der kuss der freiheit
andere welten verspricht
der blick durchs fenster
1 Drei Regentage in Orgíva sind genug. Ich habe mich von der Enge des österlichen Treibens in Granada erholt. Als ich in Orgíva eintraf, ahnte ich nicht einmal, welche Erinnerungen der Ort ans Licht ziehen würde. In einem Zimmer, gerade einmal groß genug für ein Bett, in einem Städtchen ohne jede Spur touristischen Rummels. Ein paar Tage, ohne mich durch Scharen von Besuchern aus aller Welt zu schieben.
Orgíva, die kleine Provinzstadt am Südhang der majestätischen Sierra Nevada, liegt in einer Schwemmlandebene, auf dem Hochufer des Río Chico; nicht verschlafen, aber lange nicht so umtriebig wie Lanjarón mit seinem Kurbetrieb und den vielen älteren Badegästen. Orgívas Charme wirkt versteckt. Er will gefunden werden. Lanjarón gibt sich mondän. Beide Orte beanspruchen, das Tor in die Alpujarras zu sein: für die Durchreisenden, die Wanderer, für die Nostalgiehippies mit ihren Rucksäcken und die Kurgäste mit den großen Rollkoffern. Der fünftausend Seelenort ist ein recht lebendiges, regionales Zentrum mit Markt und Busverkehr zu allen wichtigen Zielen in den Alpujarras, auf halbem Weg zwischen Granada und Almería, die Hauptstadt der Alpujarra Granadina. Orgíva liegt an einem Scheideweg, dort wo sich der Weg in die Alpujarra Alta und Alpujarra Baja gabelt. Hier ist es pauschaltouristenfrei, denn es gibt nichts Aufregendes, nichts zu besichtigen und noch weniger exotische Fotomotive. Einsam stehen die Statuen von zwei Männern neben der Kirche, die in der 1930er Jahren zu Besuch kamen. Sind sie gestrandet wie ich, oder verfolgten sie einen bestimmten Zweck, eine Rast auf dem Weg zur Kur nach Lanjarón. In ihren langen Mänteln stehen sie gelassen neben der Kirche des Sterbenden Christus - Cristo de la Expiración - aus der Bildhauerschule von Martínez Montanés. Aufrechtstehend schauen sie die Straße hinauf, als gäbe es dort mehr zu sehen, als ich erkennen kann. Sie sind schon lange tot und weltberühmt: der Komponist Manuel de Falla und der Dichter Federico García Lorca. Zwei Ikonen der spanischen Kultur. Die Kirche ist stattlich, doch nichts Besonderes, wäre da nicht ihr schöner Glockenklang, der viertelstündlich die Zeit verkündet, denn es ist leicht, sie hier zu vergessen. Für den, der aus den Bergen der Alpujarras kommt, ist die Umgebung uninteressant und langweilig. Er ist so mit den Bildern einer grandiosen Berglandschaft erfüllt, dass es ihm schwer fällt, seinen Blick auf die vielen Kleinigkeiten zu fokussieren, die nichts Spektakuläres, aber viel Einfachheit haben. Sie helfen dem Enthusiasten dabei, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Trotzdem kann mich nichts zum Wandern verführen. Ich bin noch zu sehr beeindruckt. Die Vorstellung, Orgíva und mich weiter träumen zu lassen, gefällt mir.