17 August 2021

Pilgern - einst und jetzt


Ein peregrinus war im frühen Mittelalter der Fremde, der aus welchen Motiven auch immer unterwegs war. Auch falsche Pilger, Räuber und Betrüger, konnten sich in diese Rolle hüllen, und ihre wahren Absichten verbergen, sodass Pilgerfahrten im Mittelalter weitaus gefährlicher waren, als sie es heute sind. Der mittelalterliche Pilger trug verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitmierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh dem Pilger einen offiziellen Rechtsstatus, den habitus peregrinorum, der ihn schützte und unterwegs unterstützte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben Pilgerhut und -umhang, sind im Jakobusbuch Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert, und machten ihn als Pilger kenntlich. Die Tasche war klein, fasste im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, nur wenig persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der alte Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab als dritter Fuß des Pilgers symbolisierte die göttliche Trinität. Der Pilger ein franziskanischer oder buddhistischer Betelmönch. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im 8. Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben.
Im Verlauf des Mittelalters differenzierten sich die unterschiedlichsten Typen von Pilgern, die aus verschiedenen Motiven unterwegs waren. Das freie Pilgern ohne festes Ziel des Mönchstums im frühen Mittelalter des 6. bis 8. Jahrhunderts, dass die Athosmönche beibehalten haben, wurde seit dem 8. Jahrhundert durch Pilgerbewegungen an besondere Reliquienorte abgelöst, an denen körperliche Überbleibsel von Heiligen den Gläubigen gezeigt wurden. Diesen mutete man im Sinne einer Kontaktmagie übernatürliche Kräfte zu, die man sich für das alltägliche Leben oder Seelenheil zunutze machen wollte. Die von Heiligen oder Märtyrern hinterlassenen Reliquien, von ihnen benutzte Gegenstände oder Teile ihrer selbst, so glaubte man, behielten über deren Tod hinaus einen Teil ihrer Aura, eine heilsame leiblich spürbare Schwingung, die sich auf den verehrenden Pilger übertrug. Indem der Pilger diese Gegenstände berührte, war es ihm möglich, an diesem persönlichen Kraftfeld zu partizipieren.
Im 11. Jahrhundert steigerten Ablässe und Sündennachlässe die Attraktivität des Pilgerns, das im 14. Jahrhundert zur Massenbewegung wurde, da Papst Benedikt VIII. den Gläubigen, die nach Rom pilgerten, den vollsten Ablass gewährte. Pilger, die ein Gelübde abgelegt hatten, das sie zur Pilgerfahrt verpflichtete, Auftrags- und Delegationspilger sowie Straf- und Bußpilger, auch unter körperlich erschwerten Auflagen bestimmte Körperhaltungen einzunehmen oder Ketten und Fußeisen zu tragen, stellten weitere Untertypen mittelalterlichen Pilgern dar. Eine etwas skurrile Form des Pilgern war das Pilgern im Geiste, für Menschen konzipiert, die nicht mehr dazu in der Lage waren, die Mühen einer echten Pilgerfahrt auf sich zu nehmen. Bestimmte kontinuierlich ausgeführte Mund- und Gebetsbewegungen ersetzten das Gehen, etwa 8 000 Vater Unser für den Weg nach Jerusalem oder Santiago de Compostela.
Die im Verlauf der Jahrhunderte entwickelten Pilgertypen machen darauf aufmerksam, dass dieser eine hochgradig regulierte, religiöse Sozialfigur war (und noch immer ist), dessen sich die institutionalisierte Kirche zunehmend bemächtigte. In der Gegenwart sind diese Pilgertypen verschwunden. Übrig geblieben ist vielleicht ein Hauch des freien Pilgerns der frühmittelalterlichen Mönche, für die Pilgern eine Lebensform war. Für den neuen Pilger ist dies aber nur bedingt richtig, sodass es besser ist, vom Pilgern als Lebensabschnittsform zu sprechen. Auch wenn M.N. Ebertz augenzwinkernd fragt, ob nicht Pilgern heutzutage eher eine sozialpädagogische Intervention der Krisenbewältigung ist, so verbindet den alten und neuen Pilger doch der Sachverhalt, dass beide nach etwas auf der Suche sind, dass über sie selbst hinausgeht. Es ist deshalb auch nicht falsch, anzunehmen, dass Ärzte, Sozialarbeiter und Psychologen die Priester einer neuen Welt geworden sind, in der nun von Psychotherapie oder Spiritualität statt von Religion gesprochen wird. Ob dabei die Vorgaben wissenschaftlicher Orientierungen dem Individuum einen größeren, spirituellen Spielraum lassen, als im Mittelalter die institutionalisierte Kirche, will ich einmal dahin gestellt sein lassen. Wenn das mittelalterliche Unterwegssein der Pilger von der Kirche dominiert wurde, so unterliegt das moderne Pilgern den Erfordernissen der Tourismusindustrie, die beispielsweise definiert, wie man sich als Pilger oder Wanderer zu kleiden und auszurüsten hat. Den modernen Pilger machen nicht mehr Pilgertasche und Pilgerstab aus, nach einer vorgegebenen Form gefertigt und rituell verliehen, sondern Rucksack und Teleskopstöcke, vor deren Kauf er sich in Fachgeschäften beraten lassen kann. Aber verändert das andere Äußere zugleich das Phänomen und seine soziale und individuelle Funktion? Ich denke, dass das nur teilweise geschieht. Alte Formen lassen sich beliebig mit neuen Inhalten füllen. Die neuen Inhalte verändern die überlieferten Formen aber viel geringer, weil die neuen Inhalte sonst zu sehr Bedeutung und Sinn verändern, und die Form ihren tradierten Sitz im Leben verliert.

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Moderne Pilgerreisen sind freiwillig und im grenzoffenen Europa an keine Genehmigung mehr gebunden. M.N. Ebertz nennt das Pilgern zurecht entkirchlicht, irrt aber darin, wenn er meint, es bedürfe anderer Steuerungsmittel. Im Gegenteil, die Pilgerfahrt steuert sich durch die Anwesenheit des Pilgergedankens, den Tausende von Pilgern mantraartig ausatmen. Eine fehlende, zentrale Steuerung demokratisiert das Pilgern um so mehr, je weniger Hierarchien eingeführt werden. Je mehr das Pilgern freiwillig und individuell entschieden wird, ohne unmittelbaren Rückgriff auf konfessionelle Institute, desto besser gestalten sich Kontakt und Kommunikation innerhalb der gemeinsam allein Pilgernden. Einen eigenen Rechtsstatus oder Sonderrechte aufgrund seiner für die Gemeinschaft wichtigen Rolle, wie im Mittelalter üblich war, sind dem modernen Pilger nicht nur verwehrt, er braucht sie nicht. Moderne Pilger sind entprivilegiert, die Pilgerfahrt entinstitutionalisiert und von institutionellen Strukturen und Hierarchien weitgehend befreit. Allenfalls spielen private Wertvorstellungen, Vorbilder und Idole eine Rolle bei der Entscheidung für eine Pilgerfahrt.
In Anlehnung an die Neue Phänomenologie des Kieler Philosophen Hermann Schmitz unterscheidet Detelf Lienau zwei Formen der leiblich-körperlichen Prägung durch das Pilgern: einen passivischen und einen aktivischen Typus. Durch zahlreiche Interviews mit Jakobspilgern definiert er das Pilgern als subjektzentriertes Phänomen religiöser Erfahrung.
Der passivische Pilger öffnet sich der Umgebung. Er lässt sich von ihr bestimmen und setzt sich ihr so lange aus, bis die Grenze zwischen Pilger und Umgebung unscharf wird und er beginnt, leiblich mit der Umgebung zu verschmelzen. Diese Pilger erleben sich als Teil des Wegs, der sie umgebenden Landschaft und Natur. Um zu erfahren, was sie wirklich sind, verlieren sie ihren Selbstbezug als autonomes Individuum. In freiwilligem Kontrollverlust geben sie ihre Selbstbestimmung auf und werden absichtlich absichtslos. Diese Haltung bezeichnet der Daoismus als Wu Wei, ein religiös-philosophisches Konzept, das erstmals im Daodejing formuliert wurde. Wu Wei bezeichnet eine Haltung der inneren Stille, die zur richtigen Zeit um die richtige Handlung weiß, ohne Anstrengung des Willens. Im Wu Wei verliert sich der Intellekt, das Individuum handelt intuitiv und an die Situation angepasst, ohne Gedanken an das beste Handeln. Im Zustand des Geschehenlassens erscheint es sinnlos seine Energie in unfruchtbaren Gedanken und Handlungen zu erschöpfen. Das I Ging empfiehlt: Ohne Absicht bleibt doch nichts ungefördert; denn man ist nie im Zweifel, was man zu tun hat. Dem passivischen Pilger geht es nicht um Selbstverwirklichung. Er will sich einem Größeren als sich selbst anvertrauen, dass er in der leiblichen Kommunikation mit der Landschaft und dem Weg zu finden hofft.
Carmen Rohrbach schildert diese Pilgererfahrung in ihrem Buch Jakobsweg. Wandern auf dem Himmelspfad. Ihre eigene Erfahrung gibt ein gutes Beispiel für die Haltung des passivischen Pilgerns. Das Gehen auf dem Weg empfindet sie als Gleichklang zwischen [sich] und der Umwelt. Vom Rhythmus der Schritte getragen tauche ich ein, verschmelze mit der Landschaft. Und während sich die Konturen des Körpers verlieren, erfahre ich mich innerlich geweitet bis zum Horizont, ein leiblicher Zustand, den Hermann Schmitz in den Begriff der privativen Weitung des Leibes fasst, dem die Enge des Leibs des aktivischen Pilgers gegenübersteht.
Ein aktivisch orientierter Pilger agiert intentional und zielorientiert. Angesichts der Landschaft, des sich ständig wandelnden Raums, fordert er sich heraus, versucht sich selbst zu überwinden, indem er dem Pilgerweg sein Leistungsideal aufzwingt. Er nähert sich dem ihn umgebenden Raum nicht vertrauensvoll empathisch, sondern bewusst kontrollierend. Empfindet sich der passivische Pilger als Subjekt, stellt sich der aktivische Pilger dem Weg als Objekt gegenüber, das sich autonom fühlt, indem es sich selbst überwindet. Gibt sich der passivische Pilger seiner Umgebung akzeptierend hin, sucht den Einklang mit ihr, bekämpft ihn der aktivische Pilger und schafft eine Distanz zwischen sich und der Umgebung. Indem der aktivische Pilger das affektive Betroffensein durch seine Umgebung vermeidet, geht ihm das unmittelbare Erleben des passivischen Pilgers verloren, denn sein Handeln ist absichtsvoll und sein Empfinden rational vermittelt. Anders formuliert: Der aktivische Pilger steht seinem leiblichen Spüren fremd gegenüber, da sich sein Handeln und seine Wahrnehmung auf die Grenze seines Körpers mit der Umgebung konzentriert, an der er glaubt, sich beweisen zu müssen.
Paulo Coelho ist der Prototyp des aktivischen Pilgers, jemand, der sich des eigenen Körpers bemächtigt, um die Herausforderungen des Jakobswegs zu bewältigen. Das zentrale Motiv seiner Reiseerzählung von 1987, Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela, ist die Selbststeigerung, die Disziplinierung durch körperliche und geistige Anstrengung. Der Sinn des Pilgerns erfüllt sich für ihn darin, dass er sich etwas zumutet. Coelho erschafft sich durch die willentliche Instrumentalisierung seines Körper selbst, durch den Kampf gegen sein eigenleibliches Spüren, das befremdend an Nietzsches Wille zur Macht erinnert.
Doch es ist stimmiger, die beiden Pilgertypen genderspezifisch aufzufassen. Aktiv-männlich und passiv-weiblich sind, wenn das auch heute nicht gerne gehört wird, universale Kategorien der Conditio humana, die in einem konstruktiven Miteinander wohltuend, unter den Bedingungen der sozialen Entfremdung aber destruktiv degeneriert sind. Detlef Lienaus Definition reflektiert in seinen Pilgertypen einen weiblichen und männlichen Zugang zum Umgang mit Leiblichkeit und Lebenswelt. Pilgern gehört interkulturell zu den Techniken der Leibbemeisterung und ist vergleichbar mit den Körpertechniken des Body-Consciousness, mit Fitness und Wellness. Das nach innen gerichtete passivische Pilgern steht dem Body-Consciousness nahe, das leibliches Spüren nutzt, um etwas über sich selbst zu erfahren. Da sich der Mensch nur durch sein eigenleibliches Spüren seiner selbst gewahr werden kann, stellt die leibliche Erfahrung der Umwelt einen unvermittelten, authentischen Zugang zu sich selbst dar. Das passivische Pilgern dient, wie das Body Consciousness, der Selbstvergewisserung im Spüren am eigenen Leib in einem Raum-Zeit-Kontinuum. Die Haltung des aktivischen Pilgerns orientiert sich dagegen, wie Fitness und Wellness, an der selbst-bestimmten und selbst-kontrollierten Formung des Körpers zur Steigerung der eigenen Vitalität. Während Fitness die Selbstbemächtigung des eigenen Körpers forciert, fördert Wellness die Harmonisierung von Körper, Seele und Geist, wobei auch hier die kontrollierte Selbstbestätigung im Vordergrund steht.

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Moderne Pilger unterscheiden sich am deutlichsten dadurch von ihren mittelalterlichen Brüdern und Schwestern, weil für sie die Reliquienorte nicht mehr von zentraler Bedeutung sind. Es ist die Magie des Gehens auf dem Weg, eine Metapher für das Leben selbst, das einen großen Teil der Pilger motiviert. Der moderne Pilger ist nicht konfessionell, er ist spirituell-religiös orientiert, denn sein Blick richtet sich gleichzeitig auf die Mysterien seiner Existenz sowie auf den äußerlich und materiell vorhandenen Pilgerweg. Auf diesem Weg in der äußeren Welt geht er gleichzeitig seinen eigenen inneren Weg, der nicht einfach vorhanden ist, sondern den er sich während des Pilgerns er=geht. Wenn der moderne Pilger die alten Wege geht, ist er sich dessen bewusst, dass vor ihm Jahrhunderte lang Hundertausende oder mehr den gleichen Weg gegangen sind. In ihren Spuren kann er noch immer die mystisch aufgeladene Potenz des Weges spüren.
Während Frömmigkeit, und der Glaube an die Unfehlbarkeit der kirchlichen Autoritäten, der Sündennachlass, Leitmotiv des alten Pilgers waren, so ist eine individuell verstandene und gelebte Spiritualität Merkmal des modernen Pilgers. Ein spiritueller Pilger zu sein bedeutet, für eine gewisse Zeit kein geordnetes, an alltäglichen Strukturen orientiertes Lebensziel mehr zu haben. In der Liminalität des Pilgerrituals erneuert er durch das Gehen seinen Lebensweg. Und so wirft sich der Pilger in die Pilgergestalt, und sucht und sucht und findet vielleicht, was ihn unbedingt angeht.

Literatur

Michael N. Ebertz, Alte und neue Pilger, in: Patrick Heiser und Christian Kurat (Hg.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, Münster, 2014.
Detlef Linau, "Mein Körper vibriert vor Dankbarkeit". Leibliche Erfahrung beim Pilgern, in: Patrick Heiser und Christian Kurat (Hg.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, Münster, 2014:193-220.
Carmen Rohrbach, Jakobsweg. Wandern auf dem Himmelspfad, München, 2013.

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