Wir träumen von Reisen in das Weltall.
Ist denn das Weltall nicht in uns?
Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.
Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.
Novalis
Gernika! Der Name hat einen schrecklichen Klang. Er lässt einen bitteren Geschmack zurück. Für die baskische Bevölkerung muss Picassos Gemälde im Zentrum der Stadt eine ständige Mahnung sein. Angesichts dieses Schreckens und der Zerstörung hätte es die ETA nie geben dürfen. Die Aufgabe der Kreativen besteht darin sich öffentlich zu machen. Pilgern bietet die Möglichkeit der unaufgeregten Besinnung auf das Wesentliche, ist Vorbereitung auf den Prozess der Veräußerung eigener Betroffenheit, die sich in den Erlebnissen und Erfahrungen spiegelt, mit denen man in dieser Welt besser leben kann. Mein affektives Betroffensein durch die Erfahrungen mit der Lebenswelt, gestaltet den inneren Reflex auf meine Wahrnehmungen.
Wir haben alle lange geschlafen. Ich habe durchgeschlafen, meine erste gute Nacht. Es bleibt ein Geheimnis, was mir in den letzten Nächten den Schlaf geraubt hat. Der namenlose Franzose sicher nicht. Als ich gegen sieben Uhr aufstehe, schultert er bereits seinen Rucksack. Auf rot getapten Füßen ist er auf und davon. Ich mache es ihm nach, beklebe meine Füße, wie er es mir gestern Abend gezeigt hat, und überlege, ob ich ihn einholen kann, wenn ich auf das Frühstück verzichte. Ich gehe auf weicheren Sohlen, viel besser als in den letzten Tagen. Die steilen Abstiege schmerzen immer noch. Mein Weg durch das baskische Mittelgebirge folgt dem Auf und Ab enger Täler und steiler Höhen. Sehr lange bergauf, dann schnell wieder bergab. Kaum bin ich schwer atmend oben angekommen, muss ich wieder hinunter, auf rutschigen und kurvenlosen Sandpisten oder einem steinigen Ziegenpfad, der sich in Serpentinen abwärts schlängelt. Stundenlang: aufwärts, abwärts, bergauf und wieder bergab, hinauf und hinunter. Eine meine Tage ausfüllende Beschäftigung.
Der Weg aus Munitibar ist nicht anders. Gleich hinter der nächsten Ecke stehe ich vor der ersten Steigerung des Tages. Inzwischen erwarte ich nichts anderes mehr. Ich habe auch heute nicht gezählt, wie viele es bis Gernika sind. Ein Dutzend mindestens. Bis nach Aldaka ist der Camino del Norte der harte Asphalt einer schmalen Landstraße, vorbei an einer kleinen Santiago-Kapelle aus dem 18. Jahrhundert, gebaut lange nach dem Hoch der mittelalterlichen Pilgerscharen. Der erste Berg ist bewältigt. Ich kann mich entlang eines munter plätschernden Flüsschens entspannen, das sich durch das Tal schlängelt und meinen Weg mehrfach kreuzt. Über perfekt arrangiertes Felsgestein und Holzbrücken, die sicher noch nicht viele Pilgerschuhe gespürt haben, komme ich bequem und trockenen Fußes hinüber. Jemand hat sich viel Mühe damit gegeben, dass es die Pilger bequem haben. Ob er bedacht hat, dass er ihnen damit die Spannung des unvertrauten Übergangs nimmt? Als ein letztes, wenig berechenbares Abenteuer! Dafür sind wir doch alle hier. Damit unser Leben einmal anders verläuft, abseits der alltäglichen Routinen und Sicherheiten. Nicht zum ersten Mal hege ich den Verdacht, dass die Tourismusindustrie damit begonnen hat, sich des Pilgerns zu bemächtigen. Sie sorgt für bequeme Wege, ist auf Masse aus, und zerstört so die Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit des Erlebens. Erst viel später habe ich erfahren, dass man auch pauschal pilgern kann. Buchung und Transport des Gepäcks inklusive. Gehen muss jeder noch selbst, aber wer weiß.
Der Weg verläuft sich in einem Bergwald, steil und steinig, aber ungezähmt und rücksichtslos drängt er sich an einer Bergflanke entlang. Ohne den Wanderer zu schonen steigt und fällt der Küstenweg wie es ihm gerade gefällt. Ich beginne, mich in die baskischen Berge zu verlieben: Wieder bin ich mitten im Wald, nichts als Bäume, Sträucher, Farne und Blume, um mich herum trudelnde Schmetterlinge und Hummeln, unter ihnen der Schwalbenschwanz, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Weiche, federnde Böden, ich atme harzige Luft, der Geruch und Geschmack von Sauerstoff auf der Zunge, im Ohr ein Pfeifen, Zirpen, Keckern und Trällern, das Lied von Amsel, Rotkelchen, Dompfaff und anderer, unbekannter Vögel. Immer wieder der Kuckuck, der mir aus Deutschland nachgeflogen ist, der mir Mysteriöses nachruft. Ein unbestimmtes Knacken von links, auf der anderen Seite raschelt etwas und die nächste Eidechse verschwindet im Laub. Der Wind in den Zweigen, der Schatten der Blätter und die flimmernden Flecken, die die Sonne auf den Boden zaubert. Wenn der Wald einmal den Blick freigibt, öffnen sich spektakuläre Panoramen in die Täler oder auf die Bizkaia, auf die gegenüberliegende Bergkette, auf einsame Höfe inmitten sattgrüner Weiden mit grasenden Herden. In der Ferne bellen die Hunde, die mich warnen, ihnen zu nahe zu kommen. Ich bin weit entfernt, und bezweifele, ob sie mich überhaupt sehen können. Über die Hänge verstreut grasende Pferde und Kuhherden. Immer wieder Esel, die mich heiser schreiend begrüßen, um mir im nächsten Augenblick schläfrig nachstarren. Womöglich denken sie sich, dass ich der größere Esel bin, der mit Gepäck und ohne zu wissen warum, allein durch die Berge wandert, während sie bis an die Knie im Gras entspannt die Wiese durchkauen. Ich kann nicht mehr anders, das Wandern lässt mich nicht mehr los.
Während ich durch den Wald trödele, überholen mich die ersten Pilger. Sie müssen in Markina Xemein gestartet sein oder irgendwo zwischen Markina und Munitibar übernachtet haben. Olabe, Mendata, Arratzu und Ajangiz, kleine, menschenleere Orte am Weg nach Gernika, zu unscheinbar, ich erinnere mich nicht mehr an sie. Ein junges Paar, Franzosen Anfang zwanzig, überholen mich schnell und mit strammem Schritt auf der Steigung hinauf nach Arratzu. Ich höre ihre Unterhaltung während sie sich nähern. Wind und Luft tragen den Schall der Stimmen weit voraus, sodass ich Fetzen ihres Gesprächs verstehe, bevor ich sie sehe. „Buen Camino!“ auf den Lippen, vorübergehen.
Die Brücke bei Arratzu ist kaum zu sehen. Erst von der anderen Seite nehme ich sie erst richtig wahr. Sie ist üppig mit Schlingpflanzen und Strauchwerk überzogen. Die Vegetation hat sich zwischen den Bruchsteinen angesiedelt und ihr Terrain zurückerobert. Der steinerne Übergang ist alt, doch ungebeugt. Schon im Mittelalter brachte die Brücke die Pilger sicher über den Fluss. Die beiden Franzosen plaudern achtlos über das historische Denkmal hinweg. Es gibt verschiedene Gründe auf einem Jakobsweg unterwegs zu sein. Keiner ist besser als der andere.
Ich wusste nicht, dass Gesprächsfetzen in der freien Natur weit zu hören sind; nicht nur auf dem Wasser. Unvermittelt stehe ich auf einer antiken, mittelalterlichen Brücke, deren Bogen sich in einem Halbkreis über den Fluss spannt, als sie lächelnd, ein
Arratzu ist eine Streusiedlung, die aus mehreren Weilern besteht. Der Küstenweg führt hoch
hinauf auf einen Hügel in den Ort, wo im Ortsteils Eleizalde die monumentale Kirche San
Tomas über den wenigen Häusern thront. Ich habe das schon in Brandenburg auf dem Weg
nach Wilsnack, und später auf der Via Regia erlebt: In kleinen, heute längst vergessenen
Ortschaften werden bedeutende Kirchen und Kunstschätze bewahrt. Im Baskenland, und wie
ich später noch erleben werde, im Umfeld des Jakobswegs, ist es nirgendwo anders. Wieder
einmal stehe ich vor einem dieser wuchtigen Bauten, denen die Last der Geschichte nicht
anzusehen ist. Ich versuche mir vorzustellen, wie es hier vor fünfhundert Jahren ausgesehen
haben mag. Welche Gebäude den Ort damals gebildet haben, die Menschen in den Gassen und
Straßen, der Verkehr, die Läden und der Markt, auf dem Essbares, Heilsames und Magisches
angeboten wurde. Welche Konflikte hatten die Dorfbewohner damals mit ihren Gästen, den
Pilgern aus ganz Europa? In welcher Sprache haben sie untereinander kommuniziert? Was war
ihnen wichtig und wovor hatten sie Angst? Was verursachte ihre tiefe Frömmigkeit, deren
Ideale nicht erloschen, auch wenn die Menschen im Alltag tagtäglich an ihnen scheiterten. Der
Jakobsweg trägt mit dazu bei, das Gemeinsame europäischer Kultur und Geschichte zu
bewahren. Anderenfalls wäre er nicht Weltkulturerbe geworden. So habe ich das auf dem
Jakobsweg nach Wilsnack zum ersten Mal verstanden. Diese Einsicht, das Staunen und die
Ehrfurcht, auf historischem Boden zu stehen, oder auf ihm zu gehen, macht einen Teil meiner
Faszination für das Pilgern aus.
Ein Parkplatz, eine Bank an einem Brunnen mit einer grandiosen Aussicht auf das baskische
Mittelgebirge, verraten noch einen Rest von Bedeutung. Leider ist auch diese Kirche
geschlossen. An der Flanke des Hügels, unterhalb der Kirche, drängen sich die Häuser von
Eleizalde. Ich sitze einige Zeit am Brunnen, nutze die Ruhe, das frische Brunnenwasser und die
Aussicht für einen Imbiss: eine Banane, eine Handvoll Erdnüsse, ein Müsliriegel und
Quellwasser, meine leichte, nahrhafte Wandernahrung. Als ich aufbreche und mich noch einmal
nach der Kirche umsehe, sitzt Karla auf den Treppenstufen bei ihrem morgendlichen PicknickRitual. Sie vermeidet meinen Blick und grüßt nicht zurück. Trotz unserer Differenzen kommen
wir nicht voneinander los. Karla versucht es mit Ignoranz, was ich in Ordnung finde, denn ich
will mich nicht mehr mit ihrer mürrisch aggressiven Laune auseinandersetzen.
Nach Gernika-Lumo, wie die Stadt bei den Basken heißt, ist es nun nicht mehr weit. Der Wald
bleibt mit noch bis Ajangiz erhalten, wenn auch der Küstenweg immer häufiger die von
Schlaglöchern und Radspuren zerfurchten Pisten der Forstwirtschaft nutzt. Kurz vor Ajangiz
enden die Bäume, und ich kann weit unter mir die Ría von Gernika sehen. Hunderte Meter vor
der Küste durchbricht die Oka die Berge und bringt mir den Atlantik zurück. Auf einer steil
abwärts führenden, rutschigen Schotterpiste erreiche ich Ajangiz. Ich glaube, schon in Gernika
zu sein. Der Ort an der großen romanischen Kirche mit ihrem sechseckigen Mittelschiff und
dem fast runden Grundriss wirkt städtischer, als er in Wirklichkeit ist. Doch ich bin noch nicht
im Tal der Oka, denn der Küstenweg führt weiter abwärts. Auf einem schmalen Pfad zwischen
Hecken, auf herrlich duftendem, frisch gemähtem Gras, öffnet sich plötzlich Gernika.
Unvermittelt endet der Pfad, ich stehe an einer Kreuzung zwischen den ersten Häusern der
Stadt. Es beginnt zu regnen, zuerst schüchtern, dann heftig, beinahe rücksichtslos. Mitten auf
der Kreuzung steht in einem Rondell eine mächtige Eiche, die mich leidlich trocken hält. Gegenüber flackert das grüne Kreuz einer Apotheke. Wenn auch teuer, bekomme ich endlich
die orthopädische Bandage, um mein schmerzendes Kniegelenk zu stabilisieren. In der
Hoffnung auf besseres Gehen mache ich mich auf den Weg in die Fußgängerzone. Ich will
zentral übernachten, in der Cervecerie Gernika. um genug Zeit zu haben, mich in der Stadt
umzuschauen. Doch die Pension ist belegt. In der Bar nebenan gibt es Pintxos und Bier für ein
verspätetes Mittagessen. Gernika meint es gut mit mir. Mitten im Treiben der Passanten sitze
ich vor der Bar in der Pablo Picasso Kalea, esse und trinke, und lasse mich von der Atmosphäre
Gernikas verführen.
In der Jugendherberge bekomme ich noch ein Bett in einem der großen Schlafsäle. Karla ist
inzwischen eingetroffen, gemeinsam mit den Dortmundern, die ich zuletzt auf dem Weg nach
Markina-Xemein getroffen habe. Nachdem ich eingecheckt habe und meinen Rucksack
losgeworden bin, gehe ich zurück in die Stadt. Karlas äußert sich abfällig über die Stadt, als ich
sie frage, ob sie mitkommen will. Picassos Bild, meint sie, bestehe doch nur aus Kacheln. Wie
kommt sie auf den Gedanken, ein Kunstwerk wie dieses im Original Wind und Wetter
auszusetzen? Wenn auch nur eine Reproduktion, bin ich neugierig auf Picassos berühmtes
Gemälde in Echtgröße. Ein kurzer Spaziergang durch die Stadt, auf noch müden Füßen, nimmt
mich gleich für Gernika ein. Die Stadt verlangt nach mehr. Museo de la
Paz auf der Foru Plaza, der Park der Völker Europas, Brunnen und Skulpturen und natürlich
Picassos Guernica, verdienen mehr als den flüchtigen Blick, den ich aufbringen kann.
Ein Name, der mir durch Picassos Werk seit langem vertraut ist. Gernika glänzt an diesem Nachmittag im Prunk spanischer Städte. Ich sehe auf den ersten Blick, dass die Stadt nicht hinter San Sebastián-Donostia zurückstehen muss. Die historischen Bauten mit ihren prachtvollen Fassaden, die Arkaden unter denen Bars und Restaurants die Gäste mit Kaffee, Wein und Pintxos bewirten, das
Picassos Gemälde thematisiert den Krieg, ausgelöst durch das Massaker der deutschen und
italienischen Luftwaffe 1937 im spanischen Bürgerkrieg, als die beiden faschistischen Regimes
Francos Griff nach der Macht unterstützen. Das Gemälde ist 7,77 Meter lang und 3,49 Meter
hoch, eine 27 Quadratmeter große Leinwand. Picasso, Mit-Begründer des Kubismus und
Topstar der europäischen Kunstszene, hatte den Auftrag bekommen, ein propagandistisches
Werk zu schaffen, mit dem die spanische Regierung auf der Pariser Weltausstellung von 1937
gegen Franco, der das Land in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt hatte, polemisieren konnte.
Doch Picasso kam nicht dazu, den Auftrag auszuführen, denn am 26. April 1937 bombardierten
die deutsche Fliegerstaffel Legion Condor und Mussolinis Corpo Truppo Volontarie Gernika,
ein experimenteller Luftangriff, um Munition und Strategie für den bevorstehenden Zweiten
Weltkrieg zu testen.
Die Bombardierung Gernikas war die Initialzündung für Picassos Gemälde. Während die Stadt
in Trümmern lag und in Flammen stand, begann Picasso das Grauen des Krieges ins Bild zu
setzen. In ein Bild voller Tod, Trauer und Schmerz mischte er in Schwarz-Weiß-Grau-Tönen
collagenhaft surrealistische, theatralische, cineastische und kubistische Elemente. Fotografien
aus Zeitungen, Kinoszenen, die Picasso von Opfern des Spanischen Bürgerkriegs vorlagen,
aber auch Anklänge an Francisco de Goyas Kriegsgemälde Die Erschießung der
Aufständischen sowie die christliche Passionsikonografie sind deutlich erkennbar. Die Pietá,
die um Jesus trauernde Maria, besonders die sieben Flammen, die die Feuersbrust von Gernika symbolisieren, gemahnen an die Apokalypse. Mit dem Stier, der die faschistische Franco-Diktatur repräsentiert, die die blutigen Stierkämpfe protegierte, und dem Pferd als Metapher für
das leidende Volk, knüpft Picasso mit Gernika auch an seine Minotauromachie-Serie an; der
Minotaurus als Ausdruck menschlicher Bestialität. Über dreißig Jahre lang hat Picasso
untersagt, dass Bild im Spanien der Franco-Diktatur auszustellen.
Gernika-Lumo ist eine Kleinstadt mit 16 800 Einwohnern am Fluss Oka in der Provinz Bizkaia, eine von vier Provinzen der Autonomen Region Baskenland. 1366 gegründet wird Gernika von den Basken noch immer als Symbol ihres Kampfes um Unabhängigkeit wie eine heilige Stadt verehrt. Der Baum Gernikas ist die Eiche, die auch auf dem Wappen der Provinz von Bizkaia abgebildet ist. Das baskische Bergland muss einst ein Eichenwald gewesen sein. Die Eiche ist auch der dominierende Baum am baskischen Donejakue Bidea. Ich weiß nicht, ob die kniehohen, hölzernen Monolithen, die den Küstenweg im Baskenland markieren, aus Eichenholz gefertigt wurden. Ich stelle mir das gerne vor, denn es gibt sie nur im Baskenland. Kaum habe ich die Grenze nach Kantabrien, unweit von Pobeña, überschritten, gibt es bis zur Null-Kilometer-Marke am Kap Finisterre nur noch steinerne Monolithen. Der Baum von Gernika symbolisiert die Unabhängigkeit der Basken. Heilige Eichen, wie die von Gernika, waren bis ins mittelalterliche Europa weit verbreitet. Die bekanntesten sind die Donareiche, die Bonifatius um 760 fällte, sowie die All-Säule Irminsul, ein frühmittelalterliches Heiligtum der germanischen Sachsen, die Karl der Große 772 zu Beginn der Sachsenkriege fällen ließ. Solche Bäume symbolisieren die Weltachse, den Stamm, der die drei kosmischen Ebenen verbindet. Die kulturelle Funktion der Irminsul ist nicht aufgeklärt, doch sie hatte einen ähnlichen Sitz im Leben der germanischen Kulturen wie der Baum von Gernika bei den Basken. Auch die keltischen Druiden sind für ihre Affinität mit der Eiche bekannt. Im Mittelalter hielten die baskischen Volksvertreter Rat unter diesen besonderen Eichen, schworen Eide unter diesen Bäumen und sprachen in ihrer Anwesenheit Recht. Ab 1512 hielten die Basken ihre Ratsversammlungen nicht mehr dezentral unter freiem Himmel ab, sondern in einer Eremitage in Gernika. Der Baum wandelte sich vom Ort des Geschehens zum überlieferten Symbol der baskischen Kultur und Eigenständigkeit. Auf dem zentralen Platz in der Stadt steht ein bronzener Gitarrist. José María Iparragitta nennt ihn das Schild zu seinen Füßen unter einer Notation. Er ist der baskische Nationaldichter und Verfasser ihrer Nationalhymne, Gernikako Arbola, Baum von Gernika. Die einleitenden Strophen der Hymne Gernikako Arbola thematisieren das tief verwurzelte Wir-Gefühl baskischer Identität:
Gesegnet ist der Baum von Gernika,
geliebt von allen Basken.
Trag und verbreite deine Früchte in der Welt,
wir verehren dich, Heiliger Baum.
Rund tausend Jahre, sagt man, ist es her,
dass der Herr den Baum von Gernika pflanzte.
Steh aufrecht heut und alle Tage.
Du wirst nicht stürzen, geliebter Baum,
verhält sich der Rat von Bizkaia richtig.
Wir vier Provinzen vereinen uns mit dir,
damit die Basken in Frieden leben.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurde der Baum von Gernika in mehreren Exemplaren immer wieder neu gepflanzt. Die erste Eiche, der sogenannte Alte Baum, wurde im 14. Jahrhundert gesetzt und 450 Jahre alt. Sein Stamm wird bis heute aufbewahrt. Er ist in einem kleinen Tempel in der Stadt ausgestellt. Gernikako Arbola, unter dem einst die Basken ihre direkte Demokratie praktizierten, befindet sich oberhalb des Zentrums der Stadt. Die Könige von Navarra und Kastilien schworen unter der Eiche von Gernika die Autonomie der Basken zu wahren. Im spanischen Bürgerkrieg bombardierte die deutsche und italienische Luftwaffe die Stadt sturmreif, die kurz darauf von Francos Verbänden eingenommen wurde. Der Name Gernika ist seitdem ein Fanal, das Picassos Bild Guernica künstlerisch zum Ausdruck bringt.
Der dritte Baum, 1860 gepflanzt, überstand den Luftangriff auf Gernika, und wuchs bis 2004 in der Stadt. Als Francos Falangisten die Eiche Gernikas fällen wollten, stellten bewaffnete Freiwillige Wachen auf, um das Symbol ihrer Unabhängigkeit zu verteidigen. Der rezente Baum, der fünfte in der Dynastie, stammt aus einer Eichel seines Vorgängers, und wurde im März 2015, vierzehn Jahre alt, in die Erde gesetzt. Das Nationalheiligtum.
Ich hatte erwartet, nach dem verheerenden Luftangriff der Faschisten weniger vom historischen Gernika zu sehe. Doch das baskische Nationalbewusstsein hat Enormes geleistet und Gernika kunsthistorisch prachtvoll restauriert. Das Geschichtsbewusstsein und die ethnische Identität der baskischen Stadt äußern sich auch im Parque de los Pueblos de Europa. Zwei monumentale Skulpturen erinnern an die Katastrophe von 1937 und ziehen gleichzeitig die Konsequenzen daraus. 1991 wurde der Parque de los Pueblos de Europa in unmittelbarer Nachbarschaft der Casa de Juntas, Sitz der Generalversammlung Bizkaias, mit mehreren Skulpturen eröffnet. Large Figure in a Shelter, Große Figur in einer Schutzhütte, von Henry Moore, sowie Gure Aitaren Etxea, Das Haus unseres Vaters, des Basken Eduardo Chillida, besitzen eine besondere Relevanz für die Stadt. Museo Chillada Leku zitiert den baskischen Bildhauer mit folgenden Worten: Ich bin einer von denen, die - und für mich ist das sehr wichtig - denken, dass Menschen von einem Ort stammen. Idealerweise stammen wir von einem Ort, haben unsere Wurzeln in einem Ort, aber unsere Arme strecken wir aus in die ganze Welt, lassen uns inspirieren von den Ideen der verschiedenen Kulturen. Von E. Chillada stammen auch die Windkämme im Westen der La-Concha-Bucht seiner Heimatstadt Donostia sowie die Eisenplastik Berlin vor dem deutschen Bundeskanzleramt.
Die Plastik von Henry Moore, sieben Meter hoch und zwanzig Tonnen schwer, ist eines seiner letzten Werke, entstanden zwischen 1985 und 1986. Zum 53. Jahrestag der Bombardierung von Genrika wurde es 1990 im Park von Gernika installiert. Henry Moore weist in seinem Werk darauf hin, dass eine größere Figur zeigt, die beschützend eine kleinere umschließt, dass jedes Individuum in Freiheit leben will, weder Waffengewalt noch militärischer Willkür ausgeliefert. Die wie eine Festung wirkende Steinplastik von Eduardo Chillada, acht Meter hoch mit einem äußeren Umfang von neunzehn Metern, wiegt 180 Tonnen. Sie stellt ebenfalls ein Mahnmal dar. Begonnen hat der Künstler sein Werk 1987 am 50. Jahrestag der Bombardierung Gernikas. Aufgestellt und eingeweiht wurde die dem baskischen Volk gewidmete Skulptur 1988. Die Website des
Ich bleibe lange im Park der europäischen Völker. Das Wetter ist warm, der Himmel wolkenlos und der Park eine Oase nachmittäglicher Gelassenheit. Kinder spielen in der Sonne, die Erwachsenen flanieren oder sitzen ins Gespräch vertieft auf einer der zahlreichen Bänke oder gleich im grünen Gras. Müßig nach den vielen Kilometern durch Gernika setze ich mich zu ihnen auf eine der Bänke und esse die in der Stadt gekauften Früchte: kaum reife Erdbeeren, Äpfel und Bananen, dazu Orangensaft aus der Flasche. Später kehre ich in der Bar del Norte ein. Am Nebentisch ist eine Gruppe älterer Damen leidenschaftlich in ihr Kartenspiel vertieft. Es geht aufgeregt zu, die Spielzüge werden lautstark diskutiert, es scheint um Einsätze zu gehen. Am Tresen sitzen gelangweilte Männer und trinken ihr Bier oder ein Glas Wein. Der Rezeptionist der Jugendherberge hat mir empfohlen, mir das preiswerte Menu de Peregrinos, das Pilgermenu, in der Bar schmecken zu lassen. Seit ich unterwegs bin, spricht alle Welt vom Pilgermenu. Es klingt verdächtig nach idealer Speisung. Trotz meiner Skepsis bin ich neugierig geworden. Aber das Pilgermenu ist weniger spektakulär als der Name verspricht. Nichts Besonderes, ein Menu del Día zum reduzierten Preis: drei Gänge, ein gemischter Salat, Fleisch oder Fisch mit Beilage und dazu ein süßer Nachtisch, Eis oder Kuchen, für mich am Abend viel zu üppig. Das Pilgermenu stellt ein kommerzielles, touristisches Angebot dar, der halbherzige Versuch, den Pilgern ein Stück Romantik zu bieten, und daran zu verdienen. Ich bleibe bei Pintxos und Bier, und schaue den anderen Pilgern zu, die sich am Pilgermenu versuchen. Begeisterung spiegelt sich nicht in ihren Gesichtern.
Weiterlesen: Himmelspfad und Sternenfeld
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