22 April 2021

Pilgern? Weshalb überhaupt?


Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert, schreibt Paul Coelho in der im eigenen, oft als schwülstig empfundenen Sprache. Doch es gibt Ausnahmen wie bei Henry David Thoreau, der nicht im Verdacht steht, einer leeren Spiritualität das Wort zu reden. In seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern fordert auch er seine Leser auf, in Richtung ihrer Träume zu leben. Dann werden sie Erfahrungen machen, verspricht er, die sie sich gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Fußreisen, die sich in postmodernen Zeiten vollständig von der ideologischen Doktrin des Pilgerns gelöst und dafür einen Hauch Subversivität gewonnen haben.
Als ich aufbrach, habe ich mich nicht gefragt, ob ich ein Pilger bin, wenn ich auf Pilgerwegen wandere, die von ungezählten Pilgerfüßen in die Landschaft getreten wurden, Spuren, die nicht verwehen; selbst Jahrhunderte später nicht. Ich war auf Wegen, Orte, Landschaften und Artefakte zu erkunden, denen die Anwesenheit unzähliger Fußreisender eingeschrieben sind, jahrhundertelang. Durch Dörfer, die vorspiegeln, es habe sie schon immer gegeben. Durch Landschaften, deren Transitheiligtümer, Kirchen und Paläste Geschichte atmen. Ich habe mir Fußreisen vorgestellt, lange Wanderungen und Pilgerfahrten. Sie wurden anders als ich erwartet habe, die vielen Wege, die ich gegangen bin. Wie Flüsse mündeten sie in den Ozean, wie Gefühle in Gedanken, ein Strom erweitertes Leben. Ferne Horizonte rücken in meinem Blick, anfangs verborgener, doch stets auf ein Ziel gerichtet, das ich selbst war. Auf meinen Reisen bin ich den Vielen begegnet und habe Vieles gefunden, ich selbst war immer Teil von allem. Dieses Ziel liegt immer am anderen Ufer, jenseits des Vertrauten, inmitten der Liminalität. Mittendurch führt der Weg ans Ziel, nicht außen herum, und selten geradeaus, das wusste nicht nur Parzival, dessen Namen manche so übersetzen. Der richtige Weg ist unvermeidbar, sonst gilt Adornos Wort: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Zukunft ist Apräsenz! Der erste Schritt einer Wanderung, gleichgültig, wie man sie nennt, führt immer in einen Schwellenzustand. Altes trägt nicht länger, Neues muss erst erworben werden: Abschied und Neubeginn, dazwischen liegt die Gegenwart der Fußreise, einer Wanderung oder Pilgerschaft. Wer sonst bricht zu einer solchen Wanderung auf? Der Wanderer wird zum Schwellenwesen, zum Pilger, wenn er die zwischen den beiden Polen liegende liminale Zone betritt, die hybride Sphäre, in der Zeit und Raum eine andere Qualität annehmen. Zu Hause findet man sie nicht. Heimat kann überall und in allem liegen, genauer kann ich es sagen. Unerwartet wie der Dieb in der Nacht tritt sie ein: Die Zeit loszulassen. Plötzlich gibt es nur noch eine Entscheidung: Dafür oder dagegen. Was als vager Wunsch begann, entwickelt sich zu einem unabweisbaren Bedürfnis. Dem Dieb seine Beute zu verwehren, ist unmöglich geworden.
Der Fokus des modernen Pilgers liegt auf seinem affektiven Betroffensein von den Atmosphären, die ihm auf dem Weg begegnen und zu denen er eine leibliche Beziehung eingeht. Weniger im Besuch der mit Bedeutung aufgeladenen Orte und Gebäude. Die Diversität moderner Pilger, deren Herkunft und Motivation, löst sich vielfältig in der Einheit der Pilgergemeinschaft auf, in einer Einleibung, die Victor Turner als Communitas beschrieben hat. Das Wiedererstarken der Pilgerbewegung ist in Bewegung geratene Spiritualität, die sich immer mehr von den Dogmen der katholischen Kirche lossagt. Die zentrale Motivation modernen Pilgerns scheint in der Suche nach neuem Sinn in einer globalisierten Welt mit ihren zunehmend entpersönlichten Beziehungen zu kulminieren. Sie einseitig einer Konfession zu überlassen, beraubt sie ihrem kreativen Potential. Ein neues Zurück zur Natur, ausgelöst durch eine Klimakrise von weitgehend uneingestandenem Ausmaß, hat zu einem Bedürfnis nach Reinigung und einer Sehnsucht nach Reinheit geführt, die die Werte der kapitalistischen Weltanschauung nicht mehr generieren kann. Die Bewegung in der Natur, probeweises Loslassen einer erstarrten Lebenswelt, ist zu einem Synonym für Veränderung geworden, dass nicht nur die Jugend der Welt auf die alten Wege führt, die schon immer einen Ausweg aus einer Krise versprachen. Dieses Bedürfnis nach Sinn erwächst aus der Entfremdung des einzelnen Menschen von seiner vertrauten Lebenswelt, die zu einer wachsenden Unsicherheit über seine Identität, zu Zukunfts- und sozialen Ängsten, geführt hat. Rituale der Selbstvergewisserung sind wieder en vogue, sodass Pilgern neben der rituellen auch eine therapeutische Dimension gewinnt, wenn sich beides überhaupt trennen lässt. Pilgern bietet eine rituelle Struktur in einem ahierarchischen und unstrukturierten, freiheitlichen Raum für einen psychischen Entwicklungsschritt, der Experimente mit sich selbst ermöglicht. Anders als die drogeninduzierte Bewusstseinserweiterung der Hippiebewegung, die dem psychedelischen turn on - tune in - drop out Timothy Learys folgte, führt die aktuelle, bewegungsorientierte Selbstvergewisserung an die unsichtbare Grenze, von der Thoreau spricht, an der neue und freiere Gesetze erfahrbar sind. Beiden Subkulturen gemeinsam - Hippies oder Globalisierungsgegnern - dient die Konsumverweigerung als Abwendung und Abgrenzung von gesellschaftlichen Normen, die eine universelle Verwertung propagieren, und dafür eine universelle Zerstörung in Kauf nehmen - von Individuum und Natur. Der Prozess einer Fußreise - oder einer Pilgerfahrt, die Selbsterfahrung und Reflexion zumutet - ereignet sich mit den Mitteln der eigenen lebensweltlichen Erfahrung des Pilgers, der Vorstellung sein Leben als Reise aufzufassen, die er seinen eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten anpasst. Das Ziel dieser Reise ist nicht länger ein geographischer, mit jenseitiger Symbolik aufgeladener Ort, verzeichnet auf einer Landkarte, kartografiert auf einem Straßenatlas, weder ein Heiliger noch ein geheiligter Ort. Das Ziel, zu dem sich der moderne Pilger auf den Weg macht, ist ortlos, allenfalls in seiner Innenwelt auf einer psychischen Landkarte symbolisch vorhanden. Das Ziel des modernen Pilgers liegt in ihm selbst. Unterwegs auf dem Weg zu sich selbst, entwirft und verändert er seine eigene Geschichtenkarte, die gleichzeitig seine äußere Landschaft und seine psychische Befindlichkeit beschreibt. Ihr besonderes Merkmal besteht darin, dass sie die Erlebnisse des Pilgers in ihr thematisiert und markiert. Robert Macfarlane, der diese Metapher verwendet, erläutert ausführlich, was eine Geschichtenkarte von einer auf Daten reduzierten Karte unterscheidet, die den Raum unabhängig vom Sein erfasst: Geschichtenkarten, schreibt er, stellen Orte so dar, wie Individuen oder Kulturen sie wahrnehmen, die sich in ihnen bewegen. Anstatt einen Ort zu beschreiben, der unendlich oft bereist werden könnte, zeichnen sie einzelne Reisen nach. Eine Geschichtenkarte rankt sich um das Erleben des Reisenden, und die in ihr gesetzten Grenzen ergeben sich aus dem Gesichtskreis und Erfahrungshorizont des Reisenden. Ereignis und Ort sind nicht mehr genau voneinander zu trennen, da sie in Wechselwirkung zueinanderstehen. Die wochenlange Bewegung zu Fuß durch eine Landschaft wirkt magisch und mystisch zugleich. Sie öffnet naturräumliche Dimensionen voller »göttlicher Atmosphären«, die den Pilger psychisch zutiefst betreffen. Unterwegs stellt sich absichtslos eine neue Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt ein, die Hoffnung auf einen zukünftig sanfteren Fußabdruck macht.

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