zweifel an ihm. Wie viele Schlachten würden noch folgen? Wie viele Gesichter würde er noch verlieren müssen, um seinen Traum zu sichern? Würde er selbst eines Tages nur eine verblassende Erinnerung auf dem Schlachtfeld sein? Wir leben noch. Der Satz hallte in ihm nach. Stumm wiederholte er ihn, prüfte seinen Gehalt als würde die bloße Aussprache ihn davon überzeugen können. Doch ein Teil von ihm fragte sich, ob das Leben, das sie gewonnen hatten, wirklich das war, wonach er suchte.

Die Nacht fiel über Covadonga wie ein stilles, samtenes Tuch, das sich über die rauen Gipfel der Picos de Europa legte. Der Himmel verdunkelte sich in einem tiefen, tintenschwarzen Blau, das langsam die letzten blutroten Strahlen der Dämmerung verschluckte. Ein fahler Nebel stieg aus den Tälern auf, wand sich wie gespenstische Finger durch die dichten Tannenwälder, die im Wind raunten und seufzten.
Über den schroffen Felswänden hallte das ferne Rufen eines Uhus wider, ein einzelner, klagender Laut, ein uraltes Geheimnis in die Dunkelheit geworfen. Ein leises Plätschern drang vom Bach herüber, der sich silbrig im Mondschein durch das Gestein schlängelte, während die Wasserfälle von Covadonga mit einem gedämpften, unablässigen Rauschen sangen.
Der Wind wehte kühl und feucht, trug den Duft von nassem Moos und kaltem Stein mit sich, während die Blätter der Bäume raschelten wie geflüsterte Worte. Über den Gipfeln zogen Wolken auf, schwer und träge, verdeckten die Sterne, bis nur ein fahler, schüchterner Mondschein durch die grauen Schleier sickerte.
Das Feuer in der kleinen Höhle am Hang war nicht mehr als ein winziger, flackernder Lichtpunkt in der endlosen Dunkelheit. Die züngelnden Flammen malten zuckende Schatten auf die Felswände, ließ die Gesichter der Männer, die sich um das Feuer versammelt hatten, abwechselnd leuchten und verschwinden. Es knisterte leise, das Holz knackte und warf Funken, die wie Sternenstaub in der kühlen Luft verglühten.
Doch jenseits des Feuers lag eine Finsternis über dem ungewissen Schicksal Asturiens. Ein Land, das so alt war wie die Berge selbst, ein Land, das flüsterte und lauerte. Covadonga, eine Festung der Stille, ein Schlupfwinkel der Hoffnung. Und in der Finsternis, die das Feuer bedrängte, irgendwo zwischen den Bäumen, jenseits des Talkessels, lag Gefahr wie ein Raubtier auf der Lauer.
Pelayo saß still, das Blut seiner Feinde noch an den Händen, doch seine Augen waren ruhig. Um ihn herum versammelten sich die Männer, zögernd, ehrfürchtig.
„Pelayo! Herr!“ rief Favila, sein Gesicht vom flackernden Rauch umspielt, der in träge aufsteigenden Spiralen über dem Feuer tanzte. Seine Augen leuchteten. War es nur das Licht der Flammen oder der Glanz ungebrochener Hoffnung?
„Du hast uns geführt. Du hast uns gerettet. Warum sollten wir dir nicht weiter folgen?“ Die Worte kamen leicht über seine Lippen, als wären sie eine einfache Wahrheit. Und doch pochte in seinem Inneren etwas, das er nicht auszusprechen wagte.
Favila wusste, was Angst war. Er hatte sie in sich aufkeimen gespürt, bitter und kalt, als er neben seinem Vater stand und das Banner der Westgoten fallen sah. Das stolze Heer Roderichs, das wie Strohhalme im Sturm zerbarst. Männer, die ihm einst Geschichten von Ruhm und Ehre erzählt hatten, starben schreiend, während ihr Blut ihre Standarten tränkte. Der große Roderich, ein Schatten, eine Legende, die in den Fluten des Guadalete verschwand.
Aber Pelayo . . . Pelayo war anders. Ein Mann aus Fleisch und Blut. Er hatte ihn zweifeln sehen, kämpfen, bluten. Ein Mann, der nicht durch Kronen oder Legenden geehrt wurde, sondern durch seine Taten. Er war dort gewesen, als die Welt auseinanderbrach. Hatte Favila auf die Beine geholfen, als er in der Panik zu Boden gestürzte. Hatte den Blick erhoben, während andere die Augen schlossen. Aber ist er sich wirklich sicher? flüsterte eine Stimme in ihm. Ist Pelayo nicht auch ein Mann, der zittert, der betet, der sich gegen die Angst lehnt? Ein Mann, der selbst Angst hat? Er ist nur ein Mensch, erinnerte sich Favila. Und doch, lag darin nicht der Grund, ihm zu folgen? Kein Held aus den Sagen, kein König auf einem vergoldeten Thron, sondern ein Mann, der ihre Angst teilte und dennoch weiterging. Er hat uns gerettet, dachte Favila erneut, seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Mit Hilfe der Jungfrau Maria, La Santina, und durch seinen Willen, seinen Mut. Sein Wille brennt heller als die Flammen, die zwischen ihnen tanzen. Wir müssen ihm weiter folgen. Seine Gedanken hallten in ihm nach. Uns bleibt nichts anderes. Weil wir sonst alle nichts sind als Schatten in einem Land, das uns verschlingt. Weil er ein Morgen geben muss.
„Ein König?“ murmelte Pelayo, sein Lächeln bitter. „Ein König über was? Steine und Schatten?“
„Über Hoffnung!“ rief Juan, der alte Jäger, seine raue Stimme wie ein Donnerschlag. „Ein König, der nicht auf einem goldenen Thron sitzt, sondern unter uns kämpft.“ Einer nach dem anderen knieten die Männer nieder, ihre Köpfe gesenkt, die Schwerter vor sich erhoben, ihm entgegengestreckt. „Pelayo! König von Asturien!“
Der Ruf hallte durch die Nacht, stärker, lauter, als hätten die Berge selbst ihn aufgenommen.
Pelayo hob die Hand. „Steht auf!“ Seine Stimme war fest, gemeißelt aus Granit. „Wir haben keine Krone, keine Hallen. Aber wir haben die Beharrlichkeit der Berge in unseren Herzen. Solange wir diese Berge halten, sind wir frei.“

Die Wochen zogen ins Land. Pelayo führte seine Männer und ihre Familien tiefer in die Berge. Ermesindes Haar, vom Wind zerzaust, ihre Hände wund vom Flechten, vom Kochen über dem offenen Feuer. Und ich? Eine Königin? Eine Königin zittert nicht vor der Dunkelheit. Eine Königin sorgt sich nicht darum, ob morgen genug Brot da ist. Eine Königin lächelt und gibt Hoffnung. Nebel, immer nur Nebel, der aus den Tälern kriecht, sich um die Bäume windet, schwer und kalt, als ob ihn der Himmel ausatmet. Ermesinde zog den Umhang fester um ihre Schultern, doch die Kälte saß tiefer. In ihrer Brust. In ihren Gedanken.
Tiefer in die Berge ziehen sie, immer weiter. Ein schmaler Pfad, der sich durch das Felsmassiv schlängelte. Männer mit Äxten, die Bäume fällten. Frauen, die raues Gras zu Matten flochten. Kinder, die zwischen den Felsen spielten, barfuß, ihre Gesichter rußig vom Rauch der Feuer. Ein Dorf, sagten sie. Ein Zuhause. Aber wo konnte dieses Zuhause sein? Holz, das im Wind knarrte. Rauch, der in den Augen brannte. Schlaf auf harter Erde, ohne ein Dach, selbst das Atmen fiel schwer in der Nachtluft. Und Pelayo . . . Ihr Mann, der durch Rauch und die Schatten schritt wie ein Mann, den ein unsichtbares Schwert verfolgte. Sein Blick war hart, seine Hände rau, immer eine Last auf den Schultern. Ein Anführer. Ein Retter, sagten sie. Ein König, flüsterten einige, wenn sie glaubten, sie hörte es nicht. Aber war er das? Ein König? Oder nur ein Getriebener? Und sie? Eine Königin?
Wenn sie Favila ansah, ihren Erstgeborenen, kam die Angst. Wie lange noch? Wie lange, bis der Nebel zu einem Heer aus Stahl wird, bis die Schreie der Wölfe zu Kriegsrufen werden? Was, wenn Pelayo fällt? Was, wenn diese Männer, die ihm jetzt folgen, sich abwenden? Was, wenn das Feuer verlöscht und nichts bleibt als Asche? Sie versuchte ein Lächeln, zwang das Zittern aus ihrer Stimme.
In den Nächten, wenn der Wind durch die Ritzen der Hütte pfiff und Pelayo neben ihr lag, still, doch nie wirklich ruhig, flüsterte sie ein Gebet. Nicht um Ruhm, nicht um Siege. Nur um einen Morgen. Ein Morgen, an dem der Nebel sich hebt. Ein Morgen, an dem das Lachen ihres Sohnes lauter ist als das Dröhnen der Angst.
Der schmale Pfad wand sich wie ein grauer Faden durch das schwer zugängliche Felsmassiv. Nebel lag oft dicht über den Kämmen, verdeckte den Blick auf das Tal, als wäre die Welt außerhalb dieser Berge nur ein ferner Traum. Sie bauten Befestigungen aus Fels und Holz. Bäume wurden gefällt, die stärksten Stämme zu Palisaden gezimmert. Favila, immer mit einem Grinsen auf den Lippen, schwang das Beil mit der Leichtigkeit eines Bauern, doch seine Augen waren wachsam wie die eines Wolfs.
„Sie nennen uns ein Rudel Banditen,“ sagte Favila eines Tages, als er sich das Harz von seinen Händen wischte. In seiner Stimme schwang ein spöttischer Unterton. Darunter lag etwas anderes, Stolz, vielleicht eine leise Hoffnung.
„Gut,“ antwortete Pelayo, ohne den Blick vom Holztor zu nehmen, das sie gerade errichteten „Lass uns die Banditen sein, die ihnen den Schlaf rauben.“
Doch sie waren nicht nur Banditen. Aus den Tälern kamen immer mehr Männer. Zuerst verstohlen, zögernd, misstrauisch. Doch dann, als sie die harten Gesichter derer sahen, die schon bei Pelayo waren, änderte sich ihr Blick. Bauern mit Sicheln, Jäger mit Bögen, ehemalige Soldaten mit Narben auf Körper und Seele.
„Pelayo, wir sind zu viele für eine Höhle,“ sagte Munio, ein breitschultriger Mann mit einem vernarbten Gesicht, der einst Roderich gedient hatte. „Die Frauen und Kinder schlafen unter den Bäumen. Das ist kein Lager mehr. Das ist ein Dorf.“
„Dann machen wir ein Dorf daraus,“ entschied Pelayo.
Und so wuchs Cangas de Onís. Zuerst noch ein Flickwerk aus Hütten, die zuerst aus Zweigen und Moos bestanden, dann aus dicken Holzbohlen. Rauch stieg auf, Feuerstellen brannten auch nachts, und Kinder liefen über den steinigen Boden, jagten zwischen den groben Zäunen hintereinander her, als wären die Schrecken der Welt weit entfernt. Doch die Schrecken waren nah.
„Kundschafter berichten, dass die Mauren in Córdoba uns nicht ernst nehmen,“ erklärte Gil, ein hagerer Mann, der selbst so schnell im Unterholz verschwand, dass man ihn für einen Geist halten konnte. „Ein Statthalter namens Alqama nennt uns Räuber. Unbedeutend. Er schickt keine Truppen. Noch nicht.“
„Noch nicht,“ wiederholte Pelayo, seine Hand ruhte auf dem rauen Holz der Befestigung. „Und wenn sie kommen, dann müssen wir bereit sein.“
Nicht alle waren einverstanden mit Pelayos Führung. In den Schatten der Palisade, wo das Flackern des Feuers die Gesichter verzerrte, schwelte Unruhe.
„Warum Pelayo?“ zischte Munio eines Abends, als die Männer Wein tranken. „Wer hat ihm das Recht gegeben, uns zu führen? Ein Waffenträger, ein Mann ohne Krone. Ein Mann wie wir. Vielleicht besser mit dem Schwert, aber kein König.“
„Wen hättest du denn? Dich?“ stichelte Favila, der immer ein Ohr für solche Gespräche hatte. „Munio, der große Meckerer? Oder vielleicht Gil, der verschwindet, wenn’s ernst wird?“
„Halt den Mund, Favila! Du und dein kindisches Geplapper!“ Munio packte ihn am Kragen, doch Favila lachte nur, als Munios Fäuste an seinem Hemd rissen.
„Pelayo ist der Einzige, der uns zusammenhält. Du willst ihn stürzen? Dann führ uns besser als er.“
Doch Munios Zorn wich einem grimmigen Schweigen. Er ließ Favila los und zog sich zurück, aber die Unruhe blieb. Und Pelayo wusste davon. Spürte die Blicke, hörte die Flüstereien. Jeder Erfolg zog neue Männer an, aber auch neue Rivalitäten. Jeder Mann, der ein Schwert trug, konnte ein Verbündeter oder ein Verräter sein. In Córdoba saßen Männer in seidenen Gewändern, tranken süßen Wein und taten die Kunde aus dem Norden mit einem müden Lächeln ab.
„Ein Aufstand der Berge?“ fragte Alqama, der Statthalter, und ließ eine Dattel zwischen seinen Fingern kreisen. „Was sollen ein paar Hirten und Bauern schon ausrichten? Asturien wird bald wieder ruhig sein.“
Doch in Cangas de Onís blieben die Nächte kalt, und die Wände der Hütten waren dünn. Der Rauch der Feuer brannte in den Augen, und die Wölfe heulten in der Ferne. Pelayo stand oft allein auf einem Felsvorsprung, blickte hinab in das nebelverhangene Tal. Der kalte Wind zerzauste sein Haar. Unter ihm erstreckten sich die Täler, mit Wäldern und Feldern, wie ein grüner Ozean, der in der Ferne im Dunst verschwamm. Sein Blick schweifte über die Berge und Täler, die sich wie Wellen am Horizont verloren. Und fragte sich, ob er wirklich der geeignete Anführer war. Oder war er nur der Mann, der sich weigerte, vor der Dunkelheit zu fliehen. Eines Tages ging es ihm durch den Kopf, „wird dieses Land nicht mehr an den Bergen enden. Eines Tages werden wir frei sein. Und so stand er da, ein König ohne Krone, ein Mann im Schatten der Berge.

So erzählt es die Legende, dachte ich, im Schatten unter der Puente romana sitzend, eine Melange aus Fakten und Fiktion. Pelayo, ein Faktoid? Seine Biografie zerfällt in eine reale Vita und in eine Legende, wie Jahrhunderte später die von Uta von Naumburg, Marilyn Monroe, James Byron Dean, im nur die berühmtesten zu nennen, Ikonen, deren Leben schon zu Lebzeiten zwischen Wahrem und Erfundenem fluktuierte. Norman Mailer hat in diesem Zusammenhang von factoids gesprochen, um die Legendenbildung um amerikanische Schauspieler*innen zu charakterisieren, die aus einem wahren Kern, Beschönigungen und Fantasiegebilden konstruiert werden, darunter unzuverlässige Informationen über Ereignisse oder Personen, die immer und immer wieder wiederholt werden, bis sie als Fakt, als Tatsache, allgemein akzeptiert werden. Zeitgemäß im Rahmen sozialer Netzwerke formuliert: Fake News. So, oder so ähnlich, wie mein Gedankenstrom, wird es sich auch im 8. Jahrhundert zugetragen haben, in der ehemaligen römischen Provinz Hispania, die der letzte Westgotenkönig Roderich gerade erst an die Mauren verloren hatte; in den Jahren um 711 in den schwer zugänglichen Bergen der Picos de Europa, wie das Gebirge jetzt heißt, im Herzen Asturiens.

Die Niederlage der Visigoths am Río Guadalete war vernichtend. Ihr letzter König Roderich fiel in der Schlacht und Westgotenreich, das fast drei Jahrhunderte andauerte, ging im Ansturm der islamischen Araber und Berber unter. Die Reste der westgotischen Streitmacht flohen nach Norden, wo einer von Roderichs persönlichen Waffenträgern, sein Bodyguard (spatharius) Pelagius (Pelayo) ein kleines, unwegsames Berggebiet verteidigen konnte.

Die Puente romana überspannt in einem spitzen Bogen den Río Sella. Cangas de Onís, seit 1908 eine Stadt, liegt am Zusammenfluss zweier Flüsse, des Río Sella und seines Nebenflusses, des Río Güeña, innerhalb des Nationalparks Picos de Europa, wozu auch Covadonga gehört, wo 722 die Reconquista begann. Die Brücke ist eines der Symbole Asturiens und Teil des Stadtwappens, neben dem Cruz de la Victoria, das auf dem umgekehrten, islamischen Halbmond steht, und an den Sieg über die Mauren in der Schlacht von Covadonga erinnert. Das Leitmotiv des Stadtwappens von Cangas de Onís lautet: Minima Urbium Maxima Sedium - die kleinste Stadt war der höchste Sitz, in Anlehnung an die Bedeutung der Stadt im Mittelalter, als sie bis 774 Sitz der Könige Asturien war.

Neben der Brücke steht seit 1994 ein Gedenkstein mit einem Memorandum, das erneut Pelayo ins Spiel bringt, eine Persönlichkeit, die aus Asturien nicht wegzudenken ist: Tras la batalla habida en Covadonga y fundado el reino de los Astures Pelayo estableció su corte en Cangas de Onís que de este modo se con virtió en la primera capital de Asturias. Esta estella conmemor a ese hecho y con ella Asturias testemonia su reconocimiento la ciudad en la que tiene su origen (Nach der Schlacht von Covadonga als das Königreich der Asturier gegründet wurde, gründete Pelayo seinen Gerichtssitz in Cangas de Onís, das auf diese Weise die erste Hauptstadt von Asturien wurde. Diese Stele erinnert an dieses Ereignis, und mit ihr bezeugt Asturien seine Anerkennung der Stadt, die in ihm seinen Ursprung hat).

Abends, wenn die Restaurants erst um acht öffnen, sitze ich wieder allein im Raum. Wieder kommen ein paar Männer Punkt acht, setzen sich an den Tresen, und kommentieren lautstark das Tagesgeschehen, während das TV unbeachtet den Hintergrund beschallt. Alle trinken La Sidra, bestellen gleich eine Flasche; ein Glas zu bestellen scheint nicht üblich. Der Kellner geht von Zeit zu Zeit an die Tische und gießt Apfelwein auf traditionelle Weise ein nach. Dazu hebt er die Flasche mit der rechten Hand hoch über den Kopf, und schenkt den Sidra in hohem Bogen in das Glas ein, das er in der linken Hand hält. Er schaut nicht, ob der Strahl trifft, das scheint ausgemacht, sondern sein Blick ist ins Unbestimmte gerichtet. Zum ersten Mal habe ich dem Schauspiel in Villaviciosa zugeschaut, und mir fasziniert immer wieder nachschenken lassen; mit einem fatalen Ergebnis für die Wanderung am nächsten Tag. Während der Kellner in Arriondas einen fahrbaren Schutzschild hat, in den er das Glas beim Einschenken hielt, gab es so etwas in Villaviciosa nicht. Der Boden klebte von Apfelwein, sodass sich meine Sohlen nur schmatzend vom klebrigen Boden lösten. Das ist La Sidra in Asturias!
Mein letzter Tag in Arriondas. Es regnet schon wieder. Das Straßenpflaster spiegelt vor Nässe. Durch den Ort huschen Menschen eilig hin und her, im Versuch, nicht nasser zu werden als unbedingt nötig. Das Café ist leer. Der Wirt sitzt zeitungslesend an einem der Tische, während seine Frau hinter dem Tresen die Bocadillos für den Tag mit Schinken oder Käse belegt. Ich werde unruhig, warte auf eine Entscheidung, die nicht kommt, wenn ich sie nicht selbst treffe. Ob eine Sache gelingt, erfährst du nicht, wenn du darüber nachdenkst, sondern wenn du es auspobierst. Wo habe ich diesen Spruch gelesen? In einem Kalender? Ich weiß es nicht mehr. Wer hat ihn gesagt? Einerlei. Er motiviert mich und ich breche endlich auf, in meinen Regenponcho gehüllt. Ein letztes Mal nach Cangas de Onís, in die Pelayo-Stadt. Ein weiteres Mal mit Pelayo und dem legendären Cruz de la Victoria im Sinn, dem nationalen Symbol Asturiens. Ein Besuch der Capilla y Dolmen de Santa Cruz und der Ermita San Pedro de Villanueva in der Stadt, beide eng mit der Überlieferung um Pelayo verbunden. Das vielleicht imponierendste Beispiel für eine Inbesitznahme und christliche Umwidmung einer alten Kultstätte ist die romanische Capilla y Dolmen de Santa Cruz in Cangas de Onís.

Die Kapelle wurde auf dem künstlichen Hügel über einem megalithischen Dolmen von Favila, Sohn des Pelayo, und zweiten König von Asturien, und seiner Königin Froiliuba 737 gegründet. Der Dolmen befindet sich im Zentrum des Hügels, unter dem Längsschiff der Kapelle und ist durch eine Bodenöffnung zu sehen. Er besteht aus fünf Steinplatten, die kreisförmig angeordnet sind. An einer Seite gibt es eine torförmige Öffnung, die durch zwei kleinere Steinplatten markiert wird. Vermutlich war das Gebäude die erste Kirche, die nach der islamischen Invasion in Spanien errichtet wurde.

Der Legende nach war die der Ort zur Aufbewahrung eines bedeutenden Symbols religiöser und nationaler Bedeutung der asturischen Geschichte und Kultur Asturiens: ein Holzkreuz, das »Kreuz des Sieges« (Cruz de la Victoria), mit dem Pelayo in der Schlacht von Covadonga gegen die arabischen Besatzer siegreich war. Pelayos Sieg markierte den Beginn der christlichen Rückeroberung Spaniens (Reconquista) von den islamischen Mauren. Dieser Dolmen., erläutert eine Texttafel im archäologischen Museum Oviedo, bedeckt von einem großen Tumulus, bewahrt im Inneren Gravuren und rote Bemalung Erbaut am Zusammenfluss des Río Güeña mit dem Sella, erfüllte er seine Funktion als Grabmal und als Zentrum der sozioökonomischen, politischen und religiösen Organisation des asturischen Ostens (Este dolmen, cubierto por un túmulo de gran tamaño, conserva en su interior gradados y pinturas de color rojo. Construido en la confluencia de Río Güeña con el Sella, cumplió du función como reconto sepulcral y como centro de la organización socioeconómica poltica y religiosa del oriente asturiano). Später, im Jahr 908, ließ König Alfonso III. von Asturien dieses einfache Holzkreuz mit Gold und Edelsteinen verzieren und so entstand das kunstvoll gestaltete Kreuz, das heute als Cruz de la Victoria bekannt ist.

Es wird in der Cámara Santa in der Kathedrale in Oviedo aufbewahrt. In dem Kreuz gibt es Fach für Reliquien, das ursprünglich ein Fragment des Kreuzes Jesu barg. Die lateinische Inschrift auf dem Querbalken lautet: Hoc signo tuetur pius, hoc signo vincitur inimicus - »Durch dieses Zeichen wird der Fromme beschützt, durch dieses Zeichen wird der Feind besiegt.« Eine Inschrift, die sich wahrscheinlich auf eine andere Legende bezieht, die von einem Traum Konstantin des Großen erzählt, in dem er mit den Worten "Durch dieses siege! angewiesen wurde, das Christusmonogramm auf die Schilde seiner Soldaten malen zu lassen. Wie Pelayo in Covadonga besiegte Konstantin seinen Rivalen Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke und wurde zum alleinigen Herrscher im römischen Reich. Und wie die legendäre Überlieferung um Pelayo ist auch Konstantins Vision propagandistische Selbstdarstellung.
Das Cruz de la Victoria, Gelb auf Blau, bildet das offizielle Wappenzeichen der autonomen Region Asturien und gilt als Symbol für den Widerstand gegen die muslimische Expansion und den Beginn der spanischen Nationalwerdung.

Zwei Kilometer außer von Cangas de Onís, an der Nationalstraße N-625 in Richtung Arriondas, liegt ein katholischer religiöser Komplex in Villanueva de Cangas, malerisch am rechten Ufer des RÍo Sella: eine ehemalige Einsiedelei, die Ermita San Pedro de Villanueva. Die Ursprünge des Klosters gehen auf das 8. Jahrhundert zurück, als König Alfons I. der Katholische, Schwiegersohn von Pelayo, eine erste Kirche errichten ließ. Von dieser Ermita sind nur noch die drei Apsiden aus dem 12. Jahrhundert und das romanische Portal mit einem sehenswerten Relief erhalten, für das sich der Weg lohnt.

Die Steinmetzarbeit zeigt eine Szene aus einer bekannten Legende über König Favila von Asturien († 739) zu Pferd, mit einem Falken auf dem Arm, der sich von seiner Frau Froiluba verabschiedet, ihr einen Abschiedskuss gibt, und auf eine Jagd geht, bei der ausnahmsweise der Bär gewinnt. Diese Episode wurde von zeitgenössischen Chronisten als Zeichen seiner Unvorsichtigkeit oder übermäßigen Leichtfertigkeit kritisiert, sodass ein spanisches Sprichwort bis heute an sie erinnert: Espabila, Favila, que viene el oso! - Beeil dich, Favila, der Bär kommt! - das verwendet wird, um jemanden zur Eile oder Vorsicht zu mahnen. Heute ist das ehemalige Klostergebäude in den Parador de Cangas de Onís umgebaut worden, ein staatlich geführtes Hotel, das Gästen die Möglichkeit bietet, in historischer Umgebung zu übernachten, in dem die Kirche der Einsiedelei aber noch immer genutzt wird.

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