Ein schöner Tag. Ein perfekter Tag um zu wandern. Die Sonne scheint warm vom blauen Himmel, über den dicke Pakete weißer Wolken ziehen. Immer wieder machen die Kumuluswolken der Sonne ihren Auftritt streitig, doch wenn sie sich durchsetzt, wird es gleich warm. Trotzdem weht ein kühler Wind. Abwechselnd wird mir warm oder ich friere wieder, aber dafür schwitze ich nicht, was mir gefällt. Es ist immer ein Kompromiss zwischen der richtigen Kleidung und der herrschenden Temperatur. Mir macht es weniger aus, gelegentlich zu frieren, als zu viel Gewicht auf dem Rücken zu tragen. Gefüllte Wasserflaschen sind mir lieber als eine wärmende Jacke; jedenfalls im Frühling und Sommer. 27 Grad sollen es heute werden. Ich habe mich für ein kurzärmeliges, dünnes Hemd entschieden, und die Jacke zuhause gelassen. Im Wind bedauere ich es beinahe, denn es sind gefühlt höchstens zehn Grad.
Birkenwerder ist einer dieser Vororte, von denen es in der Berliner Peripherie zahlreiche gibt. Kaum habe ich den S-Bahnhof verlassen, fällt mir ein anderes KZ-Mahnmal auf, vom gleichen Typus, wie ich es auf dem Bahnhofvorplatz von Hennigsdorf gesehen habe. Lediglich die Lettern K und Z sind jetzt weiß statt rot. Es ist auch erheblich kleiner, steht dafür in einer gepflegten, kleinen Grünanlage, die seine rechteckig klotzige Form in ein kurzes Pflanzendreieck stellt. Die Symbolik des Blitzes ist die gleiche. Der Sockel zählt die Namen der nationalsozialistischen Konzentrationslager auf: Brandenburg - Plötzensee - Mauthausen - Ravensbrück. Den alten Dorfkern von Birkenwerder umgeben jetzt Eigenheimsiedlungen und Villen, die auch von der DDR nichts mehr wissen wollen. Viele von ihnen sind erst in den Jahren nach der Wende entstanden. Ich bezweifle, dass in diesen Heimen alteingesessene BirkenwerderInnen wohnen.
Zwischen den beiden Seen an der Brieseallee, dem Mönchsee und dem Boddensee, gibt sich Birkenwerder neureich. Villen und protzige Eigenheime säumen großspurig beide Straßenseiten. Zum Hohn für die Helden der kommunistischen Revolution und des gescheiterten sozialistischen Experiments DDR tragen die Straßen inmitten dieses großbürgerlichen Prunks noch immer die alten Namen: Clara-Zetkin-Straße, Erich-Mühsam-Straße, Friedrich-Engels-Straße. Auch den italo-amerikanischen Anarchisten Sacco und Vanzetti hat man eine Straße gewidmet. Wer mag ihr Protegé in der Verwaltung sein? Ein Ewiggestriger oder ein geschichtsbewusster Verwaltungsangestellter? Welch ein krasser Widerspruch! Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Reichtum, Freiheit und Glück. Wohl aber zwischen Armut und Wohlstand. Für die menschliche Gemeinschaft, die Eine Welt in der wir leben, und die uns alle eint, nicht unbedingt vereint, ist weniger mehr. Weniger Mangel durch weniger Konsum, weniger Überfluss, weniger Vernichtung bereits produzierter Waren. John Lennons Hymne Imagine zählt die Voraussetzungen dazu auf: keine Religion, keine Nationalstaaten, kein Besitz. Er ist sich dessen bewusst, dass sich das noch kaum jemand vorstellen kann. Doch es wäre ein Anfang! Eine andere Umverteilung des vorhandenen Reichtums könnte die längst überfällige Lösung sein. Doch das Gegenteil passiert. Philosophen lehren, dass ein glückliches Leben nicht von materiellem Reichtum abhängt. Ich möchte allen mehr Mut zu freiwilligem und selbstgewähltem Verzicht zumuten. Sie werden dann, wie ich, die Erfahrung machen, dass sie das auf keinen Fall unglücklich machen wird.
Wanderer verirren sich wochentags anscheinend selten in Birkenwerders Speckgürtel. Mit Wanderstab und Rucksack werde ich von Anwohnern und Passanten skeptisch beäugt. Ihr Blick ist deutlich: Ich gehöre nicht hierhin, nicht mitten in der Woche, wenn ordentliche Menschen einer geregelten Arbeit nachgehen. Es wird nicht gefragt, sondern gleich gewertet. Das ist deutsch, wie die Siedlung durch die ich gehe, obwohl sie am 66-Seen-Wanderweg liegt. Die Anwohner, vermute ich, sind trotzdem keine Wanderer gewöhnt. Sie sind distanziert und misstrauisch, vermeiden Augenkontakt und Gruß. Ich muss schon selbst die Initiative ergreifen, wenn ich gegrüßt werden will, denn ich bin hier der Fremde. Die Gastfreundschaft in Brandenburg leidet anscheinend noch unter dem Trauma vom inoffiziellen Mitarbeiter. Aber nicht nur zwischen Mönchsee und Boddensee gibt man sich verschlossen.
Vor dem neubarocken Rathaus in Birkenwerder, dessen Grundstein 1911 gelegt wurde, treffen die B 96 und B 96a, die Hauptstraßen des Ortes, auf einem Platz zusammen. Wie eine Telefonzelle vergangener Tage steht dort ein Kiosk. Drinnen füllen gebrauchte Bücher die Regale, ein Hinweis fordert auf, Bücher zu tauschen. Alle möglichen Themen sind vertreten, über das Wandern oder die Natur finde ich nichts. Nichts Heimatkundliches, das mich interessiert. Auf dem Buchmarkt erfreuen sich Sachbücher zum Thema mein Freund der Wald großer Beliebtheit. Sternstunden der Vermenschlichung nennt der Berliner Tagesspiegel die Bücher, die sich mit dem geheimen Leben von Pflanzen, Bäumen und Wald beschäftigen. Die Autoren sind Forstökonomen, Biologen und Journalisten, die sich Sorgen um das Überleben von Bruder Baum machen, ihm Allzu-Menschliches wie Gefühle und Gedanken unterstellen. Die Botschaft dieser Bücher kultiviert einen konsequenten Anthropomorphismus: Bäume sind die besseren Menschen.
Das geheime Leben der Bäume heißt auch ein Buch des Forstingenieurs Peter Wohlleben, ein Buchtitel, der die numinose Aura transportiert, die den Leser einer entzauberten Welt ohne Wunder und Geheimnisse fasziniert. Das Geheime ist aber doppelbödig: es ist zugleich schön und schrecklich, anziehend wie eine schöne Frau, oder es zeigt dem Unvorsichtigen die grässliche Fratze der Angst. Nie ist sicher, wie es in Erscheinung tritt. In seinem naturphilosophischen Romanfragment, Die Lehrlingen zu Sais, erzählt uns Novalis, das Märchen von Hyacinth und Rosenblüthe. Hyacinth, der den Schleier der Isis anhebt, lüftet das Geheimnis, dass Individuum und Natur ineinander verschwimmen, dass Fremdes und Vertrautes aus dem gleichen Stoff gemacht sind.
Was mich dagegen fesselt, ist das sichtbare Leben der Bäume. Ihr geheimes Leben ist, was immer das bedeuten mag, weil geheim, der unmittelbaren Anschauung entzogen. Wäre es sonst ein Geheimnis? Die gegenwärtige Präsenz der Bäume ist jedoch spürbar. Ihre scheinbar ewige Dauer, die sich im Wachstum aufeinanderfolgender Jahresringe spiegelt, ein kontinuierliches Wachstum, das kein Ende zu nehmen scheint, ihre Ewig-Gegenwart, ihr düsteres Zwielicht in der Morgen- und Abenddämmerung, die Unübersichtlichkeit, in der man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, ihr grünes Glänzen im Sonnenlicht oder ihr goldener Schein, der im Herbst den Wald in Messing und Bronze kleidet. Dann die dürren Äste und das Schwinden der Farben im Winter und die Wiederkehr des Lebens zu Beginn des Frühlings, die in vielen Kulturen Unsterblichkeit symbolisiert. Die Härte des Holzes, in dem trotzdem der Lebenssaft fließen kann. Was ist geheimnisvoll an Baum und Wald? Für den, der unter Bäumen wandert, ist alles sichtbar, spürbar, erlebbar. Für den, der sich vom anschaulichen Phänomen beeindrucken lässt, gibt es nichts Spekulatives, nichts Magisches, obwohl es dem Betrachter, der es versteht, sich dem Baum emotional zu nähern, wie Günter Eich in seinem Gedicht Ende des Sommers, so vorkommen mag. Wer möchte leben, fragt er, ohne den Trost der Bäume! Auch ich möchte, wenn ich aus dem Hause trete, nicht auf ihren Anblick verzichten.
Jenseits der Briesebrücke, auf der anderen Straßenseite der B 96, dort, wo ich vorgestern meine Wanderung unterbrochen habe, folgt der Wanderweg weiter der Briese flussaufwärts. Sofort nach der engen Passage unter der Brücke hindurch breitet sie sich wieder aus, gebärdet sich behäbig, gleicht wieder mehr einem Teich als einem Fluss.
Die Wasseroberfläche ist unbewegt und von den Schwimmblättern der Mummel bedeckt. Im Zwielicht des Schattens der Bäume, die ihre Ufer säumen, scheint sie fast still zu stehen. Sonnenflecken tanzen auf ihrer Oberfläche. Ich gehe der Briese auf einem unbefestigten, ebenen, aber naturbelassenen Weg zwischen Hecken und Bäumen bis zum nächsten Bohlenweg entgegen. Wandern an der Briese, mitten in Birkenwerder, ist einfach und komfortabel.
Ein Steg aus künstlichen, brauen Bohlen, kein Holz, das faulen kann, führt am Flussufer entlang, durch sumpfiges Gelände, in dem nichts daran erinnert, dass die Briese ein Fluss ist. Rechts und links von mir dehnen sich Wasserflächen aus, mal breit, mal buchtartig, die von Schwimmblättern oder Entengrütze bedeckt sind. Die Ufer, soweit ich sie ausmachen kann, sind dicht mit Gebüsch, mit Erlen und Birken bewachsen, von denen manche gleich ganz im Wasser stehen. Überall liegen ihre Reste im Wasser und modern vor sich hin. Baumstämme mit ausgefransten Enden, kürzere Äste oder auf dem Wasser schwimmende Blätter oder Zweige. Vom Bohlenweg aus scheinen die gegenüberliegenden Uferbereiche undurchdringliches Dickicht zu sein.
Mir fällt es zuerst gar nicht auf, dass ich den Mönchsee erreicht habe. Er sieht auch nicht viel anders aus, als die Ausbuchtungen, die die Briese bisher gebildet hat, etwas größer, runder vielleicht. Seine Oberfläche ist vollständig mit Entengrütze bedeckt, ein dicker Teppich, durch den ich kein Wasser sehen kann. Wie Staubsauger pflügen eine Schar Enten, der Länge nach ausgestreckt, durch die grüne Flur auf der Suche nach Nahrung, die zwischen den kleinen Pflanzen zahlreich sein muss. Flüchtig betrachtet ähneln sie toten Vögeln.
Mönchsee und Boddensee sind in ihrem Charakter sehr unterschiedlich: Die Oberfläche des ersten bedeckt eine dichte Schicht Entengrütze, durch die Stockenten pflügen, auf der Suche nach ihrem Frühstück. Die Oberfläche des anderen Sees ist klar und spiegelnd. Der Mönchsee sieht nach Briesesumpf aus, die auch in ihm verschwindet, ist trübe und schlammig. Durch den grünen Teppich auf seiner Oberfläche fällt kaum Licht in die aquatische Tiefe, in der es modert und fault. Der Boddensee ist ein Waldsee, der unter dem bedecktem Himmel einer dunklem Glasplatte gleicht. Die Ufer des Mönchsees sind undurchdringlich bewachsen, die des Boddensees fast überall durchlässig. Nicht die Größe der Gewässer ist für ihr unterschiedliches Biotop verantwortlich, sondern ihr Sauerstoffgehalt, der im Mönchsee wegen der in ihm verrottenden organischen Reste größer sein muss, als im Boddensee. Mehr Uferbewuchs, mehr Blätter, Zweige und Äste im See, mehr Sauerstoff, mehr Algen. Sowie andere Fischarten, und die größere Wahrscheinlichkeit der Verlandung.
Zwischen S-Bahngleisen und Boddensee verlasse ich die Eigenheimsiedlung am Rand vom Birkenwerder. Das mondäne Ausflugsrestaurant mit großer Außenterrasse am See ist für eine große Anzahl von Gästen vorgesehen, und nicht mein Geschmack. Man erwartet hier keine Wanderer, sondern Sonntagsspaziergänger, von denen gewiss ist, dass sie mehr Geld ausgeben. In der Woche scheint es geschlossen zu sein, doch vielleicht ist es auch so früh noch nicht geöffnet. Ein T-förmiger Steg ragt in den See, Boote sehe ich keine, und die Badestelle liegt drüben am anderen Seeufer. Ich habe kein Bedürfnis nach einer solchen Umgebung, und der Boddensee wirkt nach dem sumpfigen Mönchsee langweilig. Auf einem Waldweg verschwinde ich zwischen den Bäumen. Der Briesesumpf hat mich wieder. Zwischen den Laubbäumen und Sträuchern, deren Reste vermodernd im flachen Wasser liegen, riecht es muffig nach verrottetem Laub. Der Weg am Rand des Sumpfs ist breit und trocken, ein Waldweg für Spaziergänger oder Radfahrer, der nach kurzer Zeit an einer Holzbrücke über den Fluss endet. Hier macht der Sumpf einen gepflegten Eindruck, kein Unterholz liegt herum, die Ufer sind gesäubert, und selbst das Wasser wirkt frisch und klar. Die kleine, eingezäunte Parzelle ist eine kleine Idylle, nur noch das Modells des Briesesumpfs, zum Anschauen, ohne sich hineinbegeben zu müssen.
Jenseits der Brücke bin ich plötzlich wieder im bewohnten Birkenwerder. Fröstelnd wandere ich im Schatten den Wensickendorfer Weg entlang, der an der Autobahn endet. Waiting for the sun! Wer wartet heute nicht? Hinter einem gläsernen Lärmschutz führt eine Fußgängerbrücke über die Autobahn. Die unter mir vorbei rasenden Autos fühlen sich zum Greifen nah an. Ein unangenehmes Gefühl, dieses aggressiv klingende Rauschen der Reifen auf dem Asphalt unter mir. Am Birkenwerder Waldfriedhof habe ich den Ort endlich hinter mir gelassen. Gegenüber des Tors steht ein großes Kriegerdenkmal, das der Gefallenen des Ersten Weltkriegs gedenkt. In Brandenburg trifft man viele dieser Mahnmale an, als ob der Kampf gegen das Vergessen hier heftiger geführt werden muss als anderswo. Auf dem Friedhof versammeln sich die Alten einer fast ausgestorbenen Generation, diejenigen, die dem Tod auch im Leben nahe sind. Endlich kommt mir der Wanderweg wieder entgegen. Er mündet in ein größeres Waldgebiet, einen Forstweg, für Fahrzeuge gedacht, einer dieser unaufgeregten Waldwege, die nichts Besonders versprechen. Ein einsamer Radfahrer fährt ohne Gruß an mit vorbei. Etwas versteckt hinter einer großen Eiche biegt der Weg ab, fast übersehe ich ihn, aber etwas in mir weckt im letzten Moment meine Aufmerksamkeit. Auf einem weiteren Bohlenweg kehre ich in den nicht trockengelegten und überbauten Teil des Briesesumpfs zurück. Eine fantastische Landschaft, Adoptivkind des Naturschutzes, aber auch ein Feigenblatt, das den Ausverkauf der Landschaft nur mühsam bedeckt. Ich finde es wichtig, die Dinge von beiden Seiten zu betrachten, so erhalte ich viel eher einen Eindruck davon, was die Wahrheit sein könnte.
Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in einem richtigen Sumpf gewesen zu sein. Einem Sumpf, dem ich ansehen kann, dass der lebt. Nicht, dass viel los ist im Sumpf der Briese. Doch in der Luft liegt eine spürbare, ungewöhnliche Atmosphäre. Frühere Menschen würden vom Geist des Sumpfes sprechen, eine unheimliche Wesenheit, die den Unvorsichtigen lockt und in die Tiefe zieht; ihn tötet. Aber so weit will ich nicht gehen. Es sind die vielen Geschichten seit meiner Kindheit, die ich über Sumpflandschaften und ihre mysteriösen, unwirklichen Bewohner gelesen habe. Nun sitzen diese emotional besetzten Bilder in mir, und bestimmen meinen Eindruck von diesem Sumpf, der irgendwie auch lieblich erscheint.br />
Er wirkt zugleich faszinierend und gefährlich. Überall ist Wasser, das weiß ich, aber jetzt, mittendrin, kann ich nur vermuten, wo Wasser, wo sich Schlamm oder fester Boden befinden. Ich versuche die Tiefe des Wassers vor mir auszuloten. Mein Wanderstock findet keinen Grund; nur wenige Zentimeter Wasser stehen auf einem braunen, torfigen Boden. Ich stoße den Stock tief in die spiegelnde Oberfläche. Ich finde nichts, keinen Grund, mein Stock geht durch diese Masse wie durch Gelee. Vor Jahren, auf einer Flusswanderung auf der Havel, bin ich an einer solchen sumpfigen Stelle aus dem Kanadier gestiegen. Alles machte den Eindruck des flachen Uferbereichs, nur wenig Wasser auf braunem Grund. Ich bin mit dem rechten Bein bis zur Hüfte in ein weiches, schlammiges Substrat eingesunken, und konnte mich gerade noch am Bootsrand festhalten. Der Briesesumpf, das sind mit Entengrütze bedeckte Tümpel, kleine Wasserläufe oder niedrige, wässrige Sackgassen, tote Stämme von Birke und Erle, mit Schilf und breitblättrigen Wasserpflanzen bewachsen und von Blättern und abgestorbenen Baumresten bedeckte Stellen, gelegentlich auch feuchter Boden, auf dem ich nur wenig einsinke und gehen kann.
Der Bohlenweg, auf dem ich trockenen Fußes über dem Sumpf wandere, ist ein lehrreicher Pfad. Info-Tafeln erzählen kurzgefasst, dass die Briese ein naturnahes und weitgehend unverbautes Fließ ist.
Sie strömt in vielen Mäandern durch eine moorige Landschaft aus Sumpfwiese und Erlenbruch. Sie entspringt im Wandlitzsee, durchfließt den Lubow- und Rahmersee, durchquert Birkenwerder, und mündet nach insgesamt 17,6 Kilometer Lauflänge in die Havel.
An ihren Ufern wachsen Weiden und Erlen, deren Wurzeln einen palisadenartigen Vorhang bilden, der das Ufer auf natürliche Weise vor Ausspülung schützt, aber Unterwasserhöhlungen zulässt. Diese sind willkommene Verstecke von Fischen, Krebsen und anderen Wassertieren. In der Briese findet man zahlreiche Fische, die anderswo selten geworden sind: Elritze, Hasel, Schmerle, Gründling, Barsch, Rotfeder, Groope und Quappe. Aber auch Säugetiere wie Wasserspitzmaus, Fischotter und Biber sowie der auffällige Eisvogel nutzen den Lebensraum der Bachaue. Fließgewässer sind lebensnotwendige Wanderwege für viele Tierarten, daher dürfen sie nicht durch Wehre oder andere Bauwerke versperrt oder verrohrt werden. Trotzdem quält sich die Briese in Birkenwerder unter der engen Briesebrücke hindurch und fließt dabei über ein kleines Wehr.
Der Bohlenweg endet mitten im Wald. Er folgt noch immer der Briese, doch dichtes Unterholz verbirgt sie vor meinem Blick. Am Ende des Wegs, wo auch der Sumpf wieder verschwindet, liegt der runde Briesesee, und an seinem Ufer die Fachklinik Briese, in der Abhängigkeitskranke therapeutisch behandelt werden. Früher war es üblich, eine Reha-Klinik in einer schönen landschaftlichen Gegend anzusiedeln, vielleicht weil man noch daran glaubte, dass Luft, Licht und ein grünes Land, den Heilungsprozess fördert. Inzwischen geht der Trend der Suchttherapie immer mehr in eine naturwissenschaftlich-technische Richtung, weil man jetzt daran glaubt, dass die Sucht allein am Organ Gehirn behandelt werden kann, weil die Beziehung des Stadtmenschen zur Landschaft verloren gegangen ist. Konsequenterweise findet man die neuen, modernen Kliniken in den Städten. Begründet wird dieser Paradigmenwechsel damit, dass man behauptet, die Kranken nicht mehr ausgrenzen zu wollen um sie in ihrem problematischen Umfeld zu behandeln. Die Wege sind für den Dealer kürzer geworden.
Jenseits der Fachklinik öffnet der Naturpark Briesesumpf für den Wanderer seine Tore. An einem sonnigen Tag wie heute ein unvergessliches Erlebnis. Die Pfade werden schmaler, die Bäume stehen enger und das Gras höher. Ich halte mich dicht am Sumpf, dessen Ufer unmittelbar neben mir verläuft. Manchmal greift die Uferlinie mit einer Ausbuchtung nach meinem Weg. Ich stehe verblüfft in einer anderen Landschaft.
Es gibt zwei Briesesümpfe, den gezähmten in Birkenwerder, und den wilden außerhalb des Orts, Richtung Wensickendorf. Everglades fällt mir spontan ein, obwohl ich von diesem tropischen Marschland nur Filmbilder im Kopf habe. Heiß genug ist es heute, und der Sumpf strahlt in blendendhellem Sonnenschein in einem verführerischen Grüngelb. Ich habe so etwas wirklich noch nicht lebendig vor mir gesehen. Eine Biegung des Pfads, und ich stehe vor einer Kulisse, die mich an Jurassic Park denken lässt. Urzeit-Echsen würden mich im ersten Moment nicht verwundern. Wie ein ovaler See dehnt sich vor mir ein Tal aus, das rundherum von Wald umgeben ist. Eine freie Fläche, die aussieht wie fester Boden, in dem ein Erlenhain wächst, deren Stämme sich fast zehn Meter in den Himmel recken. Ihre Stämme sind nackt, und nur im oberen Viertel sprießen Blätter an Zweigen, die sich nach oben drängen. Weit ausholende Äste oder eine Krone haben diese Bäume nicht. Dass vor mir eine Wasserfläche liegt, grün und unter Vegetation verborgen, wer weiß wie tief, weiß ich natürlich, zu sehen ist davon nicht viel. Fantastisch, diese Sumpflandschaft.
Zwischen Birkenwerder und Wensickendorf liegt ein größeres, zusammenhängendes Waldgebiet, das Naturschutzgebiet Barnim, durch das die Briese fließt und dabei diese Sumpflandschaft bildet.
Der 66-Seen-Wanderweg führt bis zur Zühlsdorfer Mühle weiter dem Fluss aufwärts, meistens durch Wald und schlecht markiert. Aber der Lauf der Briese verhindert, dass ich mich wieder verlaufe. An einem aufgegebenen Forsthaus serviert ein leutseliger Alter neben vielem anderen auch tschechisches Bier, präsentiert Hühner, Truthähne und Ziegen und einen ausgesperrten Ziegenbock mit prächtigem Gehörn, der auf meinen Ruf sofort herbeieilt.
Gelangweilt gehe ich zur Zühlsdorfer Mühle weiter, fast betäubt von dem Eindruck den der Briesesumpf bei mir hinterlassen hat. Unmittelbar nach dem Briesesumpf hat keine Landschaft eine Chance. An der Mühle verabschiedet sich der Wanderweg endgültig von der Briese. Ein harzig duftender Kiefernwald, Brandenburgs Wahrzeichen, liegt vor mir, der fast ins nahegelegene Wensickendorf hineinreicht. Rotbraune Säulen rahmen meinen Weg, der in ein nachmittäglich braunes Licht getaucht ist. Ein Farbenrausch, der dem des Sumpfes in nichts nachsteht, denke ich, und stapfe durch den tiefer werdenden brandenburgischen Sand.
Wensickendorf, ein Angerdorf, empfängt mich mit einer historischen Kirche und einer bedrängten Fischbude, Gebäude, die einträchtig neben einander stehen, obwohl sie nichts miteinander gemein haben. So sieht wahre Toleranz aus. Es herrscht Wandererandrang an der Bude, und ich frage mich, wo die vielen Menschen plötzlich hergekommen sind. Mit ist nicht nach Fischbrötchen und nach Aal recht nicht, biege ab und gerate auf eine skurrile, dreispurige Straße, die Hauptstraße durch den Ort. Sie war einmal eine Lindenallee, jetzt ist sie eine von einem gepflasterten Fuß- und Radweg und einer viel befahrenen, zweispurigen Landstraße in die Mitte genommene Lindenallee. Pflaster und Asphalt liegen ungeschützt in der heißen Sonne, während ich alleine im Schatten der Baumkronen auf dichtem, weichem Laub durch den Ort gehe. Warum die anderen Fußgänger über das Pflaster des Fußwegs gehen, verstehe ich nicht.
Die Straße zum Stolzenhagener See biegt am Bahnhof von Wensickendorf auf einen Feld- und Wiesenweg ab, der kurvenreich durch eine Baumgalerie führt, nicht sehr abwechslungsreich und ermüdend. Es dauert zermürbende Kilometer, bis ich in Stolzenhagen bin, laufe mehrere Kilometer auf der Landstraße, bis mich eine Seepromenade an den See bringt, auf dem Spaziergänger flanieren. Die erste öffentliche Badestelle am See, nur ein kleines Dreieck, ist hoffnungslos überfüllt. Sehr deutlich signalisieren mir die Blicke der sportlich oder elegant gekleideten Passanten, dass sie einen Wanderer wie mich befremdlich finden. Anscheinend falle ich, mit Stock, Mütze und Rucksack versehen, doch aus der Rolle. Am südlichen Ende des Stolzenhagener Sees der nächste überfüllte Badestrand mit großen Parkplatz. Zwischen dem Strandbad Stolzenhagen und dem vom Wandlitz gehe ich auf einer waldbegrenzten Straße, deren Decke von Rissen und Schlaglöchern übersät ist, vorbei an protzenden Eigenheimen und Villen, die am Ufer des Wandlitzsees liegen und die Öffentlichkeit vom See fernhalten. Wer sich nicht vorstellen kann, was Berliner Speckgürtel bedeutet, der sollte am Nordufer des Wandlitzsee spazieren gehen. Vier Kilometer großspurige Villenschau, eine perverse Zurschaustellung von Reichtum auf dem Sand der Mark, Protz und Prunk der Neureichen. Ein anderer lehrreicher Eindruck vom berlingewordenen Brandenburg. Große Gärten umgeben die Anwesen, der gesamte Uferbereich ist privatisiert; abgesperrt und eingezäunt. Es gibt nur zwei schmale, freie Zugänge zum See am Nordufer des Sees. Ein Zugeständnis ans Volk. Dazu ein kostenpflichtiger Badestrand gegenüber vom Bahnhof Wandlitzsee.
Ein sanfter, ökologischer Fußabdruck wird zunehmend drängender. Wenn auch anders gemeint, lässt sich Mies van der Rohes Rede vom Weniger, das Mehr ist übertragen. Was meint sein Weniger, das mehr sein soll? Was bedeutet dieses Mehr? Diese Frage lässt sich nur qualitativ und gesellschaftlich beurteilen, muss aber zuvor individuell entschieden werden. Jeder muss zumindest eine Meinung haben. Niemand kann sich der Verantwortung für seine Umwelt entziehen. Ein Mehr, das sich immer weiter, höher und schneller gebärdet, brauchen wir schon lange nicht mehr. Fortschritt und Wachstum wird immer brutaler gegen das Überleben dies Planeten ausgespielt. Es ist alles andere als idealistisch und wirklichkeitsfremd, aber von entscheidender Relevanz:
- Weniger Fortschritt , mehr Rücksicht!
- Weniger Kapitalismus, mehr Humanismus!
- Weniger Habgier, mehr Empathie!
- Weniger Konsum, mehr Verzicht!
- Weniger Motorisierung, mehr körperliche Bewegung!
- >Weniger Krieg, mehr Frieden!
- Weniger Hass, mehr Liebe!
- Weniger Fanatismus, mehr Toleranz!
Viel weniger von alle dem ist eindeutig mehr: für das Individuum und für die Gesellschaft.
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