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13 Oktober 2023

Der galicische Karneval


Was du siehst,
hängt von der Richtung ab,
in die du schaust.

Endlich zurück in Galicien. Nach einer Nacht, in der die Schnarcher wieder einmal den Schlafsaal beherrschten, verlasse ich die Altstadt von A Gudiña an der Gabelung Laza - Verin, wo der Camino Sanabrés zwei Varianten nach Ourense ermöglicht: die Südroute über Verin, wo der Caminho Português die Vía de la Plata erreicht, oder die landschaftlich reizvollere Etappe über Laza. Auf einem asphaltierten Höhenweg mäandert der Weg auf tausend Metern auf- und abwärts. Die Ausblicke über Galiciens Rollings Hills sind atemberaubend, die Landschaft weiter karg, die Vegetation spärlich und die wenigen Bäume klein und schmächtig. Endlose Heide. Gelb- und lilablühende Sträucher bedecken die Hänge der weich fließenden Hügellandschaft. Der Camino Sanabrés kreuzt mehrere Vendas, kaum Weiler zu nennen, ehemalige Raststätten an einem alten Handelsweg durch Galicien. In A Venda Do Capelabin bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht durch ein Geisterdorf wandere; verfallene Häuser, fast Ruinen. Selbst ein Hund, der einsam durch das Dorf streift, zieht sich vor mir zurück, als gehöre er nicht hierher. Die Bahnarbeiterunterkünfte am Rand von A Venda do Balaña stehen leer und verfallen, als ob es bereits Jahrzehnte her ist, dass hier jemand gewohnt hat. Der Ort besitzt einen Bahnhof an der alten Bahnstrecke, mit 182 Tunneln ein Meisterwerk der Ingenieurkunst. Ist erst einmal die neue AVE (Linea de Alta Velocidad Madrid - Ourense) fertig, die über Olmedo, Zamora, Pueblo de Sanabria und Lubián nach Ourense führt, dann versinkt die alte Trasse in der Bedeutungslosigkeit, und mit ihr die Ortschaften entlang ihrer Spur. Es sei denn, jemandem fällt es ein, einen regionalen Wanderweg vorzuschlagen. Weiter auf dem Galicien-Höhenweg bleibt der Blick über die Berge spektakulär, die wie hintereinander geschichtet wirken. Immer wieder überholen mich Roadrunner, die, ohne den Blick nach rechts oder links zu wenden, mit schnellem Stechschritt durch die Landschaft eilen, als ob sie schnell irgendwo ankommen müssen. Ein kleiner, kompakt gebauter Spanier, den ich das erste Mal auf den Pass von Dueña, hinauf ans Cruz de Santiago, gesehen habe, wo er auf die Straße abbog, überholt mich auch heute im Marschschritt. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass er gerade seinen Militärdienst absolviert hat, und sich so schnell nicht umstellen kann. Wie anders bewegen sich da die passiven Wanderer, die nichts leisten müssen, die in der Landschaft aufgehen, und viel langsamer vorwärtskommen. Ein letzter Pass, steil und steinig, rutschig auf zerbrochenen Schiefer, kleine Steinchen, wie gehäckselter Schrot unter den Sohlen. Überall ragen schräg geschichtete Schieferplatten aus dem Boden hervor. Braun verwittert, wirken sie zerbrechlich. Die dünnen Platten zerbrechen unter meinem Tritt wie morsches Holz. Der Abstieg nach Campobecerros. Meine Etappe neigt sich dem Ende zu, und ich kann den Weiler bereits am Fuß einer steilen Geröllhalde sehen, hier und da grüne Flecken krüppeliges Strauchwerk. Ein letztes Mal stolpere ich steil und rutschig abwärts, das Gefühl über gleitenden Untergrund zu gehen. Mit schmerzenden Knien erreiche ich die Herberge. Zwei Stunden später sind alle 18 Betten belegt.

30 April 2021

Unterwegs auf der Vía de la Plata


Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar
.
Mario Erdmann

Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und Lebensart und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die sich in einer Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist, und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.

22 April 2021

Pilgern? Weshalb überhaupt?


Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert, schreibt Paul Coelho in der im eigenen, oft als schwülstig empfundenen Sprache. Doch es gibt Ausnahmen wie bei Henry David Thoreau, der nicht im Verdacht steht, einer leeren Spiritualität das Wort zu reden. In seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern fordert auch er seine Leser auf, in Richtung ihrer Träume zu leben. Dann werden sie Erfahrungen machen, verspricht er, die sie sich gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Fußreisen, die sich in postmodernen Zeiten vollständig von der ideologischen Doktrin des Pilgerns gelöst und dafür einen Hauch Subversivität gewonnen haben.