30 April 2021

Unterwegs auf der Vía de la Plata


Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar
.
Mario Erdmann

Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und Lebensart und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die sich in einer Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist, und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.
An das Fremde denken sie nur in ihren Ferien, wenn ihr Alltag sie für wenige Wochen in eine andere Welt entlässt, die nicht sehr verschieden von ihrer eigenen sein darf. Am besten, das Fremde kommt überhaupt nicht vor, und wenn doch, dann auf Abstand, im angenehmen Grusel fremdartiger Gebräuche, in Welten leicht konsumierbarer Exotik und Magie, die einen angenehmen Kitzel wecken wie die Schauergeschichten eines Gothic-Romans, durch den Vampire, Werwölfe und Untote geistern. Urlaub und kulturelle, soziale Distanz sind meist ein und dasselbe. Nur wenige denken an Landschaft. Dann träumen sie von einen Strand aus feinem Sand, an dem sich Wellen brechen, die den Badenden angenehm wiegen, von einer Hotelterrasse mit Blick auf ein majestätisches Bergmassiv, wenn möglich schneebedeckt, von einer geführten Radtour auf markierten Wegen durch die Umgebung oder dem Blick aus dem Korb eines Heißluftballons, in einer Hand das Glas Sekt, während sich die andere an der geflochtenen Reling festhält, den angenehmen Schwindel genießend. Wichtig ist, es muss bequem sein. Es ist Urlaub, und Urlaub ist die verdiente Pause der alltäglichen Routine. Doch gerade die Mittel, die sie für ihre Begegnung mit der Kulturlandschaft, in der sie sich befinden, benutzen, verhindern, dass sie tiefer in sie eintauchen, um ihre Andersartigkeit zu entdecken, um sie zu verstehen. Die Gelegenheit persönlicher Entwicklung, die jeder Aufenthalt in der Fremde bereithält, ist verpasst. Ihre daheim zurückgelassene Kulturlandschaft umgibt sie in ihren Wohngebieten wie ein Gürtel vermeintlicher Ursprünglichkeit, der sie von der Natur der Landschaft abschottet. Das Zeitalter des Ferntourismus mit seinem modernen Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wie möglich mit dieser Fremde bekommt, denn er findet dort nur seine eigenen Erwartungen wieder. So fühlt er sich auch in der Fremde zu Hause fühlen. Der Tourist ist vom Exotischen seines Ziels fasziniert. Der Wanderer hinterfragt sich in der Bewegung. Er setzt sich kritisch mit sich selbst und seinen Wahrnehmungen auseinander. Man kann auch sagen: Er reflektiert beim Gehen! Während der Tourist sich mit voyeuristischem Blick gedankenlos in der Fremde bewegt und seine Heimat mit sich nimmt, gehört der Wanderer zu keinem Ort. Touristen wissen nicht, wo sie gewesen sind, vermutet deshalb Paul Theroux, Reisende wissen nicht, wohin sie gehen. Ein Verständnis für die eigene Kultur, für sich selbst, entsteht erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Es ist unmöglich, sich selbst als Subjekt zu erkennen. Dazu brauche ich andere Subjekte als ein Gegenüber, als Differenz, die Verschiedenheit der anderen, von denen ich mich unterscheiden und erkennen kann. Ein mitunter gefährliches Unternehmen, denn es verändert das Eigene mit der Gefahr, dass man es nachher nicht mehr wiederfindet. Jede Wanderung in einer fremden Landschaft birgt diese Gefahr, sich zu verirren, im schlimmsten Fall sich in der feindlichen Natur zu verlieren. Kultur und Natur sind in unserer Epoche zu einem Gegensatz geworden, der die vermeintliche Sicherheit der Wohnung mit der Unheimlichkeit des unstrukturierten Außen kontrastiert. Nur auf den ersten Blick ein befremdliches, gar absurdes Bild. Wer will sich schon bewegen, sich verändern, und wozu überhaupt, wenn er sich erst einmal komfortabel eingerichtet hat. Wenn ich bedenke, dass sich mein emotionaler und kognitiver Horizont mit jeder Fußreise erweitert, dann verstehe ich, was Mario Erdmann meint. Meine kulturelle Prägung wirkt wie eine getönte Brille, durch die ich das Eigene im Fremden um mich herum nur verfremdet wahrnehmen kann, gleichgültig ob es zu meiner eigenen oder zu einer anderen Kultur gehört. Wenn es mir gelingt, wenn mein Mut ausreicht, und ich diese Brille eine Zeitlang abnehme, sie am besten gleich zu Hause lasse, dann gewinne ich die neuen Einsichten, die das Fremde für mich bereithält. Gelingt es mir sogar, mich für dieses Fremde zu öffnen, kann ich mich verändern und als Person wachsen. Auf den Jakobswegen trifft man viele Menschen, doch den wenigsten ist bewusst, dass sie nur aus diesem einzigen Grund unterwegs sind. Es macht keinen Unterschied, ob sie reflektiert wird oder unreflektiert bleibt, eine persönliche Veränderung findet wegen der Liminalität einer Fußreise immer statt.

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Die Silberstraße, die Vía de la Plata, auch Ruta de la Plata genannt, ist ein Kulturdenkmal. Keins, das für sich genommen Weltkulturerbe ist. Doch als Jakobsweg ist sie es ohnehin. Sie ist der Weg von Sevilla nach Santiago de Compostela. Im Mittelalter benutzten die im Süden Spaniens lebenden Christen diese Strecke, um eines der bedeutsamsten Pilgerziele des Christentums zu besuchen, das Grab des Apostels Jakobus, einer der Lieblingsjünger von Jesus von Nazareth. Ruta hieß diese Straße zuerst, bis sie im modernen Spanisch zur vía wurde. Sie wird fälschlich als Silberstraße bezeichnet, plata, Geld, Silber, weil die Römer und später die Spanier auf diesem Weg den Handel zwischen der Nord- und Südküste organisierten. Doch der Name Ruta ist nur ein Rest des Arabischen ruta ba`latta, breiter Weg, den die nach Norden vordringenden Mauren als Hinterlassenschaft der Römer vorfanden. Teile der Vía de la Plata heißen Camino Mozárabe, weil die unter maurischer Herrschaft lebenden Christen sie benutzten. In den 1990er Jahren ist dieser Pilgerweg wiedereröffnet worden. Mittlerweile gibt es ein dichtes Netz von Herbergen, eine vollständige Wegmarkierung und zahlreiche Pilger aus allen Herrenländern. Die Vía verläuft heutzutage weitgehend parallel zur Nationalstraße N 630, weicht dieser aber beharrlich auf kleine, verkehrsarme Nebenstraßen, Wirtschaftswege, Wiesen- und Waldwege und einfache Pfade aus, durch Sierra und Meseta, durch Täler und über Mittelgebirge, auf den Überbleibseln eines alten Wegs. Das Profil der Landschaft hat sich nicht sehr verändert. Die Hochebenen, Flusstäler und Berge sind die gleichen geblieben; unterwegs immer wieder Reste der alten Kulturen. Alles andere ist verschwunden. Nichts ist mehr so, wie zu Zeiten der Römer, als im zweiten vorchristlichen Jahrhundert Legionäre, Händler und Bürokraten zur Eroberung der iberischen Halbinsel auf diesem Weg nach Nordens zogen. Ich wandere auf diesem alten Weg durch ein modernes Spanien, der Weg vielfach überbaut, unterbrochen und unauffindbar verloren. Ich hoffe auf eine Landschaft, in der sich Naturschönheit und Begegnung, Kunst und Geschichte abwechseln; unter meinen Füßen die Spuren meiner Vorgänger, seit Jahrhunderten. Ich würde mich wundern, nichts von ihnen zu spüren, flößen mir doch schon die fast tausend Kilometer der Vía de la Plata erheblichen Respekt ein.

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Seit vier Tagen wandere ich auf der Via de la Plata immer weiter nach Norden. So wird es noch lange bleiben, denn die Vía wechselt bis Galicien, fast schon in Ourense, nicht die Richtung. Noch bin ich weit im Süden: Sevilla, Guillena, Castilblanco del Arroyos, Alamdén de la Plata - ungefähr zwanzig Kilometer täglich, durch Sonne und Regen; meistens aber durch Regen.
Heute Nachmittag endet mein Weg in einem kleinem Dorf; ein zentraler Platz, schmale, kopfsteingepflasterte Gassen, die eingeschossige Häuser säumen. Mitten durch den Ort führt eine breite Straße, von der man wissen muss, dass es die Hauptstraße ist, weil sie nicht so wirkt. Sie ist die Verbindung mit der Außenwelt. El Real de la Jarra. Ein weiterer Name aus dem Märchenbuch. Wörtlich ins Deutsche übertragen, der echte Krug, ein Name, der auch an Königliches denken lässt: real. Warum trägt dieser Ort diesen Assoziationen weckenden Namen? Ich weiß es nicht. Eine Legende? Vielleicht die Überlieferung dessen, was sich hier einst zugetragen hat. Unwillkürlich erinnert mich der Name an Kleists Lustspiel Der Zerbrochene Krug.
Ich bin nicht so erschöpft wie gestern. Ich habe mein Quartier bereits bezogen, ein Bett in dem kleinen Schlafsaal eines Zweifamilienhauses in der Dorfmitte. Mehr Platz bekomme ich nicht. Keine Privatsphäre. In den nächsten Wochen findet mein ganzen Leben in der Öffentlichkeit statt. Mir ist das vertraut. Ich habe mich schon einmal daran gewöhnt, als ich mehrere Jahre in Timor gelebt und gearbeitet habe. Privatheit, die eigenen vier Wände, hinter die sich die Menschen der westlichen Welt zurückziehen und isolieren, ist ein Nachteil für ein soziales Miteinander. Der Unterschied zwischen Europa und Indonesien ist das Primat des Individualismus. Immer ist es die Sprache, die die Weltanschauung entlarvt. Während der Europäer ich sagt, sagt der Indonesier wir.
Die Tochter des Hauses, eine Dorfschönheit mit langen schwarzen Zöpfen, steigt mit mir die schmale Treppe hinauf ins ausgebaute Dachgeschoss. Ich lege meinen Rucksack auf das letzte freie Bett, und lasse mich zufrieden auf die Matratze sinken. Auf dem Feldbett gegenüber sitzt eine grauhaarige Frau mit karierter Bluse und lächelt mir freundlich zu. Zum ersten Mal treffe ich Camille aus Toulouse.
Später sitze ich nach der vergleichsweise kurzen Etappe entspannt in der Café-Bar El Chali und trinke einen dieser kräftigen aromatischen Milchkaffees, denen ich nicht widerstehen kann. Real, denke ich, es stimmt wirklich! Ein spanisches Bouquet! Im Café lärmen die Männer in einer infernalischen Lautstärke, die ich nur durch gelassenes Weghören ertragen kann. Die Unterhaltung ist so reich an theatralischen Minen, unterstützt durch weit ausholende Gesten, dass ich manchmal denke: Jetzt schlägt einer von ihnen gleich zu! Vielleicht der Mann mit dem hochroten Kopf oder der, dessen geballte Fäuste auf dem Tresen liegen. Doch dann beruhigen sie sich wieder, lachen herzhaft, und die Unterhaltung kreist ums nächste Thema, zur nächsten affektiven Entladung. Schade, dass ich kaum etwas verstehe. Meine Spanischkenntnisse reichen für das Lebensnotwendige: essen, übernachten und orientieren; ein holpriges Gespräch, kaum Small Talk zu nennen. Zwischen den Tischen schnüffelt ein Hund wie ein Staubsauger nach was weiß ich was über den Boden. Draußen zieht der nächste Regen auf, und ich frage mich, ob ich trocken in die Herberge zurückkomme. Zum ersten Mal seit Tagen sind die Schuhe nur noch feucht und grob vom Matsch befreit.

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Ich habe es geschafft, und bin früh aufstanden. Das war vor vier Tagen. Ich gewöhne mich an die täglichen Kilometer meiner Fußreise. Morgens um sieben Uhr bin ich in Montequinto aufgebrochen, zur Metro gegangen, um nach Sevilla zu fahren. Im Haus ist es still. Manuel und Carmen schlafen noch. Auch von ihrem kleinen Hund ist nichts zu sehen. Ich schreibe meinen Dank zum Abschied auf einen Zettel, den ich aus meinem Notizbuch reiße. Nicht sehr stilvoll, eine Alternative habe ich nicht. Das Wetter macht einen ruppigen Eindruck. Der Himmel ist mit dichten, dunkelgrauen Kumuluswolken überzogen. Als ich in Sevilla aus der Metro auftauche, haben sie sich zu einer grauen, undurchsichtigen Decke zusammengezogen. Die Sonne, die sich eben noch zwischen die Wolken zwängte, scheint jetzt anderswo. Über Sevilla ziehen unheilverkündend schwarze Wolkenbänke auf.
Nachdem sich die Sonne verabschiedet hat, fahre ich mit dem Bus nach Santiponce. Es ist mir nicht peinlich, meine Pilgerreise mit einer Busreise zu beginnen. Ich hasse die autoritären Regeln des Fundamentalismus. Das ist der Grund, warum ich für den Katholizismus nicht geeignet bin. Ich brauche mehr Freilassendes. Ein Pilger muss ich nicht erst werden, der bin ich schon mein Leben lang; wenn auch nicht auf konfessionelle Weise. Zu pilgern bedeutet für mich, einem inneren Impuls nachgeben, einer Sehnsucht nach etwas ganz Anderem, einem psychischen Prozess folgen, von dem ich noch nicht weiß, wo er mich hinführt. Mehr bedeutet es mir nicht, wenn es heißt: Der Weg ist das Ziel. Pilgern hat ursprünglich nichts mit Konfession zu tun, eher schon mit Religion, die auch Spirituelles und Mystisches umfasst. Das Abenteuerliche einer monatelangen Fußreise, das Unvorhersehbare, die Herausforderung, verlockt mich. Meine Fußreise beginnt mit dem Besuch der ersten und bedeutendsten Römerstadt auf der iberischen Halbinsel, dem Ort, von wo die römischen Legionäre nach Norden aufbrachen: um zu erobern, zu handeln, zu verwalten, den vermeintlichen Barbaren ihre überlegene Kultur zu bringen. Die Arroganz des Imperialismus hat viel mit kulturellem Selbstverständnis und weniger mit Respekt vor anderen zu tun. Dazu braucht es, ich habe das erklärt, Neugier und eine angstfreie Offenheit. Ich will sehen, was von Roms eingebildeter Überlegenheit übriggeblieben ist, ob es etwas gibt, das die Zeit nicht ausradieren konnte. Auf der gleichen Straße wie die Legionen werde ich in den nächsten Monaten wandern, nur mit dem, was in meinen Rucksack passt, dort rasten, wo ich abends ankomme. Kein primitives Feldlager wie das die Legionäre, etwas komfortabler schon, und auch mit weniger Gepäck. Ich hoffe auf eine Herberge mit einem Bett und einem Dach über dem Kopf.
Am Stadtrand von Santiponce steige ich aus dem Bus, dort wo die Landstraße nach Itálica abzweigt, und schultere meinen Rucksack. Nicht weit entfernt von der Vía de la Plata, die römische Sklaven und Legionäre durch das antike Hispania gebaut haben, liegen die Ruinen einer antiken römischen Stadt. Unmittelbar vor den Toren von Sevilla. Ich will Itálica sehen, die untergegangene Stadt, am Ausgangspunkt der Vía de la Plata. Während des zweiten punischen Krieges, im Jahr 206 v.u.Z., gründete Publius Cornelius Scipio Africanus einen Stützpunkt am Guadalquivir, der Sevilla mit dem Atlantik verbindet; ein Hafen für militärische und wirtschaftliche Zwecke. Scipio, Staatmann der Römischen Republik und talentierter Feldherr, besiegte einige Jahre später Hannibal in der Schlacht von Zama. Dieser Sieg brachte ihm den Ruf eines der besten Kommandeure der Militärgeschichte und den ehrenvollen Beinamen Africanus ein. In der Schlacht von Ilipa setzte er erstmals die sogenannte Treffentaktik ein, die bis in die jüngste Vergangenheit üblich war. Mit dieser militärischen Strategie, die einzelne Truppenteilen hintereinander aufstellte, sodass sie sich gegenseitig unterstützen konnten, gelang es Scipio, Hannibals Bruder Mago vernichtend zu schlagen. Die Vorherrschaft der Karthager über Hispania war beendet. Nach der Schlacht bezog Scipio seine Stellung in einer turdetanischen Siedlung, wo er einen Militärposten für verwundete Soldaten einrichtete. Die Turdetaner, die Herodot in seinen Historien erwähnt, waren eine vorrömische, iberische Ethnie, die im fruchtbaren Tal des Guadalquivir siedelte. Bereits romanisiert stellten sie sich 237 v.u.Z. in der Schlacht am Río Tinto, Hamilkar Barkas, dem Vater Hannibals, entgegen. Im Interesse Roms sicherten sie die flussaufwärts liegenden Silber- und Erzminen, deren Erträge die Karthager für ihre Reparationszahlungen nach dem verlorenen ersten punischen Krieg an Rom nutzen wollten.
Scipios Gründung entwickelte sich zu einem wichtigen Zentrum der Romanisierung der Iberischen Halbinsel. Spätestens seit der Regentschaft von Gaius Julius Caesar besaß Italíca den Status eines Municipiums, einer von Rom abhängigen Stadt. Die Nachbarschaft von Hispalis, dem heutigen Sevilla, deutet darauf hin, dass Italíca ein Verwaltungszentrum war, Hispalis dagegen als Handels- und Wirtschaftsplatz diente. In den Jahren der römischen Kaiser Trajan und Hadrian, die beide in Italíca geboren wurden, erlebte die Stadt eine Blütezeit, konnte sich aber in den folgenden Jahren wirtschaftlich und politisch nicht behaupten und verlor an Einfluss. Die Westgoten nutzen Italíca als Festung, später als Bischofssitz, doch erst die Feldzüge der Mauren in Al-andalus leiteten den Niedergang der Stadt ein. Die fast tausendjährige Geschichte Italícas endete als Steinbruch für die Bauten einer anderen, nicht weniger glorreichen Epoche. Ausgrabungen setzten bereits im 18. Jahrhundert ein. Im folgenden Jahrhundert entstand der Parque Arqueológica, in dem die Ruinen heute liegen. Den größten Teil des prähadrianischen Italíca bedeckt das moderne Santiponce, sodass lediglich die Stadtviertel, die unter Kaiser Hadrian angelegt wurden, archäologisch erschlossen sind. Die Neustadt bedecken die umliegenden Felder. Mir scheint die wechselvolle Geschichte dieser Stadt als Metapher einer Reise: ihre heroische Phase, ihre wirtschaftliche und politische Konsolidierung und ihr Ausklang.
Der Himmel hat sich mittlerweile in ein eintöniges, konturloses Grau gekleidet. Es nieselt, als ich in der Ruinenstadt eintreffe. Ich lege meinen Rucksack in eine trockene Nische am Eingang des Amphitheaters ab, und klettere die steinigen Ränge hoch. Tief unter mir liegt das sandige Oval der Arena, in der sich einst wilde Tiere und Gladiatoren zu Tode bluteten. Steil übereinander liegende Zuschauerränge umrunden die Konstruktion des Anfiteatro de Italíca, die nach oben hin i mmer breiter ausgreifen. Zwei Ränge sind geblieben, der dritte wurde im Lauf der Zeit abgetragen. Doch auch an den erhaltenen Steinsitzen hat der Zahn der Zeit genagt, und einen bequemen Platz finde ich nicht, die mittlerweile ohnehin zu nass sind, um auf ihnen zu sitzen. Weit unter mir, im Zentrum des Theaters, befindet sich eine offene, quadratische Grube, aus der an zwei Seiten eine Rampe nach oben führt. Die Stützpfeiler, die einst das Dach trugen, ragen nun wie unnütze Säulen aus der Tiefe. Die Käfige der Tiere und die Räume der Gladiatoren befanden sich unter dem Amphitheater. Über die beiden Rampen traten die Kombatoren ins Sonnenlicht, von jubelnden Zuschauern empfangen. Das Oval des Amphitheaters erinnert an die Stierkampfarenen des modernen Spaniens, deren Sand sich noch immer rot färbt. 25 000 Besucher verfolgten zur Blütezeit der Stadt die Spiele in der drittgrößten römischen Arena. Die HBO-Serie Game Of Thrones machte das Amphitheater von Italíca am Ende der siebten Staffel im August 2018 weltweit bekannt. Die Bedrohung aus dem eisigen Norden des Kontinents Westeros zwang die verfeindeten Allianzen zu einem temporären Bündnis. Drehort für die Versammlung: der archäologische Park mit den römischen Ruinen. Im Hintergrund ragt ein Gebäuderest auf, ein zerbrochener Kamm, deren leere Fenster ins Nirgendwo blicken. Die Erhöhung der Wand durch eine 3-D-Computeranimation, Computer Generated Imagery, hebt diesem Teil des Amphitheaters ins Fiktive, und weckt zugleich den Nimbus vergangener Größe. Die zentrale Grube verdeckt eine Tribüne, auf der die Handlung stattfindet. Nur eine der beiden Rampen, die aus dem Bauch des Theaters in die Arena führen, ist zu sehen, als Sandor Clegane der Gesellschaft eine Überraschung präsentiert. Die Stimmung unter den Protagonisten ist angespannt. Hass, Missgunst und Neid sowie das Misstrauen, das sie verbindet, vergiftet die Atmosphäre. Obwohl die Kulisse im hellen Sonnenschein des spanischen Südens liegt, umgeben vom Grün des Parks, wirken die Fragmente des Amphitheaters unheimlich und bedrückend. Die Trostlosigkeit der Ruine erinnert zu sehr an die vergangene Pracht des Gebäudes und an das Lebens, das sie einst erfüllte.
Cardus Maximus heißt die breite Hauptstraße, an der mehrere Patrizierhäuser erhalten sind. Die künstlerische Qualität der gut erhaltenen, farbigen Bodenmosaiken im Inneren ist unbeschreiblich: Vogeldarstellungen, Raubkatzen, monochrome Mosaiken von kleinwüchsigen Gestalten, eine von ihnen mit erigiertem Penis über einem Krokodil, eine andere mit einem Kranich, Jagdszenen vielleicht; Pfauen und anderes Geflügel, mit prächtigem Gefieder; fremdartige Pferde mit Schlangenleib. Ein Porträt von Bacchus aus farbigen Steinchen. Der Gott des Weins und des Rauschs trägt einen Kranz aus Weinlaub auf dem Kopf. Immer wieder Partien mit abstrakten Motiven, umgeben von floralen Ornamenten und Symbolen, deren Bedeutung mir verborgen bleibt.
Den Fußboden eines der Herrenhäuser schmückt ein Planetenmosaik aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, aus spätrömischer Zeit. Das Haus ist ein Wohngebäude mit mehreren Zimmern und Wirtschaftsräumen, fast 1 600 Quadratmeter groß. In das Mosaik sind die Büsten der sieben klassischen Planetengottheiten der Astrologie in umlaufenden Medaillons angeordnet. Nicht nur ästhetische Funktion, nicht allein bloßer Schmuck, besaß das Dekor eine astrologische, vielleicht auch eine kalendarische Bedeutung für die Bewohner des Hauses. Es ist ein Astrolabium, die scheibenförmige Darstellung des sich drehenden Himmels, mit den sieben Herrschern des Zodiaks, des astrologischen Tierkreises, in ihren eigenen Häusern, und bildet den römischen Sieben-Tage-Kalender mit seinen astrologischen Entsprechungen ab.
Die Namen der sieben Wochentage gehen auf die astronomischen Beobachtungen und Berechnungen der Babylonier und ptolemäischen Ägypter zurück, von denen sie die Römer im ersten vorchristlichen Jahrhundert übernommen haben. Es handelt sich um eine Innovation, die die fortschrittlichen Erbauer des Hauses ins Bild setzten. Das ptolemäische Weltbild, benannt nach dem Astrologen Claudius Ptolemaios, nahm an, dass die Erde eine Scheibe ist, um die sich die Sonne und die Planeten, die Wandelsterne, vor dem Hintergrund des Tierkreises drehen. Die jahreszeitliche Position und Bewegung der sieben mit bloßem Augen sichtbaren Planeten, zu denen auch Sonne und Mond gezählt wurden, waren seit langem bekannt. Irgendwann im Laufe der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Phänomenen des Himmels, die von Beginn an kulturspezifisch unterschiedlich als Gottheiten aufgefasst wurden, benannte man die Wochentage nach diesen Himmelskörpern. Die Reihenfolge, in der die Namen vergeben wurden, bezog sich auf die Schätzung der Entfernung zwischen diesen Planeten und der Erde.
Rául steht am Rand des Mosaiks, den Kopf nachdenklich gesenkt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ein paar Strähnen seines schwarzen, ölig glänzenden Haars fallen nach vorne. Von hinten betrachtet, wirkt er alterslos. Er bewegt sich nicht, ist versunken, als ob er immer an der gleichen Stelle steht und auf etwas wartet, von dem nur er weiß, um was es sich handelt. Er wirkt wie ein Teil der Szenerie. Ich frage ihn, was ihn interessiert, und er deutet mit seinem nikotinverfärbten Zeigefinger auf eines der Medaillons, auf einen bärtigen Kopf. Jupiter, sagt er, der Hauptgott des römischen Pantheons. Das Porträt trägt einen Lorbeerkranz. Der Mantel auf seinen Schultern bedeckt nur knapp seinen nackten Oberkörper. Ein Lichtträger, der die majestätische Weite des Himmels repräsentiert, Beschützer von Recht und Gerechtigkeit. Rául ist Pensionär. Er trägt keinen Bart, ist glattrasiert. Eine Hornbrille mit schwarzem Rand beschattet seine braunen Augen, die unter dichten Brauen liegen, die über der Nasenwurzel zusammenwachsen. Er hat sein Leben lang in der Tourismusbranche gearbeitet. Altertümer sind seine Leidenschaft. Seitdem seine Frau vor Jahren gestorben ist, sein Sohn beruflich nach Madrid ging, verbringt er seine Zeit damit, den antiken Hinterlassenschaften der Römer hinterher zu jagen. In Spanien gibt es genug, meint er, um mehr als mein restliches Leben zu füllen. Er lebt allein, in einem kleinen Appartement in Dos Hermanos, einem Vorort von Sevilla, nicht weit entfernt von Montequinto, wo ich die letzte Nacht verbrachte.
Das Planetenmosaik in Italíca beschäftigt ihn seit langem. Ich habe Glück, ihn getroffen zu haben, denn Rául kennt sie alle. Er kennt ihre Mythologie und die Ikonographie, an der man sie erkennen kann. In einem Kreis, der in ein Quadrat eingebettet ist, schauen verblasste Porträts der Planetengötter aus einem Hexagon auf den Betrachter, ihr Konterfei von einem Blätterzweig umgeben. Im Zentrum des Mosaiks Venus, der Freitag ist ihr Wochentag. Sie umgeben Mond (Montag), Mars (Dienstag), Merkur (Mittwoch), Jupiter (Donnerstag), Saturn (Samstag) und die Sonne (Sonntag). Warum gerade Venus die dominante Stelle im Zentrum des Mosaiks einnimmt, erklärt Rául mit ihrer Bedeutung als Beschützerin von Ehe und Familie. Das scheint mir eine angemessene Überlegung zu sein, besonders in einem Wohnhaus. Die Venus ist unter den Wandelsternen außerdem ein besonders auffälliger Planet. Sie trägt einen Edelstein am Hals und ist mit einer Krone dargestellt. In der Morgendämmerung geht die Venus heliakisch auf, ist als Morgenstern sehr hell und gut sichtbar. Als Abendstern ist sie bereits in der Dämmerung am Himmel zu sehen, noch bevor die Sonne untergegangen ist. Die Germanen, die den römischen Kalender übernommen haben, nannten die Venus Friggjarstjarna, Stern der Frigg. Die Sonne ist leicht an ihrer Strahlenkrone zu erkennen, mit langem, lockigen Haar in einen Umhang gehüllt. Rechts neben ihr die Mondgöttin, mit dem Halbmond auf den Schultern. Nach Isidor von Sevilla folgte der Tag des Mondes auf den Tag der Sonne, der ihr Licht reflektiert, wie der Montag auf den Sonntag. Mars mit Bart und dem charakteristischen Helm, mit Haube und Rüstung, folgt dem Mond. Er war der Schutzpatron vieler Städte und Stämme, der Sabiner und Etrusker, und als Vater des Romulus eine der drei Schutzgottheiten Roms; gemeinsam mit Jupiter und Quirinus. Das Mosaik stellt Merkur als jungen Mann vor, mit Flügeln seitlich am Kopf, die Symbole seiner Schnelligkeit bei der Erfüllung seiner Aufgaben als Götterbote. Die Astrologen der Sumerer und später der Babylonier kannten ihn bereits. Sie identifizierten ihn mit ihrem Gott Nabu, dem Gott der Literatur und der Weisheit, Eigenschaften, die den griechischen Gott Hermes und sein römisches Äquivalent Merkur charakterisieren. Die Griechen identifizierten ihn mit dem ibisköpfigen Mondgott Thot, den Sokrates für den Erfinder der Schrift hielt. Die hellenistische Göttergestalt des Hermes Trismegistos, des dreimal großen Hermes, repräsentiert die synkretistische Verschmelzung der beiden Gottheiten. Doch die Identifizierung dieser unterschiedlichen Götter durch die Griechen, ist nicht ganz plausibel. Hermes, der Gott der Reisenden, Hirten, Kaufleute und Diebe, Bote des Zeus und Psychopomp, und Thot, der Gott des Mondes und der Mondphasen. Doch beide sind mit dem Prinzip des Wandels assoziiert, besonders Thot, der dem hundsköpfigen Anubis als Schreiber beim Totengericht dient. Thot als Träger des Schreibens, der Schrift, Wissenschaft und Magie, mag Herodot in den Historien dazu veranlasst haben, bei ihm an den griechischen Hermes zu denken. Der alte Gott Saturn, oder Kronos, Vater des Zeus, dem im Planetenkarussell Jupiter folgt, wie der Sohn dem Vater, ist ein Mann mit dichtem Bart, der Hüter der Schwelle, der den Lauf der Zeit symbolisiert. Sein Gesicht ist mit einem Schleier bedeckt, der Kleidung der rituellen Funktionsträger im alten Rom. Ich dagegen vergesse die Zeit in Italíca, lausche den Erklärungen Ráuls, vergesse, dass ich nur auf der Durchreise bin, vergesse die Vía de la Plata, und dass ich nachmittags nicht zu spät in Guillana ankommen darf, um eine Unterkunft zu finden. Ich löse mich nur mühsam von den herrlichen Mosaiken und ihren Mythen, zu zahlreich, um alles in diesem kurzen Moment aufzunehmen. Nur ein kurzer Blick, kaum ein Besuch zu nennen. Ein viel zu schneller Abschied von Rául, der sich langsam aufgewärmt hat und dessen Redefluss nur schwer zu bremsen ist, froh einen Zuhörer gefunden zu haben, dem er noch viel mehr erzählen will.

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Als ich Italíca verlasse, beginnt es heftiger zu regnen. Schnell verdünnt der Regen meine Begeisterung für die römischen Hinterlassenschaften. Mein Enthusiasmus verlöscht wie eine Kerze im Wind. Zum ersten Mal in den kommenden Wochen stehe ich an der N 630, der Landstraße, die dem Verlauf der Vía de la Plata folgt, und sie viel zu häufig unter sich begraben hat. In dem Regen, der mich den ganzen April verfolgen wird. Ich weiß nicht, ob ich auf der antiken Vía stehe, oder ob sie irgendwo zwischen den Feldern verläuft, ob ich in ihre Richtung wandere, oder neben ihr davon abweiche. In der Umgebung von Sevilla ist sie überbaut, aus der Stadt hinaus nicht zu finden, wo sie einst einen anderen Weg einschlug. Mit der Buslinie nach Santiponce bin ich ihr sicher nicht gefolgt. Der Asphalt der Landstraße, der stärker werdende Regen, und die vorbeifahrenden Autos, die mich mit dem Wasser, das sich in zahlriechen Pfützen gesammelt hat, bespritzen, frustrieren mich. Der erste Tag, die erste Prüfung. Ich mag es nicht, im Regen zu wandern, besonders dann nicht, wenn es schon am Anfang regnet. Ich brauche immer ein paar Stunden, um mich einzugewöhnen. Erst wenn ich durchnässt bin, lässt mein Widerstand allmählich nach, und ich kann das Ungemach gelassener hinnehmen. Erst wenn sich nichts mehr ändern lässt, es kein Zurück mehr gibt, schweigt mein Widerwille, der mich stundenlang begleitet hat, und mir den Regen noch unleidlicher macht. Ich kenne das von zahllosen Wanderungen, es ist immer wieder dasselbe.
Es sind kaum Pilger unterwegs. Anscheinend fürchten sie den Regen genau wie ich. Ein Paar aus Bayreuth, Reinhard und Sally, ein Einzelpilger, Francisco aus Bologna, mit Regenschirm. Es gibt keinen Austausch untereinander. Im Regen läuft jeder für sich allein durch einen Wassertunnel; nur weiter, schnell weg, nur fort von hier. Aber da wusste ich noch nicht, dass alles noch viel schlimmer wird. Kurz hinter Santiponce biegt ein schlammiger Feldweg ab. Er verläuft nur eine kurze Strecke parallel zur N 630, endet einige hundert Meter später an einer aufgegebenen Brücke über den Arroyo de los Molinos, den Mühlenbach. Eine Absperrung, ein Warnhinweis und gelbe Pfeile, weisen eine Richtung. Der Weg biegt nach links ab, tief hinein in die regenverhangenen Felder, über die der Wind dunstige Schleier treibt. Reinhard und Sally entscheiden sich für die ausgewiesene Route. Ich verstehe nicht mehr, warum ich nicht mit ihnen gegangen bin, es wäre das Vernünftige und Naheliegende gewesen. Aber ich vermute eine Abkürzung, klettere über die Böschung auf die Landstraße zurück, und gehe über die neue Brücke über den Bach. Gescheitert! Am anderen Ende der langen Brücke gibt es keine Möglichkeit mehr auf den Weg zurückzukommen, wenn es ihn hier überhaupt noch gibt. In La Albaga schimpft mich ein Fahrradfahrer aus, und will mich kilometerweit zurückschicken; auf die Vía komme ich hier nicht, ruft er mir im Weiterfahren zu, die liegt in der entgegengesetzten Richtung. Mag sein, aber ich gehe nicht zurück. Die Wegweiser am Straßenrand weisen nach Guillena. Ich wandere Kilometer um Kilometer im Dauerregen neben der stark befahrenen Straße nach Torre de la Reine, in ein kleines Provinzstädtchen mit einer hübschen, jetzt verwaisten baumbegrenzten Plaza. Nur ein kleines Mädchen im bunten Regencape, mit einer Plastiktüte in der Hand, hüpft durch die Wasserlachen nach Hause. Schnell, noch bevor ich nach dem Weg fragen kann, huscht sie über den Platz. Sonst sehe ich niemanden auf dem regennassen Pflaster. Ich flüchte mich im wieder stärker einsetzenden Regen ins Casa Manuel, eine enge Kneipe, in der Bier trinkende Männer lamentieren. Die kleine Bar ist überfüllt mit nassen Gästen. Dämmriges Licht wirft Schatten an die Wand, von den Glühbirnen des Flaschenregal über der Bar beleuchtet. Es riecht feucht und muffig im Raum, in dem die Kleidung der Trinkenden langsam trocknet. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken komme ich kaum in den engen Schankraum, der nur aus einem Tresen besteht. Die wenigen Hocker sind belegt, die meisten Männer stehen dicht gedrängt beisammen, auf die Bar gestützt, mit einem Glas Wein oder einer Flasche Bier in der Hand. Ein blinkender und klingelnder Spielautomat beengt den Raum noch mehr. Ich zwänge mich zwischen die unangenehm riechenden Männer, die mich unfreundlich und genervt mustern, in die hinterste Ecke, zwischen Wand und Automat, wo ich ein wenig Abstand finde. Ein dicker Wirt, dem fettige Haarsträhnen in die Stirn hängen, blickt abwesend durch mich hindurch. Erst als ich ihn anspreche, nimmt er mich wahr, und bringt mir den Milchkaffee, der in Spanien selbst in der heruntergekommensten Spelunke gut schmeckt. Ich frage ihn nach etwas zu essen, doch er winkt ab. Für mich gibt es nichts, für die trinkenden Männer immerhin Erdnüsse und Schinkenhappen, nach denen ich den seltsamen Wirt nicht frage. Ich hätte wohl besser ein Bier bestellt statt des Kaffees. Doch der ist heiß und stark und schickt eine Wärmeflut durch meine Adern. Besser gelaunt breche ich auf, und lasse mich weiter nass regnen. Eine Frau erklärt mir den Weg zurück auf die Vía de la Plata, die hunderte Meter entfernt zwischen den Feldern verläuft. Der Regen peitscht ungebremst durch die flache Auenlandschaft des Rivera de Huelva, so kräftig und unbarmherzig, dass mir das Wasser von den Knien abwärts in die Schuhe fließt. Die Hosenbeine werden schwer, und in den Schuhen schmatzt höhnisch das Wasser bei jedem Schritt. Etwas Schutz vor dem Regen finde ich gelegentlich im Windschatten einer Steinsäule, wo ich einen Moment verschnaufe, oder unter einem Baum mit dickem Stamm und dichter Krone, durch deren Blätter es auf mich tröpfelt.
Von Torre de la Reina bis nach Guillena führt die Vía de la Plata über schlammige Feldwege zwischen Wiesen und Teichen, zuletzt entlang am Ufer des Huelva. Matsch klebt in schweren Klumpen an meinen Schuhen. In der weiten Flusslandschaft bläst mir ein stürmischer Wind den Regen ins Gesicht. Was mein Regenponcho nicht bedeckt, ist längst klatschnass. Der Poncho hält den Regen ab, doch von der ungewohnten Anstrengung schwitze ich unter der gummierten Hülle. Mein angeblich wasserdichter Rucksacküberzug hat längst aufgegeben. Ich fürchte um den Zustand meiner Habseligkeiten. Trotz der Versicherung der Fachverkäufer und den Werbeversicherungen der Outdoor-Industrie gibt es keine Kleidung, die stundenlangen Wasserfluten standhält. Soviel weiß ich mittlerweile; Versuch und Irrtum. Es ist kalt geworden, gefühlt unter zehn Grad, und keine Chance, dass morgen früh Hose und Schuhe trocken sind. Um mich aufzumuntern, stelle ich mir vor, unter warmer Sonne durch die Flussaue des Huelva zu wandern, wahrscheinlich ein Genuss, von dem ich tropfend träume. Die Furt hinüber nach Guillena ist unpassierbar. Der Fluss hat die Auen geflutet, und auf den Wellen tanzt Gicht. Ich traue mich nicht in den Fluss, denn unter dem schnell fließenden Wasser sehe ich keinen Grund. Niemand kommt von hier aus nach Guillena. Auf dem einzigen Weg, der entlang der Böschung verläuft, kommt mir der Regen in Bächen entgegen. Längst ist es mir egal geworden, und platsche weiter vorwärts. Ich sehe nicht mehr viel, denn meine Kapuze begrenzt meine Sicht und über meine Brillengläser fließt das Wasser. Vor mir noch mehr Wasser und ein großer Umweg zur nächsten Brücke in die Stadt.
In Guillena bin ich nass bis auf die Haut. Regen und Schweiß sind eine unheilvolle Allianz eingegangen, die meinen kalten Körper traktiert. Frierend, hungrig und absolut entnervt treffe ich in der öffentlichen Herberge ein, die am anderen Ende der Stadt liegt. Sie befindet sich in den Nebenräumen eines Restaurants, das gerade schließt, als ich ankomme. Der Standard ist schlechter als erwartet. Zehn Euro für eine Nacht ist in einer kommunalen Albuerge municipal, der öffentlichen Pilgerherberge, üblich, doch gemessen an dem Zustand nicht immer preiswert. Die Räume sind schmutzig. Seit längerer Zeit hat niemand mehr aufgeräumt oder geputzt. Im Restaurant gibt es nichts mehr zu essen. Spät am Nachmittag ist die Regenfront, die mir den ganzen Tag zugesetzt hat, abgezogen. Der Himmel lächelt blau, und macht sich über mich lustig. Es ziehen kaum noch Wolken über mir. Die Straßen glänzen im späten Sonnenschein. Das Internet-Wetter im Restaurant-TV verspricht Sonne und kaum Regen in den nächsten Tagen. Doch es bleibt kalt und windig. Jetzt, wo ich im trockenen Schlafraum bin, hört es auf zu regnen. Ironie des Schicksals. Ich fühle mich um einen Wandertag betrogen. Bin ich in Sevilla zu früh aufgebrochen? Der Nachmittag bleibt trocken. Das Abenteuer hat begonnen: der Magen knurrt, die Füße schmerzen und die Rückenmuskeln meckern. Doch die Dusche ist heiß und das Bett annehmbar. So beginnt es immer. Ich habe meinen Rhythmus noch lange nicht gefunden.
In Badelatschen und meiner trocken gebliebenen, dünnen Kleidung, die ich zum Schlafen trage, plantsche ich über die nassen Straßen von Guillena auf der Suche nach einem Laden oder einem Restaurant. Die restliche Kleidung hängt auf einem Wäscheständer in der Herberge; die Schuhe grob gesäubert und mit Zeitungspapier ausgestopft. Ich weiß nicht, was die Vorübereilenden denken, ihren Gesichtern ist nichts zu entnehmen. Ich komme mir unangemessen gekleidet vor, und mir ist es peinlich, in der nassen Stadt wie am Strand gekleidet zu sein. Doch ich bin hungrig, habe außer einer Packung Cracker zum Frühstück und zwei Müsliriegeln noch nichts gegessen. Am anderen Ende der Kleinstadt, höre ich, gibt es zwei Supermärkte. Dort kann ich alles kaufen, versichert man mir. Ein freundlicher Mann bringt mich hin, von zwei benachbarten Läden empfiehlt er mir den preiswerteren. Ihm sind Pilger nicht fremd, und er erzählt mir auf dem Weg von kuriosen Begegnungen. Vermutlich wird er mich in sein Repertoire aufnehmen. So bleibt von mir und diesem denkwürdigen Tag wenigstens eine Erinnerung zurück.
Auf dem Rückweg gerate ich in den nächsten Schauer. Schwere dunkle Wolken haben inzwischen die Sonne verschluckt, wie die Wölfe Skalli und Hati im Ragnarök die Sonne und den Mond, die sie über das Firmament jagen und zuletzt verschlingen. Die kurze Aufheiterung war zu verlockend, nur eine Illusion. Die Meteorologin im Fernseher hat sich anscheinend geirrt. In der Herberge sind wir nun zu zweit. Als ich von meinem Einkaufsbummel zurückkomme, ist ein junger Spanier eingetroffen. Er sitzt in der Küche, die zugleich Aufenthaltsraum ist. Ein aufdringlicher Geruch von Zwiebeln und Knoblauch zieht durch die Herberge. Ein einladender Empfang. Doch mein Magen ist gefüllt, getrunken habe ich ausgiebig, und ich fühle mich wieder wohl und entspannt. Ich frage ihn, ob er die große Kanne Kaffee, die auf der Herdplatte steht, alleine trinkt. Er nickt vergnügt, und schenkt mir eine Tasse ein. Ich lese, schreibe und spüre, wie sich Füße und Beine wieder besser anfühlen.
Ein normaler Wandertag, nichts Besonderes auf einer Fußreise, wenn auch keiner von den guten Tagen. Wer wochenlang auf sich selbst gestellt den klimatischen Bedingungen ausgesetzt ist, der merkt sehr schnell, dass es gut und schlecht nicht gibt. Immer gibt es einen Ausgleich zwischen beiden Polen. Wer sich vorurteilsfrei auf das Hier und Jetzt einlassen kann, hat es leichter. Gegen das Wetter anzukämpfen, sich zu ärgern, ist müßig und erschwert das Unvermeidliche zu ertragen. In diesem Zustand angelangt, ist es gleichgültig, ob die Sonne scheint, ob ich schwitze oder ob es regnet und mir das Wasser in die Schuhe läuft. Leider kann ich diesen Gleichmut nicht bewahren, um ihn im Notfall abzurufen. Ich muss ihn immer wieder neu erwerben. Auch das lerne ich, wenn ich zu Fuß reise. Zwei Gäste, sechszehn Betten in zwei Schlafsälen. Ich bekomme ein Einzelzimmer mit sechs Betten für die Nacht. Zehn Euro sind dafür nun wirklich nicht zu viel.

*

Es hat die ganze Nacht geregnet. Morgens regnet es noch immer. Nein, das stimmt nicht: Es gießt! Als ich aus dem Fenster schaue, steht draußen alles unter Wasser. Wasserlachen auf dem Platz vor dem geschlossenen Restaurant und in den Straßen. Die Traufen laufen über, und von den Balkonen tropft es auf die Passanten. Das Klatschen des Regens auf das Pflaster klingt mir disharmonisch laut in den Ohren. Besser, ich wäre länger im Bett geblieben, trocken und warm. Mein Mitpilger schläft noch. Ich gebe mich mit Wasser, einer Banane und ein zwei Müsliriegeln zufrieden. Ein frischer Kaffee fällt aus.
Gegen neun Uhr lässt der Regen etwas nach. Schließlich brechen wir gemeinsam auf. Wir haben lange gezögert. Keiner von uns konnte sich entschließen, ins Freie hinaus zu gehen. Es sieht nicht danach aus, als ob es bald aufhört zu regnen. Der Regen ist Tagesherrscher, nicht die Sonne. Er entscheidet über Stimmung und Motivation, über Licht und Schatten. Regensicher eingehüllt, mit dem Gefühl, chancenlos zu sein, mache ich mich mit feuchten Hosenbeinen und nassen Schuhen schließlich auf den Weg nach Castilblanco de los Arroyos. Der Regen ist nur die eine Seite des Wetters. Es hält weit Schlimmeres bereit: schlammige Wege, in die ich tief einsinke, lehmigen Matsch an den Schuhen, der sich nicht abschütteln lässt, breite Wasserlachen und Pfützen, denen ich nicht immer ausweichen kann. Die klebrige Erde sammelt sich unter den Schuhen, das Profil der Sohle ist mit Lehm gefüllt. Ich gehe auf einer Zentimeter dicken Schicht aus rötlichem Matsch, die ich mit jedem Schritt vom Boden losreißen muss. Es ist glatt und rutschig, kaum ein Weg, auf dem ich gut vorwärtskomme. Lehmiges Wasser spritzt vom nassen Boden bis hinauf ans Knie. Kein aufrechter Gang, beschwingtes Wandern sieht anders aus. Ich schwanke, rutsche und stapfe gebeugt vorwärts, um nicht in die nächste Pfütze zu treten, um der nächsten schlammigen Mulde auszuweichen. Meinen namenlosen Mitpilger sehe ich mehrere hundert Meter vor mir durch einen trüben Dunstschleier. Eine Silhouette wie ein unförmiger Sack. Ich sehe, wie mühsam er vorankommt, und stelle mir vor, die gleiche Figur abzugeben. Den lehmigen Weg zerteilen tiefe Furchen, ausgespülte Rinnen, in denen mir das Regenwasser in Bächen entgegenfließt. Die Situation grenzt an die witzigen Passagen einer Komödie, bei denen sich das Publikum vor Lachen biegt. Wohltemperierte Schadenfreude im dunklen Kinosaal, während das Unangenehme anderen passiert. Slapstick in einem Stummfilm. Mehr als gestern ist das Gehen eine Strapaze, immer auf der Hut, so trocken wie möglich zu bleiben, nicht auszurutschen, um zuletzt im Schlamm zu landen. Schließlich geben die über Nacht nicht getrockneten Schuhe auf, und ich spüre das Wasser durch das Leder dringen.
Obwohl er sich bemüht, dem Regen gelingt es nicht, den Reiz der Landschaft zu verderben. Die Feuchtigkeit in der Luft hüllt die Farben in ein zarte Folie. Das Licht ist trübe, doch es ist nicht nebelig. Alles ist verschwommen, weichgezeichnet, eine verschwommene Fotografie. Die Konturen der Bäume rechts und links des Weges wirken in diesem Licht unwirklicher, die Kontraste arm, und an den Rändern aufgeweicht. Der Raum verengt sich auf die wenigen Meter, in dem die Welt deutlich sichtbar ist. Die Atmosphäre gleicht einer verwunschenen Szene, weckt ein Gefühl, das mulmig und erregend zugleich ist. Niemand weiß, was weiter vorne liegt. Die Landschaft ist fremdartig. Fantasien tauchen auf, die in Märchen von Elfen und Kobolden passen, oder unheimliche Geschöpfe eines Horrorfilms zum Leben wecken. Was liegt hinter der nächsten Biegung, verbirgt sich hinter diesem dicken Stamm. Fast kann ich diese Szenerie genießen, wäre ich nicht so sehr damit beschäftig, vorwärts zu kommen. Ich denke an Hermann Hesses Gedicht Im Nebel, besonders an die letzte Strophe:

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein
.

Dennoch gefällt mir die Landschaft. Bei trockenem, sonnigen Wetter ein schöner Weg durch ausgedehnte Olivenplantagen, ein breites, tiefrotes Band, in einer Farbe, die an Blut erinnert. Zu beiden Seiten dehnen sich Plantagen aus. Olivenbäume mit ihren silbrigen, lanzettförmigen Blättern, an denen Tropfen hängen, bilden grüne Flanken. Zwischen ihnen stämmige Korkeichen, die ihre geschälten, halbnackten roten Stämme trotzig in den Regen halten. Trotz seiner Künstlichkeit bezaubert mich das Land. Wäre nur nicht dieser endlose Regen. Wie gestern schwindet irgendwann die Wanderlust, von meditativen Stimmungen ganz zu schweigen. Meine volle Aufmerksamkeit gehört der Erde und dem Wasser um mich herum. Es wird mir nicht gelingen, aber ich versuche, so trocken wie möglich zu bleiben.
Alles hat irgendwo und irgendwann ein Ende. Nichts auf der Erde ist unermesslich in Raum und Zeit, Unendlichkeit eine tröstliche Fiktion. Die schlammige Piste endet. Der Weg bleibt nass, ein wenig Schlamm zurück, und führt in eine der zahlreichen, privaten Dehesas, die Weide- und Jagdgebiete, die im Norden Andalusiens weit verbreitet sind. Betreten verboten, Privat oder Jagdgebiet steht auf Tafeln am Zaun. Pferde, Rinder- und Schweineherden streifen durch die riesigen, eingezäunten Parklandschaften. Gatter aus Maschendraht und große Bodengitter versperren ihnen an den Toren den Weg nach draußen. Mit ihren Hufen können sie nicht auf die schmalen Eisenstäbe oder Rollen treten. Die Tiere haben sich vor dem Regen zurückgezogen, gesehen habe ich keine. Auch andere Pilger nicht. Verloren wandere ich durch Regen und Matsch und wünsche mir nur eins: Wann ist es endlich vorbei?

*

Nachmittags hat sich der Regen in einem leichten Sprühregen verwandelt. Schließlich hört es auf zu regnen und klart auf. Die Sonne gibt sich die Ehre. Über den blauen Himmel ziehen mächtige, weiße Kumuluswolken nordostwärts. Meine Stimmung wendet sich. Auf nassen und schmerzenden Füße werde ich euphorisch. Liegt es daran, dass ich trotz der feuchten Kälte noch immer weitergehe, nass wie ich bin, und nicht aufgegeben habe? Die Baumsavanne hat mich in ihren Bann gezogen. Ich wandere in einer urigen, sanft hügeligen Landschaft, wie in einem großen Park mit alten, knorrigen Bäumen, karstig, mit vielen kantig geschieferten Steinen, die unregelmäßig durch den Boden brechen. Der Weg oft nur ein Trampelpfad, überall grüne Sträucher, blühende Blumen und Gräser, die ich nicht kenne. Blaue, gelbe und weiße Blüten verkünden den Frühling. Ein España Verde, ein grünes Spanien, ist nicht nur der Norden.
Es dauert nicht mehr lange, und ich bin in Castilblanco de los Arroyos, der Weißen Burg an den Bächen. Welch ein Name! Ein Ort für eine Erzählung von Rittern und Jungfrauen. Der spanische Nationaldichter und Schöpfer des Don Quijote, Miguel de Cervantes, hat sich eine Zeitlang hier aufgehalten und dem Ort eine Erzählung gewidmet: die Novelle Las dos Doncellas. Sie handelt von zwei Nebenbuhlerinnen, die hier gelebt haben sollen. Am Ortseingang erinnert ein Denkmal an den Dichter. Der Ort hat eine Geschichte, die für andalusische Dörfer sprichwörtlich ist: von den Römern gegründet, nach ihnen kamen die Westgoten, dann die Mauren, bis er im 13. Jahrhundert von den aragonischen Christen unter Fernando III. übernommen wurde. Charakteristisch weiß gekalkte Häuser mit farbigen Tür- und Fensterrahmen. Blühende Pflanzen in Töpfen und Kanistern auf Treppenstufen und Fensterbänken. Die Sonne hat mich aufgewärmt und ich komme etwas trockener in den Ort. Nur die Schuhe bleiben nass und der kalte und launische Wind zwingt mich in meine Daunenjacke.
Die öffentliche Pilgerherberge ist fast belegt. Ich finde ein freies Bett in einem ungelüfteten Schlafsaal. Es riecht nach feuchter Kleidung und vielen Menschen. Alle unteren Betten sind belegt, also packe ich meinen Schlafsack auf eins der oberen. An der einzigen Wäscheleine im Eingang der Herberge hängt die nasse Kleidung der anderen Gäste. Ich schiebe und rücke und schaffe mir ein wenig Platz für meine Sachen. Viele Franzosen, fast nur Rentner. Ich habe auf niemanden von ihnen Lust, und gehe, trotz meiner schmerzenden Füße, lieber hinauf zwischen die weißen Häuser, streife durch mein erstes andalusisches Pueblo Blanco.
Wo waren die vielen Pilger, die sich in der Herberge versammelt haben? Unterwegs habe ich niemanden getroffen. Den ganzen Tag war ich allein auf dem Weg, denn der junge Spanier der letzten Nacht hat mich schnell abgehängt. Bewundernd denke ich: Sie müssen in Guillena schon sehr früh und im strömenden Regen aufgebrochen sein. Später höre ich, dass alle auf der Landstraße gewandert sind, aus Angst vor dem matschigen Weg. Die Einheimischen haben ihnen von den Entbehrungen des Pilgerwegs abgeraten. Der Weg, so sagten sie, ist bei diesem Wetter unpassierbar. Die Pilger haben sich geweigert, ihr Kreuz zu tragen, und sind bequem gewandert. Uns beide hat heute Mmorgen in Guillena niemand abgehalten unser Kreuz zu schultern. Das Restaurant war noch geschlossen und die Straße aus dem Ort menschenleer. Doch ich bin mir unsicher, ob mir weiterer Tag auf der N 630 gefallen hätte. Bequemlichkeit, denke ich, kann ich zu Hause haben. Die Sinneseindrücke zu spüren und zu erleben, die intensiven Gefühle und die Herausforderung des Wegs, aus diesem Grund bin ich unterwegs.
Inzwischen habe ich oft darüber nachgedacht, warum ich diese langen Wanderungen mache. Was mich hinaus in die Landschaft treibt? Was ich suche, was zu finden hoffe. Auf Pilgerwegen heißt es mittlerweile wie selbstverständlich, geht es um innere Einkehr, um Kontemplation, darum sich selbst zu finden, seinen Platz im Leben neu zu definieren, sich selbst bewusst zu werden; im religiös-katholischen Kontext um den Ablass der Sünden, um die Fürbitte des Apostels Jakobus. Mich interessieren Pilgerwege, weil sie auf bedeutsamen, jahrhundertealten Routen durch eine vielfältige Landschaft führen, vorbei an Orten, die eine besondere Atmosphäre besitzen, durch einsame Täler und über Gebirgszüge, die beeindruckende Panoramen öffnen, Küsten und Strände, die einen Augenblick mir allein gehören. Die alten Wege, die seit Generationen begangen werden, ziehen mich magisch an und beflügeln meine Fantasie. Mich finden kann ich überall, auch im Dickicht der Städte. Dazu muss ich nicht hinaus. Nur, was ich dort finde, langweilt mich, stumpft meine Sinne ab und gefällt mir nicht so gut, wie die Freiheten der natürlichen Landschaften. Ich brauche den Kontrast von Stadt und Land. Ich wandere, weil ich die Hektik der Stadt ohne die Ruhe der Natur nicht ununterbrochen aushalte. Die Psychogeographie behauptet, und ich glaube, darin hat sie recht, dass wir uns mittlerweile eine Lebenswelt geschaffen haben, die sich sehr von derjenigen unterscheidet, in der sich unser Körper und unser Gehirn entwickelt hat. Auf meinen ersten, längeren Wanderungen habe ich beobachtet, dass außerhalb der Stadt, in der ich mich sicher und geborgen fühle, beispielsweise in einen unübersichtlichen Wald oder einem ausgedehnten Hochmoor, durch das ich stundenlang gewandert bin, mein Verhalten und meine Interaktion nicht mehr zu meiner Umgebung passten. Ich fühlte mich verunsichert, desorientiert, in der vermeintlichen Wildnis der Landschaft verloren. Rudimente einer alten, archaischen Verbindung mit der Landschaft haben überlebt, die eine Verlockung bewirken, ins Freie zu kommen, in die natürliche Landschaft, die uns fasziniert. Es zieht uns hinaus auf Spaziergänge, Strandurlaube, in Gartenkolonien an den Stadtrand und in Wochenendhäuser. Wir bauen uns Häuser und Villen, am besten mit Blick auf bewaldete Berge oder einen sandigen Strand, an dem die Wellen auslaufen. Es ist vielfach belegt, dass Patienten mit Blick in die Natur schneller gesund werden. Wir ziehen Landschaften in der Natur städtischen Orten vor, weil unser modernes adaptives Verhalten von uralten Entscheidungen geprägt ist. Der Homo sapiens hat sich in einer Savannenlandschaft entwickelt, und seine Vorliebe für diesen Landschaftstyp beibehalten. In einer städtischen Umgebung ist unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen auf die Bewältigung alltäglicher Aufgaben und Pflichten gerichtet. Nur in der Natur bewegen wir uns unangestrengt und unwillkürlich aufmerksam. Diese Präferenz für bestimmte Orte befindet sich im Gehirn im Gyrus parahippocampalis, in einer Region, die reich an Opiatrezeptoren und mit verschiedenen komplizierten Verarbeitungsprozessen von visuellen Informationen von Szenen und Objekten befasst ist. Die Euphorie, die sich beim Wandern in bevorzugten Landschaften so leicht einstellt, verwundert nicht länger, wenn die Verarbeitung visueller Informationen im Umfeld solcher Rezeptoren stattfindet. Es ist die erholsame, beglückende Wirkung von Naturwahrnehmungen, die meinen Stresspegel senkt, meine Aufmerksamkeit auf gesunde und lustvolle Weise auf allerlei Interessantes lenkt, ohne angestrengt danach zu suchen. Landschaft umgibt mich nicht nur, nach einer gewissen Zeit, wird die Grenze zwischen mir und ihr durchlässiger. Der Aufenthalt in natürlichen Landschaften, in Abhängigkeit vom Grad ihrer Wildheit, zunehmender Stadtferne, ermöglicht mir erfrischende Intermezzi, bewusst gestaltete und konstruierte Perioden, in denen ich mich von meiner städtischen Lebenswelt ausruhen und erholen kann, die weitgehend den Bedingungen von Produktion und Konsum unterliegt. Die zunehmende Beliebtheit des Wanderns in unserer Zeit liegt an der Möglichkeit, die Aufmerksamkeit frei schweifen zu lassen, sie von dem begrenzten Zentrum an Aktivitäten zu befreien, dem sie im urbanen Alltag unterworfen ist. Die natürliche Umwelt der Herkunft unserer Art ist zu einem Fluchtort geworden, der uns vor dem geistigen Ausverkauf unseres Konsumentendaseins erlösen kann.
Den frühen Abend verbringe ich in der warmen Bar Isidoro, verdient genug wie ich finde, und speise gut bei rotem Wein. Als ich später zur Herberge aufbreche, beginnt es wieder zu regnen. Die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen. Über den Dächern des weißen Dorfs schwebt ein rotvioletter Schein. Irgendwo gibt es vielleicht einen Regenbogen.

*

In den letzten Tagen höre ich ständig, dass in Berlin ein viel zu früher Sommer angebrochen ist. Bilder von warmen und trockenen Tagen im Freien, der erwachenden Natur in den Parks, die in hellem Glanz erstrahlt, schweben mir vor. Dann bekomme ich Heimweh. Doch nur kurz, denn mir gefällt das dunkelgrüne Land auf rotbrauner Erde. Die weißen Dörfer, die sich in engen, parallelen Gassen sanfte Hänge hinaufziehen. Malerische, sprechende Namen und eine Geschichte, die bis in die Römerzeit zurückreicht. Orte, die die Westgoten, Araber und die Reconquista überstanden haben, bis sie unter Ferdinand und Isabela, den Reyes Católicos, schließlich christlich wurden, liegen am Weg. Klangvolle Namen, farbig und schillernd. Sie wecken Assoziationen, die mich einen Moment aus meiner nassen Welt entrücken, und in Fantasien schweifen lassen: römische Legionäre, die in disziplinierter Ordnung marschieren, bärtige Mohammedaner schreiten mit dunklem Blick, Turban und wehendem Kaftan vorüber. Santiago-Ritter, blitzende Schwerter schwingend, in ihren weißen Mänteln auf denen rote Kreuze prangen, kämpfen auf schnaubenden Pferden gegen die Ungläubigen mit ihren gebogenen Säbeln. Festungen auf Hügeln, die die Landschaft überblicken, und an denen sich weiße Siedlungen klammern. Reich dekorierte Paläste, unter deren Arkaden verschleierte Frauen spazieren, einen schwarzen Lidstrich über und unter den Augen. Geheimnisvolle Blicke unter Kajal verborgen. Blühende Gärten, in denen Saiteninstrumente erklingen und Wasserspiele plätschern. Irgendwo sitzt sicherlich ein Affe auf einer Palme. Prächtige Orte, an denen in dunkle Gewänder gekleidete Rabbiner mit herabhängenden Haarlocken aus Kabbala und Tierkreis prophezeien. In lauten und lebhaften Basaren bieten Händler exotische Waren feil, wohlriechende Gewürze und Spezereien aus dem Orient. Auf den Gassen herrscht Hochbetrieb. Neugierige drängen sich, wo Käufer und Verkäufer sich gegenseitig überbieten. Dazwischen Jongleure mit farbigen Bällen, Artisten, die ihre Körper verbiegen und sich hoch in der Luft überschlagen. Feuerschlucker erschrecken Kinder. Tierbändiger mit struppigen Bären, die am Nasenring geführt, den Hanswurst machen. Bettler und Märchenerzähler ziehen ihr Publikum mit abenteuerlichen Geschichten von Prinzen und Räubern in den Bann. Dazwischen verhängte Sänften, aus denen liebliche Frauen mit sanftem Blick dem Treiben zuschauen, gekleidet in prächtige Gewänder und wertvolles Geschmeide, die in wehrhaften Burgen leben, deren Türme hoch über das Land aufragen. Und natürlich Priester, Moscheen und Kirchen. Kreuze und Halbmonde, von religiösem Eifer ergriffene Massen. In irgendeiner Gasse deutet jemand ein Horoskop, hält ein Bettler flehend seine Schale hoch. Die Welt des Mittelalters träumt in manchem Winkel. Das Es war einmal des Märchens ohne dessen Happy End.

*

Bis ins nächste Dorf ist es noch weit. Mehr als dreißig Kilometer mit acht Kilogramm auf dem Rücken sind am Anfang einer Fußreise keine Kleinigkeit. Die Gewöhnung braucht mehrere Wochen, dann ist es plötzlich soweit, und die Mühen und körperlichen Schmerzen des Wanderns sind vergessen. Almadén de la Plata, einst Al Medin Balar genannt, die Minen an der Straße. Almadén kommt aus dem Arabischen und bedeutet Mineralien. Die Region war über zweitausend Jahre lang die wichtigste Abbaustätte für Zinnober, das Mineral, aus dem schon die Römer Quecksilber gewannen. Bis das Bergwerk 2003 geschlossen und 2012 zusammen mit dem slowenischen Bergwerk Idrija zum Weltkulturerbe Parque Minero de Almadén wurde, förderte man dort schätzungsweise 250 000 Tonnen Quecksilber. In der Antike war Almadén für seinen blauen Marmor berühmt, den bereits die Phönizier, und nach ihnen Griechen und Römer, abgebaut haben.
Eine dreißig Kilometer lange Wanderung bis zur nächsten Herberge. Ich breche sehr früh auf, gerade greifen die ersten Sonnenstrahlen über die Hausdächer. Die meisten Pilger haben die Herberge bereits verlassen, und ich bin wieder unter den letzten. Castilblanco de los Arroyos liegt still und friedlich. In den Gassen und den weißen Häusern regt sich kein Leben. Kein Laden und keine Bar ist geöffnet, und zum Frühstück habe ich wieder nur Wasser und Müsliriegel. Ich muss mich besser versorgen, die heutige Etappe ist lang, und wenn es regnet beschwerlich. Doch ich verzichte gerne auf ein reichhaltigeres Frühstück, wenn ich nachmittags trocken ankomme.
Die ersten sechzehn Kilometer liegt die Vía de la Plata unter dem Asphalt der SE-185 begraben. Unterwegs treffe ich Reinhold und Sally wieder. Die lange Wanderung auf der Landstraße gerät unversehens kurzweilig, und vergeht wie im Flug. Ich wundere mich immer wieder, wie viel Interessantes in einen Small Talk passt. An der Einfahrt in den Naturpark Monte Las Navas-Berrocal verlässt die Vía die Straße und biegt in eine Parkanlage ein, die einer Dehesa gleicht. Viele Pilger sind heute Morgen unterwegs, aber in der offenen Parklandschaft verlieren sie sich schnell. Die Sonne hat sich mittlerweile durchgesetzt und scheint warm durch die Wolken. Ich nutze die Gelegenheit, lege an einem Baumstamm eine Rast ein, und ziehe die feuchten Schuhe und Strümpfe aus. Meine Rast ist kurz, denn nicht lange, und Wind und Wolken gewinnen das Spiel mit der Sonne und vertreiben mich. Trotz Sonne und Wind ist der Weg durch den Nationalpark vom Regen der letzten Tage noch nass und schlammig. Lockerer Baumbestand soweit das Auge reicht. Der Boden glänzt rötlich, dann in dunklem Ocker, die Vegetation ist saftig grün, dazwischen überall Blüten. Büsche, Sträucher und Bäume sind locker verteilt, ein offenes Gelände. Im hellen Sonnenschein ein wohltuender Kontrast. Schattig geht es unter den Blättern der Bäume bergauf und bergab, dann unter warmer Sonne, wenn die Wolken sie eine Weile freigeben. Nicht sehr steil, ein welliges Hügelland. Im nördlichen Andalusien grenzen die extensiv bewirtschafteten Dehesas beidseitig an die Vía de la Plata. Baumplantagen. Vieh- und Weidewirtschaft. Seit alter Zeit gehört eine Dehesa einer Gemeinde, einer Siedlung. Sie ist Gemeindeeigentum, eine Allmende, und wurde früher gemeinsam bewirtschaftet; als Viehweide oder für die Schweinemast. Manche dieser Ländereien befinden sich noch immer in Gemeindebesitz. Für eine lohnende Landwirtschaft eignen sich die Böden nicht. Die Baumsavannen prägen das Landschaftsbild. Sie entstanden aus den ursprünglichen Stein- und Korkeichenwälder, die schon früh als Weide für Schafe und Ziegen genutzt wurden, später kamen Rinderherden und das iberische Schwein dazu. Spanische Korkeichenwälder wachsen auf dürren und nährstoffarmen Böden, die sich nicht für den Feldbau eignen. Aber als Weidefläche sind sie ideal. Fast unterholzfrei, dienen sie vielen Tiere als natürlicher Lebensraum; wildlebende und domestizierte Arten. Die Korkeiche wächst gemeinsam mit der Steineiche, der sie gleicht, abwechselnd zwischen Olivenbäumen, die oft in großen Plantagen wachsen. Es fällt mir schwer, die beiden Zwillinge auseinanderzuhalten, und würde die Korkeiche nicht bewirtschaftet, ich könnte es nicht. Die spanische Korkeiche ist ein immergrüner mediterraner Baum der Gattung Quercus. Mit der deutschen Eiche ist sie nicht zu vergleichen. In Gestalt und Aussehen ein völlig anderer Baum. Die nachwachsende Rinde dieser Eichenart wird bis zu den untersten Ästen abgeschält. Dann ähnelt der untere Teil des Stamms, mit der etwas höher ansetzenden Rinde, einem frisch frisierten Pudel. Der Boden unter den Bäumen, sowie der Weg, ist mit Bruchstücken grau melierter Rinde übersät, die, auseinandergebrochen, dem porösen Beige eines Weinkorkens ähneln. Kork kann alle neun bis zwölf Jahre geerntet werden, wenn eine Schichtstärke von drei bis vier Zentimeter erreicht ist; ist es warm genug, auch alle acht Jahre. Eine Korkeiche ermöglicht während ihres Lebens fünf bis zehn Ernten und liefert bis zu zweihundert Kilogramm Kork. Kork als Verschluss von Sekt- und Weinflaschen wird zunehmend von anderen Materialien verdrängt, sodass diese Kulturlandschaft und ihr Tierbestand, besonders der Pardelluchs, bedroht ist.
Die Landschaft bleibt gleichförmig, verändert sich kaum. Sie monoton zu nennen, ist übertrieben, dazu ist sie zu hügelig und die Vegetation zu vielfältig. Meine Wanderung gleicht einem erholsamen Spaziergang in einem ausgedehnten Park, der mir allein gehört. Nichts und niemand stören Stille und Idylle, die nur gelegentlich der Kuckuck unterbricht, dessen Ruf mich begleitet. Verborgene Vögel zwitschern ihr Lied für mich. Die vielen Tiere, die in diesem friedlichen Habitat leben, bleiben dem durchziehenden Wanderer verborgen. Es ist traumhaft, durch eine Dehesa zu wandern, durch diese Kulturlandschaft unter Bäumen, die im Sonnenschein leuchtet, und so natürlich wirkt. Friede auf Erden! Mehr ist nicht zu sagen.
Die unbefestigte Vía de la Plata, die rotbraune Piste, schlängelt sich durch die hügelige Dehesa, die ein Naturpark geworden ist. Am Forsthaus La Morilla veranstalten Jugendliche eine Ralley, einen Hindernisparcours durch diesen Park, der kein Ende zu nehmen scheint. Die großen Parks in Berlin, von denen mancher diese Atmosphäre teilt, sind dagegen eine Miniaturlandschaft. In ihrer absoluten Künstlichkeit gleichen sie einem Bonsai oder einem der Aquarien im Berliner Zoo. Eine Dehesa ist ein Park an der Grenze zur Wildnis.
Auf einem Hügel in der Nähe thront eine verwunschene Hausruine, El Berrocal, vor grauen Wolkenpaketen, die der böige Wind über den trüben Himmel treibt. Flankiert von zwei Eukalyptusbäumen wirkt die Ruine mysteriös. Ich habe keine Ahnung, was sich hier einst zugetragen hat, und warum das Gebäude verwaist ist. Ihre Größe, ihre prominente Lage auf einem Hügel, ihr raumgreifender Überblick, ein einfacher Bauernhof war sie sicherlich nicht. Abseits bewohnter Gegenden besteht selten die Möglichkeit zu fragen, und abends bin ich mit Bildern und Fragen beladen, dass ich nicht an alles denke, und nicht für alles Zeit ist. So bleibt die Ruine in meiner Erinnerung eine Fiktion, vor der eine Schar von Fledermäusen vor einer filigranen Mondsichel auffliegt. Die perfekte Szenerie, das spektakuläre Panorama eines Spukhauses in einer Erzählung von Edgar Allan Poe, dessen Mauerreste wie zerbrochene Zähne zinnengleich zum Himmel aufragen. Der Bach an der Hügelbasis überschwemmt den Weg. Die für den Wanderer aufgestellten Steinquader erleichtern mir trockenen Fußes auf die andere Seite zu kommen. Durch ein mit Kiefern neu aufgeforstetes Gelände verlasse ich Stunden später den Naturpark durch ein Gatter, nur um kurze Zeit später durch ein anderes Gatter die nächste Dehesa zu betreten.
Kurz vor Almadén verpasse ich den Carro de Calvario. Steil und schweißtreibend steige ich auf den gegenüberliegenden Berg. Nach stundenlangem Wandern, der Rucksack drückt schwerer und schwerer auf Schultern und Rücken, rückt mein Etappenziel plötzlich in weite Ferne. Zwei Anstiege gibt es zur Auswahl, und ich wähle den falschen Weg. Wieder ist es mir gelungen, eine markierte Strecke zu übersehen. Mich muss der steilere Aufstieg fasziniert haben, der mich an den Jaizkibel im Baskenland erinnert. Letztes Jahr, am ersten Tag meiner Fußreise auf dem Camino del Norte, quälte ich mich zusammen mit Irina, die ich zufällig traf, auf diesen baskischen Berg bei Irún. Ich werde nie vergessen, wie der Wind auf dem Gipfel böig auffrischte und regenschwere Wolken aus der Biskaya an Land trieb. Nur Minuten später war die Sonne, die den ganzen Tag am blauen Himmel stand, verschluckt. Fast übergangslos wurde es kalt und der Nachmittag wurde dunkel wie beim der Einbruch der Nacht. Auf dem Weg nach Almadén de la Plata ist es blendend hell und heiß, und Schweiß tropft mir von der Stirn und läuft mir den Rücken herunter. Heute ist mein dritter Tag, und der erste Umweg liegt vor mir. Mein privater Camino verläuft über mehrere Hügel, steile Anstiege hinauf und durch Unterholz rutschend wieder nach unten, aufregend und abenteuerlich, am Ende einer ohnehin langen Etappe beschwerlich und beunruhigend. Es ist schon später Nachmittag und ich bin in Sorge, dass sich mein Weg allmählich im Gelände verliert, mich unvermeidlich in die falsche Richtung führt. Sylvain Tesson schwärmt davon, im Gelände unterzutauchen. Ich muss mich für solche Eskapaden nicht sehr anstrengen. Ich habe anscheinend ein Faible für Irrwege, denn es passiert mir immer wieder, dass ich die Richtung verliere. Doch jeder Umweg hat seinen Reiz. Dieses Mal finde ich nach zwei Stunden eine Piste. Von weitem sehe ich schon, dass Autos verkehren, und schöpfe Hoffnung auf einen Lift nach Almadén de la Plata. Zwei Spanier, unterwegs zum Arroyo de Portugués um zu angeln, nehmen mich an eine Kreuzung mit, wo sie mir den Weg in den Ort zeigen. Mir wird bewusst, wie nahe ich der portugiesischen Grenze bin. Weitere Kilometer. Inzwischen schleppe ich mich mehr, als dass ich gehe. Eine Gruppe Wanderer, die leichtfüßig und schwatzend zurück nach Hause unterwegs ist, überholt mich. Ich gerate in ihren Sog, lasse mich von ihrer lebhaften Atmosphäre weiter vorwärts ziehen. Es ist erstaunlich, wie die unerwartete Ablenkung meine Lebensgeister weckt. Mit letzter Energie, durstig und hungrig, erreiche ich den Ort. Die erste Herberge, die ich ansteuere, ist bereits belegt, die zweite kommt mir vor wie ein Juwel. Nur neun Betten, keine doppelstöckigen, in einem von den Herbergseltern liebevoll sanierten und eingerichteten Dachgeschoss ihres Hauses. Eine Nacht unter Spaniern, bis auf Camille aus Toulouse, die ich in den nächsten Wochen immer wieder treffe.
Bevor die letzte Energie verpufft beginnt das übliche Ritual: auspacken, das Bett für die Nacht bereiten, die verschwitzte Kleidung waschen, duschen, Proviant für den nächsten Tag einkaufen und etwas zu Abend essen. Und ich esse reichlich, das Menu des Tages, der einzige Gast im einzigen Restaurant des Ortes, gleich gegenüber der Kirche. Niemand sonst scheint hungrig zu sein. Ich brauche Energie und meine Muskeln Proteine; ein weiterer Tag mit Müsliriegeln und Bananen liegt hinter mir. Ich bin glücklich und begeistert, trotz der Anstrengung. Die Ausschüttung von Endorphinen, den körpereigenen Opioidpeptiden aus Hypophyse und Hypothalamus, versüßen mir den Abend. Endorphine regeln Empfindungen wie Schmerz oder Hunger. Sie stehen in Verbindung mit den Sexualhormonen, blockieren die Schmerzwahrnehmung bei schweren Verletzungen und sind verantwortlich für die euphorischen Zustände, die die Herausforderungen des Wanderns auslösen. Das Endorphinsystem aktiviert sich in Notfallsituationen, und die Ausschüttung von Opioiden aktiviert weitere Reserven. Jeder Wanderer kennt das.

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Eine Fußreise, eine tagelange Wanderung, führt in die Wahrnehmung der Welt ein, schreibt David LeBreton, eine Erfahrung, die dem Menschen die Initiative überlässt. Der Homo sapiens begann seine Geschichte als ein Homo viator, als ein wandernder, umherstreifender Mensch, der den aufrechten Gang entdeckte und die Welt eroberte. Gehen ist zuallererst eine körperliche Aktivität, die sich psychisch auswirkt. Gehen heißt, durch den Körper wahrzunehmen, zu spüren und zu empfinden. Gehen fördert und schult die sinnliche Wahrnehmung, öffnet das Bewusstsein für die Umgebung, für die Welt. Gehen ist meditativ. Dabei ist es prinzipiell unwichtig, ob ich durch die Stadt oder über Land gehe. Darüber entscheidet nur die individuelle Vorliebe. Es kommt darauf an, überhaupt wieder zu gehen, nicht nur zum Parkplatz, wo das Auto wartet, oder um die Ecke in den Laden. Die Motorisierung und Automatisierung des Menschen benötigt das Gehen als Gegenentwurf, das ironischerweise seiner eigentlichen Natur entspricht. Gehen ist nicht nur eine Vorwärtsbewegung durch den Raum, gehen verändert den Verlauf der Zeit, gehen führt den Fußgänger wieder zu sich selbst zurück. Gehen ist Yoga, ist atmen, ist Rhythmus, ist Arbeit, ist spüren, ist fühlen, ist Leben. Gehen ist Öffnung zur Welt. Es versetzt den Menschen zurück in das glückselige Gefühl seiner Existenz.

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Der Weg nach Monesterio führt durch das Ortszentrum von Almadén de la Plata. Ich komme an einem runden, von hohen Mauern umgebenen Gebäude vorbei, der Plaza de Toros, der Stierkampfarena und weiter an ein Gatter, das den Weg in die nächste Dehesa öffnet. Gestern Abend übertrug ein spanischer TV-Sender verschiedene Stierkämpfe mit berühmten Toreros. Die Zuschauer auf den Rängen der Arena waren begeistert von dem blutigen Morden im Sand. Mir erschien die ritualisierte Darbietung wie eine Botschaft aus einer imaginären Frühzeit, archaisch und befremdlich, vielleicht aus dem minoischen Kreta, das noch immer mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Ich wusste nicht, dass Stierkämpfe in Andalusien noch immer en vogue sind. Während die Plaza de Toros in Barcelona geschlossen ist, besitzt an der Vía de la Plata jedes kleine Dorf eine eigene Arena. Die Wirklichkeit der Corrida, des Stierkampfs, überkam mich so plötzlich, dass mich die Brutalität und tödliche Präzision der Toreros und die Mitleidlosigkeit seiner Fans entsetzte. Blutkult und Fruchtbarkeitsrituale im modernen Spanien? Im Europa des 21. Jahrhunderts. Leidenschaftlich, emotional aufgewühlt, stürmen stolze, tiefschwarz schimmernde Stiere in die Arena. Inbegriff von Kraft, Potenz und Lebendigkeit. Eine majestätische Erscheinung, gleichzeitig schön und schrecklich. Zuletzt werden sie blutüberströmt mit einem Pferdegespann hinausgeschleift, während ein Mann mit einem Besen hinterhergeht und die blutige Spur verwischt. Bis zum kampffähigen Alter streifen für das Blutopfer gezüchtete Kreaturen frei durch die weiten Dehesas. Ihr ganzes Leben konzentriert sich auf einen einzigen Punk: ihrer Begegnung mit dem Torero in der Corrieda. Nur dazu sind sie da.
Wieder schimmert der Sand rein und unberührt in der Sonne. Als sei nichts geschehen, wartet er auf das nächste Opfer. Zuerst hat mir der Mut der Toreros imponiert. Doch der Stier hat von Beginn an keine Chance. Er folgt seinem Instinkt, der Torero einer ausgeklügelten Strategie. Der Mann ist ausgebildet, zum raffinierten Töten erzogen, das Tier von seinen Instinken gesteuert. Sicher, der Torero besitzt Mut und Verwegenheit, wenn er sich nur wenig mehr als einen Meter entfernt vor den spitzen, gebogenen Hörnern des Stiers elegant bewegt. Es macht ihnen keine Mühe, ihn aufzuschlitzen, während er das mächtige Tier zum Tanz auffordert. Den Torero unterstützen vier Assistenten, die den Stier im kritischen Situationen ablenken. In Momenten, die für den Torero gefährlich werden, flüchtet sich der Held der Arena feige hinter eine Schutzwand, während seine Gehilfen dem überraschten Stier ein halbes Dutzend mit Widerhaken versehene Spieße in den Rücken rammen, deren farbige Banderolen lustig im Wind flattern. Noch steht der Stier, allein und keuchend, stolz im sandigen Rund, in das die ersten roten Tropfen sickern. Wenn der Stier zuletzt abgehetzt, mühsam nach Luft ringend und vom Blutverlust geschwächt, die Kraft für das grausame Spiel verloren hat, ist auch der Kampf entschieden. Der Torero stößt seinen Degen von oben in den Hals des Stiers, bis die Klinge tief im Fleisch versinkt. Noch ein oder zwei Angriffe, und das prächtige Tier bricht mit den Vorderläufen ein, kippt auf die Seite und strbt seinen würdelosen Tod. Ein Dolchstoß ins Genick, und alles ist vorbei. Standing Ovations auf den Rängen. Frauen mit strahlenden Augen, Männer mit anerkennenden Blicken, fliegende Blumen und Hüte. Das Publikum feiert seinen zwielichtigen Helden, den Mörder im bunten Karnevalskostüm. Der verbeugt sich theatralisch, breitet elegant die Armen aus, und fängt die Blumensträuße auf, die durch die Luft wirbeln. Ein Popstar mit blutigen Händen. Das Publikum ist vielschichtig, Menschen jeden Alters und Geschlechts sitzen in den Rängen; darunter auffällig viele junge Frauen, angezogen von der Erotik des tödlichen Spiels. Auch das ist Andalusien: blutige, von Viehzüchtern zelebrierte Rituale, die so sehr Kultur sind, dass sie sich jedem Wandel widersetzen.

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Ein entspannter Aufbruch! Almadén de la Plata, das Dorf mit der Vía im Namen. Wie alt mag der Ort sein, seit wann siedeln Menschen hier? Obwohl der Himmel wieder grau ist, regnet es nicht. Noch nicht. Nur fünfzehn Kilometer brauche ich nach El Real de la Jarra; gegenüber gestern ein Spaziergang. Ein unspektakulärer Tag, eine Wanderung von einer Dehesa in die nächste, ein Gatter nach dem anderen öffnen und schließen, damit kein Weidetier entweicht. Nur selten sehe ich weidendes Vieh am Weg, meistens sind es Kühe; der eine oder anders Stier vielleicht. Gelegentlich grüßt er als stählerne Silhouette aus der Ferne, ein Schattenspiel vor Wolken, durch die mitunter die Sonne lugt. Die Tage, an denen mir die Herden folgen, weil sie mich mit dem Hirten verwechseln, haben noch nicht begonnen.
Immer wieder steige ich auf steilen und steinigen Ziegenpfaden über niedrige Hügel. Später sind es die breiten Wirtschaftswege eines Forstamts. Das nördliche Andalusien ist ein gezähmtes, ein eingezäuntes Land. Ich wandere durch einen Korridor, auf beiden Seiten von schulterhohem Maschendraht begrenzt, der kein links und rechts zulässt. Nur selten gibt es Lücken, sodass ich unter den Bäumen wandern kann. Ein seltsames Gefühl schleicht sich ein, umgeben von Natur, mit ihren Geräuschen, Gerüchen, dem Gesang zahlreicher Vögel, fühle ich mich auf einer Einbahnstraße, die kein freies Wandern erlaubt. Alles Lebendige befindet sich jenseits des Zauns, abgesehen von den Insekten um mich herum: krabbelnde Käfer, durch die Luft taumelnde Schmetterlinge und summende Fliegen, die schnell lästig werden. Vögel sehe ich noch immer keine, aber ihr Gesang schallt aus dem Nirgendwo herüber. Mein Empfinden begleitet seltsame Gedanken. Gehen fördert den freien Fluss des Denkens. Während ich gehe, bewegt sich mein Körper in der Welt, ohne zu einer bestimmten Geschäftigkeit gezwungen zu sein. Ungestört kann ich mich in meinen Gedanken verlieren. Der Rhythmus des Gehens bestimmt den Rhythmus des Denkens. Die Bewegung in der Landschaft stimuliert die Bewegung der Gedanken, ihre Folge und wohk auch ihren Inhalt. Innere und äußere Bewegung spiegeln sich. Eine auffällige Landmarke, ein überraschender Gedanke. So unterschiedlich, wie man glaubt, ist das nicht. Ich frage mich, ob die Zäune und zahlreichen Betreten-Verboten-Tafeln für den Wanderer aufgestellt werden, den man auf dem kürzesten Weg durch private Territorien schleust, um ihn auf dem schnellsten Weg wieder loszuwerden. Immer wieder ein neues Gatter, die nächste Grenze. Manchmal öffnet sich der Weg in die Baumsavanne. Befreit weitet sie sich in alle Richtungen aus und die Vía de la Plata schlängelt sich zwischen Bäumen hindurch oder über schmale Bäche hinweg. Unvermittelt stehe ich vor dem nächsten Tor. Die Gatter sind mit einem Riegel verschlossen oder mit einer Schlinge, oft sind es nur drei oder vier Stecken, die lose mit Drähten verbunden sind. Manchmal unterbricht eine Grube mit querliegenden Stangen den Weg, über die ich mit zwei Schritten hinwegsetze. In den Dehesas ist es so still und friedlich, dass die Anwesenheit von Menschen stört. Ich muss an die weiten Prärien des Wilden Westens denken, einst endlose Streifgebiete des wilden Bisons. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kamen die Rinderbarone die riesige Weideareale für ihre Herden einzäunten, um das Gras vor den vordringenden Schafherden zu schützen. Nach dem Genozid an den Indianern und der Ausrottung der Bisons wurde die ehemals freie Prärie Privatbesitz. In Andalusien sollen nur zwei Prozent des verfügbaren Bodens denen gehören, die ihn bewirtschafteten. Riesige Gebiete sind bis heute im Besitz einiger alter Adelsgeschlechter, Großgrundbesitzer seit Generationen; manche auch unter kommunaler Verwaltung.

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Eingebettet in die Ausläufer der Sierra Norte und Sierra Morena liegt Real de la Jarra, ein weiteres weißes Dorf, von Römern gegründet und nach einer wechselvollen Geschichte im 13. Jahrhundert von christlichen Santiago-Rittern von den Mauren zurückerobert. El Real de la Jarra, einst ein bedeutender Ort, strategisch günstig gelegen, löste sich Mitte des 12. Jahrhundert vom Kalifat Córdoba und schloss sich der fundamentalistisch-islamischen Berber-Dynastie der Almohaden an.
Der Orden de Santiago, ein von Großmeistern geführter Ritterorden, wurde im Verlauf der Reconquista gegründet. König Fernando II. de León übertrug dem Orden 1170 die Oberhoheit über die Stadt Cáceres in der Extremadura. Dort bildete die befestigte Stadt ein Bollwerk im Kampf gegen die Mauren, die damals noch einen großen Teil der iberischen Halbinsel besetzt hielten. Zu Beginn betrachten die Ordensritter den Schutz der Santiago-Pilger als ihre Hauptaufgabe, und nannten sich Santiago vom Schwert. Unter ihrem Einfluss wurde der Apostel Jakobus Santiago Matamoros, der schreckliche Maurentöter. Ihre Insignie, das rote Kreuz in Form eines Schwerts, ist in der Extremadura noch immer als Wegekreuz zu sehen. Im 13. Jahrhundert beherrschte der Orden große Regionen in der Extremadura, erwarb riesige Ländereien durch seine Eroberungen und durch die Schenkungen der Krone. Er erwirtschaftete ein großes Vermögen aus landwirtschaftlichen Gütern und Viehherden, Brücken-, Markt- und Wegezöllen sowie Pachtzinsen unter dem Privileg der Steuerfreiheit. Um ihre politische Bedeutung und Machtfülle zu brechen, erwirkten die katholischen Könige, Isabela und Fernando, eine Bulle von Papst Alexander VI., die es ihnen ermöglichte, das Vermögen des Ordens zu konfiszieren.
Die Menschen im Ort begegnen mir freundlich, bleiben aber reserviert. Neugierig interessierte Blicke berühren die durchreisenden Wanderer, die aus einer anderen Welt durch ihr abgeschiedenes Dorf kommen, nur flüchtig. Deren Wirklichkeit können sie sich nicht wirklich vorstellen, und auch ich bezweifele, dass es mir gelingt, ihre Lebenswelt im Vorübergehen nachvollziehen zu können. Der Fremde bleibt fremd in der Fremde. Erstaunt, vielleicht ungläubig, werden sie sich fragen, was uns alle auf diese Fußreise führt. Doch Pilger genießen in Spanien hohen Respekt, der ihrer Rolle gilt, nicht dem Individuum, denn die Santiago-Pilgerfahrt besitzt in Spanien eine lange Tradition. Wer durch das ländliche Spanien wandert, dem fällt es schwer zu vergessen, dass er durch ein katholisches Land geht. Pilgern, die Hinwendung zum Heiligen, ist magischer Kult und Heiligenverehrung, ein langer, mühsamer Weg, den der Pilger auf sich nimmt, um dem Heiligen zu begegnen, ihn am Ende der Wanderschaft zu berühren, ihn zu umarmen. Kein auf dem Papier vermerkter und gekaufter Sündenerlass. Wünsche soll er erfüllen, und von Schuld befreien. Pilgern ist ergangener Ablasshandel, Kontaktmagie der Sinn der Reliquienverehrung. Durch die Berührung des heiligen Jakobus in der Kathedrale von Santiago de Compostela überträgt sich dessen Aura auf den Adepten. Wer den Pilger auf seinem Weg unterstützt, ihm freundlich und hilfsbereit begegnet, partizipiert an dessen Pilgerfahrt in der Hoffnung, dass er ihn in seine Gebete einschließt. Pilgern ist alles andere als ein einsames, individuelles Unternehmen. Pilgern ist Communitas in der liminioden Phase eines Übergangsrituals.

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Das nördliche Andalusien ist dünn besiedelt. Die Vía de la Plata führt durch einsame und abgeschiedene Gegenden. In ein anderes Dorf oder die nächste Stadt komme ich immer erst nachmittags. Nicht einmal Weiler gibt es unterwegs. Askese und erst recht keine Bar für das leibliche Wohl. Nichts zu trinken oder zu essen, keine Brunnen oder Wasserspender. Auf den nördlichen Jakobswegen finden sich immer wieder komfortable Möglichkeiten zu rasten oder einzukehren; Brunnen, um die Wasserflasche nachzufüllen, sind zahlreich. Auf der Vía de la Plata ist es einsam, nur wenige Pilger sind unterwegs, die sich schnell im Gelände verlieren. Meistens wandere ich allein nach Norden, selten, dass ich jemanden treffe. Meistens nur ein kurzer Gruß, ein Buen Camino, gelegentlich ein kurzes Gespräch, seltener ein gemeinsames Stück des Weges. Einsamkeit ist Teil des Pilgern, Zeit, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, mit sich selbst zusammen zu sein. Ich bin ich stundenlang allein mit mir. Gemeinschaft findet an den Abenden in den Herbergen statt. Die Freude darüber, nicht der einzige zu sein, das Gefühl, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein, trägt mich über den Weg. Es scheint, jeder versinkt in seinen Empfindungen und denkt seinen Gedanken hinterher. Die Zeit zerfließt, und Dalis weiche Uhren erscheinen mir plötzlich real. Weiße Kaninchen kreuzen meinen Weg und eine Haselmaus räsoniert über veränderte Bewusstseinszustände. Ich würde mich auflösen, wäre nicht die ungewohnte Anstrengung, die meine Aufmerksamkeit in der Wirklichkeit verankert. Wieder regnet es. Der Himmel gefällt sich im durchgehenden Kumulustratus. Er verspricht mir noch mehr Regen. Eine kleine, familiäre Herberge für die Nacht. Ein Milchkaffee in einer Bar, später ein Salat im Restaurant, die Energie für die nächsten zwanzig Kilometer bis Monasterio.

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Inzwischen ist es schon lange dunkel. Zeit hat sich für eine Weile zur Ruhe gelegt. Die Bar El Chali hat sich mit Gästen gefüllt. Über einen großen Monitor flimmert der nächste Stierkampf. Die dorfeigene Arena veranstaltet diese Events nur an Feiertagen. Alle anderen Tage ist der Kampf von Mann und Tier digital. Es scheint mir bezeichnend, dass sich keine Torera, keine Stierkämpferin, gibt. Die Männer haben sich im Halbkreis um den Bildschirm versammelt, der an der Decke, hoch über ihren Köpfen hängt. Sie schauen gebannt nach oben, kommentieren lautstark das Geschehen. Inzwischen sind auch Frauen eingetroffen, die nicht lange bleiben. Die Bars und Cafés gehören den Männern. Hier sind sie unter sich. Noch ein Rest des Orients, der an die türkischen Kaffeehäuser und Teestuben in Berlin erinnert. Die Lautstärke nimmt weiter zu, und sticht mir nach der Stille der Refkexion unangenehm in den Ohren. Ich spüre, wie mein Stressspiegel steigt. Ich war in das Schreiben vertieft, und als ich hochschaue, sitzen mir im Halbkreis Männer gegenüber, und ich selbst unter dem Monitor.


Weiterlesen: Auf Jakobswegen ans Ende der Welt

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