06 Oktober 2020

Intermezzo Grünes Band

Der Blues des Wanderns trägt
den Abschied im Gepäck.

Früh am Morgen hat dichter Nebel die Welt am Rennsteig verschluckt. Weit sehen kann ich nicht, denn die wabernde Unschärfe hält meine Umgebung verborgen. Der Weg, der an meinen Füßen beginnt, schlüpft nicht weit entfernt unter die feuchte Decke und bleibt verschwunden. Daran ändert auch nicht, dass ich weiter gehe. Mir kommt es vor, als ob ich Watte vor mir herschiebe, die sich nicht wegschieben lässt, und sich beharrlich an den Abstand zwischen uns klammert. Pedantisch, denke ich, so zwanghaft darauf zu bestehen, sich nicht näher zu kommen. Es riecht erdig, etwas modrig, die Luft ist feucht, benetzt mir Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzen im kühlen Wind. Ich kann sie fühlen, nicht sehen, denn sie verstecken sich vor mir im grauen Nichts. Die Straßen von Schmiedefeld am Rennsteig liegen verlassen. Niemand geht zur Arbeit oder zur Schule. Erst an der Landstraße wird es laut. PKW und Schwerverkehr donnern lärmend an mir vorbei als gibt es niemanden so früh am Tag. Kein Mensch ist unterwegs, nur ein braun gescheckter Hund mit feuchtem Fell schnuppert in alle Ecken. Ich warte lange auf den Bus, der so früh am Morgen bereits verspätet ist. Er kommt erst, als ich ihn fast aufgegeben habe. Und er ist leer. Der Fahrer sitzt in einem Verschlag, isoliert hinter einem durchsichtigen Vorhang aus Plexiglas, der an Ringen von einer Stange herunterhängt. Geschützt vor dem Virus, der die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat. Ganz unten ist ein schmaler Schlitz offengeblieben, durch den ich meine Münzen in eine Mulde legen kann, durch den mir der Fahrer den Fahrschein zuschiebt. Nach Neustadt am Rennsteig bleibe ich der einzige Fahrgast. Für mich eine angenehm maskenfreie Fahrt, was inzwischen schon keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Für den Betreiber ein Verlustgeschäft. Noch einmal schleicht sich das Gefühl der letzten Tage ein, allein auf der Welt zu sein.

Nach sechs Tagen wandern am Grünen Band treffe ich eine Entscheidung: Ich wechsele auf einen anderen Wanderweg, auf den Rennsteig, der in den letzten Tagen öfter das Grüne Band gekreuzt hat. Merkwürdig, er lockt mich mit einer anderen Landschaft, so scheint mir, die mir zusehends besser gefällt. Es hat mich überrascht, auf Wanderwegen zu gehen, die durch die gleiche Region führen, und sich so anders anfühlen. Der Rennsteig ist belebter als das Grüne Band. Dort treffe ich interessante Menschen, andere Wanderer, die ich seit Tagen vermisse. Das Grüne Band dehnt sich einsam und verlassen immer weiter in den Westen aus. Ich bin zu Fuß unterwegs, allein. Niemand wandert vor oder hinter mir, den ich morgens oder abends wiedergetroffen habe. Gelegentlich kommt mir ein Fahrrad entgegen oder drängt mich klingend vom Weg, weil er nicht breit genug für uns beide ist. Radfahrer auf Wanderwegen, ich habe meine Schwierigkeit damit. Ich verstehe nicht, warum Menschen glauben, dass Schnelligkeit von Vorteil und mit Vorrechten verbunden ist.

Mit Berlin verband Mödlareuth, ein Vierzig-Seelen-Dorf, halb Bayern, halb Thüringen, lange Jahre das gleiche Schicksal. Vierzehn Einwohner leben in Bayern, vierundzwanzig in Thüringen, auf der anderen Seite des Tannbachs. Jetzt im Spätsommer ist das Gewässer mehr ein Rinnsal als ein Bach, einst unüberwindbarer Teil der innerdeutschen Grenze, der die Freien von den Unfreien schied. Klein-Berlin. Der Ort trägt seinen zweiten Namen wie einen Orden. Alexander Dierbach brachte 2015 die sechsteilige Fernsehserie, Tannbach – Schicksal eines Dorfes, ins ZDF. Der Film erzählt von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Tragik der Grenzschließung, den Bewohnern des Dorfs während des Kalten Kriegs. Von der siebenhundert Meter langen und drei Meter hohen Betonmauer mit Schlagbaum und nächtlicher Beleuchtung. Vorbild für Tannbach ist das Dorf Mödlareuth.

1994 eröffnete das Freilichtmuseum Mödlareuth und der Ort wurde ein Hot Spot des Grenztourismus. Ein Fragment der Mauer, ein Stück nachgebaute Sperranlage mit Kolonnenweg und Streckmetallzaun, ausgestellte Exponate der innerdeutschen Grenze, ein Mahnmal, eine Helmut-Kohl-Gedenktafel, zwei Restaurants, gut mit Gästen gefüllt, die vom Bummel am Mauerfragment durstig geworden sind. Ich komme mit dem Bus von Hof, steige in Juchhöh aus und gehe zu Fuß die zwei Kilometer den Berg hinunter. In Mödlareuth herrscht ein Kommen und Gehen. Familien mit halbwüchsigen Kindern, ältere Paare, Rentner, Arm in Arm, die die DDR noch gut erinnern, nur ein paar junge, mit Basecap und Sonnenbrille, Spätgeborene, für die die DDR ein Mythos ist. Ein Schritt nur, hin und zurück über den Tannbach, ein Sprung nur, und ich wechsele ungehindert von Ost nach West und wieder nach Ost. Niemand schaut her, keiner kommt, oder findet mein Verhalten ungebührlich. Es herrscht fröhliche Ausflugstimmung am Mauermuseum. Nichts erinnert mehr an die tödliche Atmosphäre, die einst das Zusammenleben vergiftete. Harmlos wirken die Exponate in der heißen Nachmittagssonne, die mich zwingt, meine Jacke auszuziehen. Heitere Menschen ringsumher, nicht die Spur Besinnlichkeit. Vergessen steht ein Wachturm abseits zwischen Bäumen, fast versteckt, der nicht wie übriggeblieben, sondern wie dekorativ aufgestellt wirkt. Ich frage mich ernsthaft, ob er damals auch hier stand. Mödlareuth bedeutet noch immer in zwei Bundesländern zu leben, lokal vereint und administrativ getrennt. Doch nicht der Tannbach trennt, sondern die Bürokratie. Zwei Ortsschilder, zwei Postleitzahlen und zwei Telefonvorwahlen, zwei Wahlkreise. Aber frei.

Ich habe mich bewusst entschieden, meine Wanderung am Grünen Band in Mödlareuth zu beginnen, einem Dorf auf einer abgeschafften Grenze, das sich als Mahnmal inszeniert. Ich kehre der Erinnerungskultur den Rücken und wandere durch das Tal des Tannbachs an die Saale, auf meinem ersten Kolonnenweg nach Hirschberg. Verführt durch die leichte Stimmung in Mödlareuth, ahne ich noch nichts von der Schwere, in die meine Wanderung führt.

Das Grüne Band ist ein ungewöhnlicher Wanderweg. Ich habe nicht über seine Entstehung und seine Geschichte nachgedacht, bevor ich aufgebrochen bin. Ich wäre zu Hause geblieben, hätte ich es getan. Ein renaturierter Streifen Grenzland, auf dem das Unrecht noch spürbar ist, das Menschen jahrelang begangen und erlitten haben. Seit ich die Grenzanlagen in Mödlareuth gesehen habe, museal für Erinnerungstouristen aufbereitet, erneut den tiefen Riss empfunden, der noch immer durch Deutschland geht, verfolgen mich bedrückende Gefühle. Das Grüne Band ist nicht nur eine geografische Grenze, es bildet auch eine psychische Trennungslinie. Voller Gefühle, die die Geografie infiltriert haben. Die Menschen in den Dörfern an diesem Band leben in einem liminalen Raum. Auf beiden Seiten dieselben Menschen, doch sie ähneln sich nur oberflächlich. Tief in die Erde gedrückte Plattenwege bilden das Gesicht des Grünen Bands, die Erinnerung an den Streckmetallzaun, nur ein paar Schritte westlich, ist sein Körper. Jeder Weg ist eine Grenze in der Natur, denn er scheidet die Landschaft in links und rechts, gibt ihr eine Struktur, die dem Menschen dient. Der Weg, den man verharmlost das Grüne Band nennt, ist noch keine hundert Jahre alt, und hat nicht die historische Tiefe des Rennsteigs. Menschen haben ihn nicht in vielen Jahrhunderten als Schneise der Kommunikation ins Gelände getreten, sondern die Willkür eines Regimes, das einen Weg brauchte, um die Bewegungen seiner Bevölkerung zu verhindern. Das Grüne Band verdankt seine Existenz nicht unzähligen Schritten, es ist kein Weg, der Orte und Menschen verbindet, kein Weg, der die natürliche Landschaft respektiert und sie gestaltet, ohne allzu sehr in sie einzugreifen. Das Grüne Band ist in weiten Teilen eine Betonpiste, ein harter Untergrund, einer der trennt, die Füße von der Erde und einst die Menschen voneinander, einer, der einst anderen Zwecken diente als darauf zu wandern. Die Gestalt der Landschaft erinnert mich auf Schritt und Tritt an das Dilemma extremistischer Ideologien. Nur gelegentlich lenkt mich ein idyllischer Waldweg oder ein lebhaft über Steine plätschernder Bach von diesen Gedanken ab, wenn mein Blick einem übers Wasser schnellenden Eisvogel oder einem Sprung Rehe am Hang folgt.

Hirschberg an der Saale, am Saale-Orla-Wanderweg, ein Name der nach Naturromantik und Waldesruh klingt. Hoch über der Saale, auf einem Felsvorsprung gelegen, blickt das Barockschloss Hirschberg, das nicht aussieht wie ein Schloss, auf den Ort herab. An der Basis des Schlosses reckt sich ein zu Sprung bereiter Hirsch, der über Saale springen will. Eine Metallskulptur, die nichts Lebendiges hat. Das Wahrzeichen des Orts. Noch bis 1989 prägten Mauern, Stacheldraht und Todesstreifen das Leben und Arbeiten in der Stadt. Hirschberg lag nicht nur in der fünf Kilometer breiten Speerzone, sondern auch im sogenannten fünfhundert Meter breiten Schutzstreifen. Totalabriegelung und Freiheitsberaubung eines ganzen Dorfs an der innerdeutschen Grenze. Spontan frage ich mich, ob der Hirsch auch damals schon zu springen versuchte, über eine Grenze, deren Überquerung den Tod bedeuten konnte. Er ist nicht nur ein Wahrzeichen, er ist ein Symbol, dieser unbewegliche verharrende Hirsch auf dem Felssporn.

Am Saalestrand, kurz bevor ich in Hirschberg bin, raste ich auf der dreißig Meter langen Saalbänk, auf der siebenundneunzig Personen Platz finden sollen. Für ihren Bau wurde ein hundertdreißig Jahre alter Baum gefällt. Ich sitze erst ein paar Minuten an dem einen Ende der Bank als zwei junge Frauen vorbeikommen, und sich an das andere Ende setzen. Während ich den Waldweg entlang sehe und nach der Saale Ausschau halte, erscheint mir die Bank plötzlich wie eine neue Grenze. Neunundzwanzig Meter trennen mich von den beiden jungen Frauen, die tuschelnd die Köpfe zusammenstecken. Die Bank ist viel zu lang, um zu verbinden. Anscheinend liegen Findlinge im Fluss, der laut rauschend durch den Wald fließt. Am Fuß des Schlossbergs endet der Waldweg. Der Saale-Orla-Wanderweg mündet auf einem Hängesteg, der um den Felsen herum an die Wenzelshöhle führt, einen Eingang in die Unterwelt. Ihr Name erinnert an den böhmischen König Vladislav, der Hirschberg, das damals den Übergang über die Saale sicherte, 1479 die Stadtrechte verlieh. Die Fundamente einer Burg, auf der das Schloss errichtet wurde, und der Ort sind einige Jahrhunderte älter.
Es ist früher Nachmittag, als ich in Hirschberg eintreffe. Die Straßen steigen alle den Schlossberg hinauf. Zwei Kinder spielen Ball, doch andere Menschen treffe ich nicht. Hirschberg liegt verlassen und gefällt sich im Hauch fast vergessenen DDR-Charmes. Vielen Häusern ist ihre Geschichte anzusehen: zerschlissene Fassaden wechseln mit liebevoll restaurierten Gebäuden; Straßennamen erinnern an Helden des Sozialismus; Leerstand im Zentrum und eine Dorfkirche, die sich an einen engen Platz zwängt; über einem Tor das historische Firmenschild des Hufschmieds.

Am nächsten Morgen bin wieder an der Saale, die leise gurgelnd den Wanderweg begleitet. Mehrere Absperrungen behindern meinen Weg. Um einen Umweg zu vermeiden, gehe ich über umgegrabene, nasse Wiesen auf der Böschung der Saale weiter. Das Bürogebäude der Lederfabrik und Gerberei Knoch, über zweihundert Jahre wichtigster Arbeitgeber der Region, steht noch immer auf dem Gelände zwischen Saale und Ort. Die Fabrik wurde 1946 enteignet, das Firmengelände Sperrzone, doch die Produktion mit Sondergenehmigungen noch bis zur Wende weitergeführt. Inzwischen umgibt das Gebäude ein Freiluftmuseum, das einen unfertigen Eindruck macht. Der Bauzaun, der den Zugang nur halbherzig sperrt, bietet meiner Neugier kaum Widerstand.
Doch viel zu sehen gibt es nicht, und das Museum, das über die Geschichte der Gerberei und den Alltag in der DDR berichtet, ist geschlossen. Als ich zurückblicke, fällt mein Blick auf ein freistehendes Tor aus Bruchsteinen, dessen Sturz ein Hirschkopf schmückt. Ich denke an Falada, nicht den Dichter, dem ein Doppel-L gehört, sondern an das Pferd in dem Märchen Die Gänsemagd. Soll ich mich unter das Tor stellen, um die Wahrheit über mich zu erfahren? Über allem thront das Schloss auf dem bewaldeten Hügel, die Häuser des Orts zu seinen Füßen.

Das Grüne Band ist nicht nur ein Wanderweg, das ist kein Weg. Das Grüne Band bewahrt, wie jeder andere Weg, den ich gegangen bin, die Erinnerungen an Ereignisse, die sich an ihm zugetragen haben. Diese Erinnerungen prägen seinen Charakter und spiegeln sich in der Stimmung des Wanderers wider. Ich weiß nicht, woran es liegt, und ob es anderen Wanderern auch so ergeht, doch eine Wanderung ist für mich nicht nur ein physischer Weg durch Wälder und über Weiden, an Flüssen entlang und über Berge, durch kleine Städte und abgelegene Dörfer, sondern weitaus mehr. Eine Landschaft besitzt Erinnerung, ist geprägt von der Kultur an ihren Verlauf und von der Geschichte in ihrer Umgebung, an der sie teilhatte. Die Wege, auf denen ich durch sie gehe, erinnern sich an diese Ereignisse. Das Besondere an einer Fußreise besteht in ihrer Langsamkeit, die viel Zeit lässt, wahrzunehmen, hinzuhören und nachzuspüren. Dazu ist keine andere Art der Fortbewegung in der Lage. Eine Landschaft ist ein Naturraum mit charakteristischen Atmosphären, in denen frühere Menschen ihren Göttern begegneten: Zeus, die majestätische Weite des Himmels, Eos, die in sanften Rottönen leuchtende Morgenröte, die Nachtmahre in finsteren Wäldern, die das Herz beengen oder unheimlich fluoreszierende Moore, die Walküren und Totengeister im Gefolge der Wilden Jagd, die im Sturmwind lärmend um die Gipfel kreisen, der lüstern lauernde Pan im Dickicht der Wälder, der den Jungfrauen nachstellt, oder das glückbringende Glasmännlein aus dem Schwarzwald. Der Mensch hat die Landschaft mit seinen Wünschen und Sehnsüchten gefüllt, hat sie nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen gestaltet, er hat in ihr gelebt, war in ihr glücklich oder traurig, hat in ihr gelitten und ist in ihr gestorben. Alles das hat seine Spuren hinterlassen, nicht nur materiell, besonders atmosphärisch.
Eine Wanderung ist nicht nur eine geografische Reise in äußeren Landschaften, sie besitzt auch eine innere Dimension. Zu Fuß zu gehen wirkt, in Abhängigkeit von der Landschaft, durch die ich gehe, magisch und mystisch zugleich. Das intensive Gehen öffnet naturräumliche Dimensionen voller sinnlich wahrnehmbarer Atmosphären. Für jede Region, durch die ein Wanderer geht, gibt es eine Landkarte, zweidimensional auf Papier gebannt, das hoffentlich laminiert ist und dem Regen trotzt. Neuerdings lässt sich komfortabler mit GPS-Navigation wandern, mit speziellen Geräten oder einer Smartphone-App. Für welches Mittel der Wanderer sich entscheidet: Jeder Ort im Gelände besitzt eine feststehende Position; analog oder digital. Doch das ist nicht alles. Orte sind nicht nur auf Landkarten verzeichnet, sie besitzen auch eine psychische Repräsentation in den Erinnerungen des Wanderers. Unterwegs auf dem Weg entwirft und verändert er seine eigene Geschichtenkarte. Diese Karte beschreibt gleichzeitig die äußere Landschaft sowie die individuelle psychische Befindlichkeit. Sie thematisiert und markiert die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse in ihr. Diese Geschichtenkarte, wie Robert Mcfarlane sie nennt, unterscheidet sich qualitativ von einer auf Daten reduzierten Landkarte, die den Raum unabhängig vom Sein erfasst: Geschichtenkarten, schreibt er, stellen Orte so dar, wie Individuen oder Kulturen sie wahrnehmen, die sich in ihnen bewegen. Anstatt einen Ort zu beschreiben, der unendlich oft bereist werden könnte, zeichnen sie einzelne Reisen nach. Eine Geschichtenkarte rankt sich um das Erleben des Reisenden, und die in ihr gesetzten Grenzen ergeben sich aus dem Gesichtskreis und Erfahrungshorizont des Reisenden. Ereignis und Ort sind nicht klar voneinander trennbar, da sie in Wechselwirkung zueinander stehen. Geschichtenkarten bilden Qualitatives ab, während eine Landkarte eine Quantität darstellt. Menschen ziehen aus Landschaften Gefühle - Glück, Freude, Hoffnung, Erstaunen, Erregung und Ruhe. Diese Gefühle sind in ihren Geschichtenkarten enthalten.

Eine abwechslungsreiche Wanderung entlang der Relikte der ehemaligen Grenze. Entlang der Saale wechseln sich Lochplattenwege mit Wald- und Wiesenwegen ab. Von den sechs Häusern des Gehöfts Saalbach, das 1952 zwangsgeräumt wurde, ist nur eine Gruft geblieben. Aus der Saalbachquelle, am Wanderweg gelegen, fließt Mineralwasser in die Wüstung. Über den Zaun eines Freigeheges sieht ein majestätischer Hirsch mit traurigem Blick zu mir herüber. Noch nie war ich einem Hirsch so nahe. Altes Gemäuer auf der Spornburg Blankenberg, die wohl nicht als Zwingburg gegen die Sorben errichtet wurde, bietet mittelalterlichen Flair. Zigeunerfelsen und Hochzeitskorb gestatten einen letzten spektakulären Blick ins Tal der Saale.
Von Blankenberg führt der Saale-Orla-Wanderweg steil hinab ins Tal der Saale, die in einer weiten Schleife um eine Zellulosefabrik fließt, die der Landschaft ihren hässlichen Stempel aufdrückt.
Blankenstein, Drehkreuz des Wanderns: Rennsteig, Kammweg, Frankenweg, Fränkischer Gebirgsweg. Nur das Grüne Band fehlt auf der rostigen Skulptur, die Wanderer zeigt, die die Wanderwege auf einer Scheibe tragen. Wegweiser in alle Richtungen umgeben den Platz unterhalb des Wandertreffs, der Souvernirs, Getränke und kleine Speisen auf der Terrasse bietet.

Der Weitwanderweg Grünes Band ist deshalb ein besonderer Wanderweg, weil er der ehemaligen innerdeutschen Grenze folgt, dem sogenannten Todesstreifen, der Jahrzehnte terrorisierte und trennte, was zusammengehört. Eine fünf Kilometer breite Sperrzone, von der DDR-Administration brutal geräumt. Menschen wurden vertrieben, ganze Dörfer abgerissen und die generationenlang gewachsene, soziale Infrastruktur zerstört. Auseinander gerissene Familien, verlorene Arbeitsplätze, zerstörte Hoffnungen, Sehnsüchte und Perspektiven. Ein halbes Volk in Beugehaft. Auf Schritt und Tritt begegne ich den Resten dieser Zeit im Gelände. Spuren, die auf zahlreichen Informationstafeln beschrieben und wieder lebendig werden, wenn man sie passiert. Reste von Grenzanlagen und Zäunen, Wüstungen, wo einst Menschen in Dörfern lebten, moderne Brücken, die an die zerstörten erinnern, unerreichbare Landmarken auf der anderen Seite sowie Erinnerungen an Geflüchtete, die auf diesem Weg erschossen wurden. Das Grüne Band bietet praktischen Geschichtsunterricht, den man sich mit den Füßen erlaufen kann. Das Drama der neueren deutschen Geschichte wird dann richtig nachvollziehbar, wenn man sich mittendrin befindet. Doch das Grüne Band ist kein Museum, es ist eine Landkarte der Erinnerung, die mental und psychisch betroffen macht.

Der Weg entlang der Muschwitz, die es gleich zweimal gibt, als thüringische und fränkische, kann nicht schöner sein. Ein schmaler Pfad entlang des Bachs, der einst mehrere Mühlen speiste. An einem Zaun im Schatten einer Mauer trinkt ein Mann sein erstes Bier. Mit federnden Schritten gehe ich in der feuchten Luft des Morgens unter alten Bäumen.

Wurzeln und Steine zeichnen verschlungene, groteske Muster auf den Waldboden, oft nur Ornamente, doch immer wieder einmal ein Gesicht, eine im Wurzelwerk versteckte Gestalt. Eine Atmosphäre, in der ich an Märchen glaube. Waldeinsamkeit in Grün und Braun. Dann bricht der Kolonnenweg wie ein Riss in die zauberische Atmosphäre.
Auf dem Schwarzen Teich, durch die die Muschwitz fließt, blühen die letzten Seerosen des Jahres. Die Tür der Flößerhütte am Ufer ist aus den Angeln gefallen, an den Wänden innen hängen allerlei Sprüche und Kalenderweisheiten. Frankenwald und Flößerei, Rodach und Muschwitz, werden noch immer in einem Atemzug genannt. Das letzte kommerzielle Floß schwamm vor fast fünfzig Jahren die Rodach hinab. Der Transport von Langhölzern auf dem Wasser, von Säge- und Bauholz, das auf dem Wasser schwimmend vom Triftpersonal geflößt wird, besitzt eine lange Tradition. Wer denkt dabei nicht an Wilhelm Hauffs Das kalte Herz und den finsteren Holländer Michel. Die Erinnerung an dieses alte Gewerbe halten die Floßvereine mit jährlichem Schaufloßfahrten aufrecht, eine touristische Attraktion der Region. Zum wiederholten Mal überquere ich die imaginäre Grenze, die die Muschwitz bildet, von Thüringen nach Bayern.

Der Weg aus dem Tal der Rodach nach Nordhalben, der Stadt des Klöppeln, führt einen sechshundert Meter hohen Hügel hinauf, einst Sitz einer Raubritterburg, jetzt Aussichtsplatz und Gipfelkreuz. Nach achtzehn Kilometer fällt der Aufstieg nicht gerade leicht. In den Blick über die Hügel des Frankenwalds mischt sich die Erinnerung an Manfred Smolka, einen Grenzer und Politoffizier des DDR-Regimes, der in der Nähe Dienst tat. 1958 quittierte er den Dienst wegen einer unsinnigen Grenzmaßnahme, zwei Wochen später flüchtete er in den Westen. Bei dem Versuch, ein Jahr später Frau und Tochter nachzuholen, wurde er von einem Freund verraten und 1960 mit dem Fallbeil in Leipzig hingerichtet.

Auf meiner Wanderung am Grünen Band begleiten mich von Beginn an Mühsal und düstere Gedanken, die ich nicht loslassen kann. Gedanken, die um Schwäche, Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit kreisen. Der Weg entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze: lonely hiking, von Gespenstern bedrängt. Es ist bekannt, dass dem Wanderer in der Dämmerung in den Sümpfen Irrlichter und andere seltsame Erscheinungen begegnen. Ein aufgeklärter Geist rationalisiert solche Phänomene gerne als Sumpfgas, als Halluzinationen eines überspannten Verstands. Aber wer weiß das schon so genau. Was ist, wenn sich im Sumpfgas etwas Ätherisches materialisiert, etwas Endogenes, dem Moor Inhärentes, das mehr ist als physisch Gegebenes? Auf meinen Wanderungen in den Mooren der brandenburgischen Luch-Landschaft gab es Momente, besonders im Zwielicht der Abenddämmerung, in denen mir seltsam zumute wurde. Auf einem Friedhof im ländlichen Bali fühlte ich mich einmal bedrängt. Mitten am Tag, im hellen Sonnenlicht, wurde ich übergangslos schwermütig und mir wurde so eng um die Brust, dass ich den Ort fliehen musste. Etwas nur Spürbares, Irrationales, nicht wirklich Greifbares, war hinzugekommen und hing als luftige Atmosphäre über dem Ort. Eine unheimliche Stimmung, die einen Riss in der Alltäglichkeit verursacht, von der die Schauerromane der Gothic Novel der britischen Frühromantik oder die Dichter der deutschen Romantik erzählen. Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus, Robert Louis Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde und auch Wilhelm Hauffs Das Kalte Herz oder Die Elixiere des Teufels von E.T.A. Hoffmann sind heute Klassiker der Weltliteratur. Mit einbrechender Dunkelheit kehrt die Wildnis in die Landschaft zurück, Vampire und Werwölfe manifestieren sich in den Schatten und treiben durch die Fantasie. Die Umgebung tritt anders in Erscheinung, nimmt plötzlich eine unvertraute Gestalt an. Wenn der Sehsinn eingeschränkt ist, nimmt die Wahrnehmung akustischer, olfaktorischer und taktiler Empfindungen zu. Assoziationen schwärmen durch das Dunkel und die Wahrnehmung der Landschaft wird eine Melange von Wirkungen, die eine geisterhafte Präsenz annimmt. Wir Heutigen sind viel zu aufgeklärt, um an derartigen Spuk zu glauben. Doch wir kennen alle plötzlich auftretende, räumlich ausgedehnte Atmosphären, die uns verunsichern, weil wir sie nicht einordnen können; auf Friedhöfen, in dunklen Wäldern oder bei Einbruch der Nacht im Freien, die mitunter ein leisen Frösteln oder Schauern bewirken. Eine Atmosphäre des Unwohlseins ergreift uns, die im Licht der Wohnung wieder verfliegt. Am Grünen Band spürte ich häufig, dass etwas mitschwingt, etwas in der Luft liegt, das mich auf Schritt und Tritt begleitet. Es ist äußerst amüsant, dem Schwanken Bruce Chatwins zu folgen, zwischen seinen irrationalen Wünschen und rationalen Erklärungen, einen Yeti zu treffen, an den er gleichzeitig glauben will und nicht kann. Unterwegs zum Mount Everest trifft er ständig auf Hinweise über Schneemenschen, Fabelwesen der Himalaya-Folklore. Schließlich wird ihm der Yeti wichtiger als seine Wanderung zum Everest, den er auch nicht erreicht. Unverdrossen sammelt er unterwegs Belege dafür, dass der Yeti existiert, muss sich aber gleichzeitig beruhigen, und sich vergewissern, dass es sich um seine Fantasie handelt. Seine Sherpa-Gesprächspartner müssen Chatwins Ambivalenz nicht teilen. Sie sind seit jeher von der Existenz des Yeti überzeugt, während sich Chatwin seinen Ambivalenzen nicht entziehen kann, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu glauben und dem Zwang des Zweifels, zwischen der Faszination von der Existenz des Yeti und seinem aufgeklärten Verstand: Mein ganzes Leben bin ich auf der Suche nach dem Wunderbaren gewesen: doch kaum weht mich etwas Unheimliches an, neige ich zu rationalem, wissenschaftlichen Denken. Mit wenigen Worten skizziert B. Chatwin das Verhalten des postmodernen Menschen. Die Natur ist voll von diesen Atmosphären, die nicht immer unheimlich, sondern oft auch beglückend sind. Sie nicht wahrzunehmen, bedeutet nicht gleichzeitig, dass sie nicht vorhanden sind. Sie nicht wahrnehmen hängt mit dem rational-analytischen Denken der Gegenwart zusammen. Unser Gespür für diese Atmosphären ist blockiert. Einsamkeit in der Natur, allein unterwegs sein, hat mich noch nie gestört. Doch dieses Mal fehlten mir der Austausch und die Begegnung. Es drängt mich, meine Gefühle und Gedanken auszusprechen, sie auszudrücken, öffentlich zu machen, damit sie mich nicht länger heimsuchen.

Jenseits von Nordhalben wechselt das Grüne Band auf einen der populärsten Wanderwege Deutschlands: den hundertsiebzig Kilometer langen Kammweg Rennsteig, der von Blankenstein durch den Thüringer Wald nach Hörschel verläuft, in die Nähe von Eisenach. Waldwege, Lochplatten, Blaubeerdickichte und hohe Fichten. Das Grüne Band mäandert auf und ab, meistens moderat, seltener schweißtreibend aufwärts. Manchmal verliere ich den Weg, und finde mich auf dem Rennsteig wieder, manchmal ist es umgekehrt. Die Wegführung ist uneinheitlich. Zwischendurch irre ich, GPS-geführt, auf einem Gewirr aus schmalen Pfaden, Schotterpisten und breiten Forstwegen, die sich vielfach kreuzen und ständig die Richtung wechseln, mitten durch dichten Wald. Ganz anders die kurzen Rennsteig-Etappen, die das Grüne Band nutzt. Der zuerst Rennweg genannte Wanderweg begleitet mich als weißes R auf den Bäumen. Die Lochplatten sind verschwunden und ich gehe über malerische Wege durch eine abwechslungsreiche Landschaft. Die schönste Etappe ist der höchstens zwei Kilometer lange Schönwappenweg durch die Heidelandschaft des Hochplateaus. Rechts und links des Wegs stehen alte Grenzsteine mir filigran herausgemeißelten Wappen: Kurfürstenstein, großer und kleiner Bischofstein, Dreiwappenstein, Landesgrenzstein.

Die Sonne hält sich zurück, und es ist so kühl unter den Bäumen, dass ich meine Jacke brauche. Ich wandere durch die Region des Blauen Golds, wie das bis fünfhundert Meter hohe Thüringer Schiefergebirge auch genannt wird, das östlich an den Thüringer Wald grenzt. Die Region besteht größtenteils aus Schiefergestein paläozoischer Meeressedimente: Tonschiefer, Kieselschiefer oder Schwarz- und Alaunschiefer, eingebettet in Grauwacken und Sandstein, gelegentlich Kalkstein oder vulkanische Brekzien und Tuffite. Die Dörfer des Thüringer Schiefergebirges ähneln denen des Bergischen Lands, die ich als Kind so oft gesehen habe. 2008 schließt die letzte Grube und eine jahrhundertjährige Bergbautradition endet.

Der Rennsteig verläuft mitten durch den kleinen Ort Brennersgrün, wo nur noch hundertfünfzig Personen wohnen. Das Dorf liegt auf einem mit Wald umgebenen Hochplateau des Thüringischen Schiefergebirges, ein unebenes Gelände mit nur wenigen Metern Höhenunterschied. Brennersgrün liegt mitten im Zentrum des ehemaligen Schieferabbaus. Die Dächer und Fassaden der Häuser sind mit dunklem Tonschiefer vertäfelt. Aus der Ferne betrachtet wirken die Siedlungen wie schwarze Flecken im Grün der Landschaft. Das wertvolle, abbauwürdige Gestein wird mit einer Diamantsäge entlang der Maserung Block für Block aus dem Berg gelöst. Auf den Wegen, auf denen ich gehe, bricht es überall aus der Erde ans Licht. An den Bruchkanten der aufeinander gepressten Platten wachsen Moose und Flechten. Eine Kuriosität am Ortsrand, da wo der Rennsteig mündet, ist das Moosdorf, gleich neben der L 2374. Auf die Initiative einer Anwohnerin hin, haben Wanderer und Ausflügler aus Ästen, Zweigen mit Blättern oder Nadeln, aus Holzstücken, Moosen und Pilzen ein Dorf geschaffen, in dem nur noch die kleinen Bewohner des Waldes fehlen. Doch vielleicht kommen sie erst in der Nacht an die Oberfläche. Dicht an dicht stehend, haben ihnen Kinder und Erwachsene ein Dorf gebastelt, das in ein Märchen gehört. Auf dem Tisch am Rastplatz liegt das Gästebuch des Naturdorfes aus, eine Seltenheit an deutschen Wanderwegen, so ganz anders als an europäischen Pilgerwegen.

Obwohl es noch früh ist, bleibe ich in Brennersgrün. Ich flaniere durch den Ort, dessen schwarze Häuser beidseitig die Landstraße säumen. Inzwischen hat sich die Sonne durch die Wolken gearbeitet, es ist wärmer geworden. Doch die dunklen Wände und Dächer schluckten den hellen Schein, sie glänzen nicht, oder wirken lieblicher, sondern verharren in mattem Schwarz. Nur der eingeschlossene Quarz- und Glimmerstaub erlaubt sich ein feines Glitzern. Ein Dutzend Meter weiter, und ich verschwinde im Wald, wo mich ein schmaler Pfad aufnimmt. Ein paar Meter verläuft er parallel zur Landstraße, auf der kaum einmal ein Fahrzeug verkehrt, dann dringt er tiefer in den Wald und steil einen Hügel hinauf. Noch eine letzte Biegung, und ich stehe vor einem Turm auf dem Wetzstein, den die Bäume bis zuletzt verborgen halten.
Der 1492 Meter hohe Altvaterturm in der Nähe von Lehesten ist ein Nachbau des Praděd im Altvatergebirge, und die höchste Erhebung in Mähren. Aus der ehemaligen Tschechoslowakei vertriebene Deutsche bauten den heimatlichen Praděd als Mahnmal nach, um den Massakern und Schandtaten an den Sudetendeutschen im Mai und Juni 1945 zu gedenken. Seit 2004 steht der neue Altvaterturm in einem Gelände, das an die natürlichen Gegebenheiten des Altvatergebirges erinnert. Der Turm ist Erinnerungskultur und bewahrt das Gedenken an eine der humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts: Umgrünt von den Wäldern / rauschendem Band / Gott grüßt dich / Altvaterland. So steht es auf einer der Tafeln, die an der Turmwand angebracht sind.

Das Gebäude wirkt, als sei es erst gestern gebaut worden; gepflegt, wie neu und unversehrt. Die rötliche, von hellen Flecken durchbrochene Fassade leuchtet in der Sonne, die Fenster reflektieren das Licht, bis die Wolken ein weiteres Mal die Herrschaft übernehmen. Die Informationstafeln weisen keinerlei Beschädigung auf. Eine halbbogenförmige Freitreppe führt hinunter an den bleiverglasten Eingang zur Kapelle im Erdgeschoss des Turms. Den Eingang bewachen zwei Reliefs auf grauen Platten, zwei Wächter aus der Folklore des Riesengebirges: links steht Rübezahl mit Stock und Kiepe, rechts blickt das Porträt eines Berggeists den Betrachter an. Nur der Biergarten, den das Restaurant im Turm bedient, stört die Ehrfurcht des Orts. An den Tischen sitzen Biertrinker, die mit Auto oder Fahrrad gekommen sind, während das eisschleckende Publikum den Turm umrundet. Ein paar hundert Meter weiter den Wetzstein hinab, nimmt sich eine Waldschänke der vielen Besucher an.

Als mir bewusst wurde, dass ich auf einer Grenze wandere, die ein Todesstreifen war, an der Menschen für ihren Wunsch nach Freiheit gestorben sind, findet meine Wanderlust ein jähes Ende. Ich fantasiere gepanzerte Militärfahrzeuge, die regelmäßig diesen Weg befahren, peitschende Schüsse, die laut im Wald widerhallen, sodass das Wild zusammenzuckt. Aufgestörte Vögel, die erschreckt gen Himmel flattern.

Uniformierte Grenzer, denen die Menschlichkeit ausgetrieben wurde, zur Abschreckung abgerichtet und zum Ergreifen von Republikflüchtlingen. Die Spuren der schweren Fahrzeuge sieht man den Platten an. Unregelmäßig in den Boden gedrückt, bilden sie Stolperschwellen für mich, und machen meine Wanderung beschwerlich. Um nicht vor Scham im Boden zu versinken, wurde der Kolonnenweg ein Weg der Löcher. Diese spezielle Oberflächenstruktur ist eine weitere Besonderheit des Grünen Bands. Ich kenne Plattenwege aus Brandenburg, Betonplatten ohne Löcher, die zwischen den Feldern die Landschaft verschandeln. Sie sind unangenehm zu gehen, aber nicht mühsam. Im ehemals gesperrten Osten nannte man den Weg, der jetzt das Grüne Band ist, Plattenweg. Lochplattenweg wäre angemessener, und er ist eine Zumutung für die Füße. Zwei Reihen Betonplatten, eine Achsenlänge Distanz, in Form und Größe einer Matratze, bedecken über viele Kilometer den Weg. Anscheinend um ihr Gewicht zu reduzieren, besitzt jede Platte sieben Dreierreihen rechteckiger Aussparungen. Für mich bleibt der Kolonnenweg noch nach sechs Tagen eine nicht bewältigbare Herausforderung für Schritt und Tritt, für Rhythmus und Balance des Gehens. Ständig den Blick auf den Boden geheftet, die Lücke zwischen den Aussparungen suchend, gelingt es mir nicht immer, den tückischen Löchern in den Betonplatten auszuweichen. Immer wieder rutsche ich in eins der Löcher, bleibe an einer Kante hängen oder knicke im Gelenk um. Manche der Löcher sind mit Gras oder Fichtennadeln ausgefüllt, auf die ich bequemer treten kann. In den meisten wachsen nur spärlich Pflanzen und Pilze. Viele der Löcher haben keinerlei Bewuchs, und sind leer. Teilweise sind die Platten gegeneinander verschoben, gebrochen oder abgesunken. Nur langsam erobert die Natur sich ihr Terrain zurück, füllt die Lücken, begräbt den Beton unter sich, versucht ihr Bestes, diese schreckliche Wunde zu heilen. Doch die Härte des Kolonnenwegs ist auch unter einer Schicht Erde noch spürbar. Es wird lange dauern, bis nichts mehr zu sehen und zu spüren ist.

Nun bedecken Lochplatten nicht den gesamten Wanderweg Grünes Band. Die Bewahrer und Pfleger des Wegs bemühen sich, den Wanderer immer wieder auf andere Wege zu führen, weg von dem mit schlimmen Erinnerungen getränkten Weg. Ich hätte gerne einen von ihnen getroffen, und ihn gefragt, ob er meine Empfindungen nachvollziehen kann. Vielleicht bemühen sich die Wandervereine der Region deshalb, dem Plattenweg so oft wie möglich auszuweichen. Sie führen den Wanderer auf idyllische Waldwege entlang an Bächen und Flüssen, wo im grünen Dämmer eine träumerische Stimmung herrscht, wo niemand erstaunt ist, Elfen oder Kobolde um die Ecke blinzeln zu sehen. Breite Frostwege, mit von schwerem Gerät verdichteten Böden, geschotterte Pisten durch dunkle Fichtenmonokulturen, die das Licht dämpfen. Plötzlich biegen sie auf einen schmalen Pfad ab, wo ein dichter Teppich aus Nadeln den Schritt federt. Die Stämme der Fichten imitieren die Säulen einer gotischen Kathedrale, so hoch hinauf greifen sie in den Himmel. Ich träume wieder von schönen Dingen, bin für den Augenblick getröstet, und genieße meine Wanderung durch diesen Dom, ehrfürchtig in die monumentale Stille lauschend, ob sich nicht doch irgendwo etwas regt. Nichts bewegt sich, doch die Luft erfüllt ein aromatisch harziger Geruch. Das Grüne Band entlang der bayrisch-thüringischen Grenze ist nicht markiert, sondern nutzt die vielen regionalen Wanderwege: den Saale-Orla-Weg, entlang an Saale und ihrem Nebenfluss Orla, den Nordwaldweg beispielsweise, der jenseits von Nordhalben, durch einen lichten Mischwald führt, den lieblichen Schönwappenweg über eine Heide mit dichtem Blaubeerdickicht, gesäumt von einer Galerie antiker Grenzsteine, oder den Märchenpfad bei der Burg Lauenstein, den ein Zwerg mit ausgestreckten Finger weist, den Lehrpfad Schieferweg im Thüringischen Schiefergebirge mit schwarz getäfelten Häusern in den Dörfern bei Lehesten und Spechtsbrunn, den Lutherweg, der den Spuren des Reformators durch Mitteldeutschland folgt, und immer wieder der Rennsteig, von dem hier jeder spricht. Jeder einzelne Weg ist für sich genommen Grund genug für eine schöne Tageswanderung. Doch immer wieder enden diese Wege, nehmen einen abweichenden Verlauf, und lassen den Wanderer ohne Wegweisung in dichten Wald zurück. Irgendwann reicht es mir, mit gesenktem Blick auf Lochplatten zu wandern. Dann weiche ich dem Kolonnenweg weitgehend aus und suche mein Glück querfeldein im Gelände. Ich suche mir meinen eigenen Weg, und orientiere mich an der Himmelrichtung. Noch verläuft das Grüne Band westwärts, und irgendwann finde ich auf einen dieser Wanderwege zurück. Abseits der offiziellen Route werden die Etappen dann länger, die Anstiege häufiger und zahlreicher und die Anstrengung größer. Doch es ist eine Wohltat im freien Gelände zu wandern, auf Pfaden und Saumpfaden oder gleich durch den lichten Wald, wo die Füße immer Boden finden, auf dem sie gehen können. Solche Wege zwischen den Wegen, von denen ich vorher nie weiß, ob sie nicht Sackgassen sind, die an einem unbegehbaren Steilhang enden, sich unerwartet im Gelände verlieren oder nur querfeldein ans Ziel führen, bewirken ein angenehmes Gefühl der Unsicherheit, jenen speziellen Thrill, der nach gespannter Aufregung und Abenteuer schmeckt. Das Grüne Band hat einiges davon zu bieten.
Inzwischen hat sich entlang der Kolonnenwege überall das Leben durchgesetzt, wild und ungezähmt. Naturparks und Biosphären, geschützte Landschaft und Biodiversität, wo einst Schrecken und Tod lauerten. Landschaftlich deutscher Wald, dazwischen eingestreut etwas Heide, kleine schnell fließende Gewässer, verschlafene Dörfer, in denen ich meist weder Nahrung noch Quartier finde. Dann muss ich weiter gehen, ob ich will oder nicht. Immer wieder findet sich eine Lösung. Der Zufall, vielleicht auch Fügung, wenn Unerwartetes geschieht. Ein Quentchen Achtsamkeit, nicht bewusst herbei zu führen, Intuition, die nicht gelenkt oder kontrollierbar ist, ein Hinweis, freundliche Menschen, die noch wissen, was Empathie bedeutet, das bisschen Glück, das es immer braucht, und sich zur rechten Zeit einstellt.

Auf dem Schieferpfad, und später dem Lutherweg, erreiche ich spät am Nachmittag Probstzella, ein Dorf an den Südhängen des Thüringer Walds, in den letzten beiden Jahrhunderten in den Schiefersteinbrüchen, der Schieferverarbeitung und in der Holzwirtschaft engagiert. Im 10. Jahrhundert begann die Christianisierung der slawischen Bevölkerung, und 1116 wurde die Probstei Zella gegründet. Die Zelle, anfangs ein kleines Bethaus, entwickelte sich dank zahlreicher Stiftungen zu einer reichen Propstei, ein burgähnlicher Bau mit Graben und Wall. Haus des Volkes, ich dachte sofort an eine DDR-sozialistische Unterkunft. Ich habe mich geirrt, denn das Haus des Volkes, das größte Bauhaus-Projekt Thüringens, wurde 1927 vom Bauhausarchitekten Alfred Arnold fertiggestellt - ein kulturelles Zentrum mit Kino, Festsälen, Theater, Restaurant, Café, Park, Sportanlagen und Hotelbetrieb. Die Gestaltung der Inneneinrichtung übernahmen Künstler des Bauhauses Dessau. Die Idee für ein Volkshaus dieser Art hatte Franz Itting, ein Lokalpolitiker und regionaler Unternehmer, der den Fremdenverkehr in der Region ankurbeln wollte.

Schon 1909 hatte Itting, der sich durch sein soziales Engagement einen Namen gemacht hatte, ein Elektrizitätswerk fertiggestellt. Mit seinem Haus des Volkes plante er ein kulturelles Zentrum für einfache Menschen, einen Mittelpunkt kultureller Angebote in einer benachteiligten Region. Während des Nationalsozialismus wurde der bekennende Sozialdemokrat als Roter Itting politisch angefeindet und inhaftiert. Nach Kriegsende galt er ironischerweise als Kapitalist, 1948 erneut inhaftiert und schließlich enteignet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete die DDR-Administration in dem heutigen Bauhaushotel ein Zollamt ein. Unter Denkmalschutz stellte man es 2003 und verkaufte es an einen privaten Eigentümer, der das Gebäude sanierte und als Hotel, Restaurant und Ausstellungsfläche Grünes Band Deutschland nutze. Seit 2014 gibt es im Haus des Volkes ein Franz-Itting-Museum.

Ich bin in Spechtsbrunn, als ich feststelle, dass mich die Gedanken an den Rennsteig nicht mehr loslassen. Ich erinnere mich daran, wie ich vor zwei Jahren von der Vía de la Plata spontan auf den Camino Portugūes gewechselt bin, aus dem spanischen Ourense ins portugiesische Porto. Eine gute, glückliche Entscheidung. Ich träume von einem Déjà-vu. Schwärmerisch gestimmt, vergesse ich, dass sich im Leben nie etwas wiederholt, und jeder gut beraten ist, die Gegenwart nicht aufs Spiel zu setzen.
Am nächsten Morgen steige ich in den Bus in die Spielzeugstadt Sonneberg, schaue im Museum vorbei, und fahre weiter nach Neuhaus am Rennweg. Zwei Tage wandere ich auf dem Rennsteig, der landschaftlich nichts hat, was es am Grünen Band nicht auch gibt. Lediglich die Kolonnenwege habe ich hinter mir zurückgelassen, und Fuß und Herz schwingen wieder im gleichen Takt. Im Tausch bekommen habe ich ein bevorstehendes Wochenende, wo mir die Quartiere ausgehen. Überbelegung, der Rennsteig ein Ziel von Tageswanderern und Wochenendtouristen.

Es ist eine neue Erfahrung, dass die Euphorie des Gehens nicht ausreicht, um auf dem Weg zu bleiben. Zuletzt wurde die Ambivalenz von Weitergehen und Stehenbleiben immer drängender. Die Leichtigkeit der Euphorie, die das Gehen durch die Natur bewirkt, die Freude an der ungezähmt wachsenden, wuchernden Biosphäre mit ihren Gerüchen, Geräuschen, Eindrücken und Ausblicken habe ich am Grünen Band nur ausnahmsweise erlebt. Die zermürbende Erschöpfung am Nachmittag, nach den vielen Kilometern, in denen mein Kopfkino Todesstreifen spielte, hat meine Wanderlust ermordet. Freude und Frieden verblassten. Sie stellten sich im Flow des Gehens nur kurzfristig ein. Die Flucht nach vorne, auf den Rennsteig, hat sich als Illusion entpuppt.

Zitierte Quellen

  • Robert Mcfarlane, Karte der Wildnis, Berlin, 1. Auflage 2017:131.
  • Bruce Chatwin, Auf den Spuren des Yeti, in: Was mache ich hier, München, Wien, 1991:294.

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