16 November 2018

Soweit die Füße tragen


Die kleine Herberge in Pobeña hat zwei Zimmer, die mit Etagenbetten vollgestopft sind. Der Schlafraum erinnert an eine Sardinenbüchse, wäre er nicht so groß. In zwei Etagen sind die Pilger übereinander gestapelt. Die Luft ist nachmittags schon verbraucht, und die kleinen Fenster nur gekippt. Zwischen den Betten ist es eng, kaum Platz, sich zu bewegen. Ich arbeite mich über Schuhe und Rucksäcke hindurch zu dem Bett, das mit die Hospitalera, eine freundliche, ältere Frau, die jeden Nachmittag ehrenamtlich die ankommenden Pilger empfängt, zuweist. Als ich meine müden Füße und Beine endlich auf der Matratze ausstrecke, liegt mein Bettnachbar so eng neben mir, dass ich mich wie in einem Doppelbett fühle. Wenn ich die Hand ausstrecke, kann ich die Zimmerdecke über mir berühren. Vielleicht ist es die plötzliche Intimität, die allen nach einem einsamen Tag auf dem Trail zugemutet wird, dass keine Gespräche aufkommen. Alle liegen schweigend auf ihren Betten, lesen oder sind mit ihrem Smartphone beschäftigt. Alle Steckdosen sind belegt, und ich muss ein paar Smartphones anderes arrangieren, damit auch meines an die begehrte Stromquelle kommt. Im Raum ist es dämmrig. Ich sehe niemanden den ich kenne, aber das kann auch daran liegen, dass es um jedes Bett eine unsichtbare Wand gibt. Vertrautheit entsteht nicht so schnell, besonders dann nicht, wenn es keinen Platz gibt, an dem man sich ausbreiten kann. Alle haben sich eingeigelt und blieben für sich. Eine Atmosphäre der Unnahbarkeit breitet sich im Schlafsaal aus.

Am nächsten Morgen stehen fast alle gemeinsam auf. In der Herberge herrscht Hektik und das übliche Durcheinander. Rucksäcke werden herausgezogen, es wird sortiert und gepackt. Plastik raschelt und Verschlüsse klicken. Die Morgenwäsche lasse ich ausfallen. Das Gedränge im überfüllten Waschraum behagt mir nicht. Später gibt es sicher eine entspanntere Möglichkeit. Als ich vor der Tür der Herberge stehe, den Rucksack geschultert, atme ich befreit tief ein. Ich bin froh, dieser
Pobeña ist ein Touristenort an der Biskaya, gerade noch im Baskenland. Es sind nur noch wenige Kilometer, und ich bin in Kantabrien, der zweiten Provinz am spanischen Camino del Norte. In den fünf Bars an der zentralen Praza ging es gestern Abend hoch her. Es ist 7:30. Heute Morgen herrscht sonntägliche Stille im Ort. Bis auf die Pilgerherberge ist alles geschlossen. Außer Pilgern, die einzeln oder in Paaren, über den Platz gehen, ist niemand unterwegs. Noch schäft Pobeña. Frühstück und heißer Kaffee fallen aus. Die beiden Schokoriegel, und der viertel Liter Wasser, die von gestern übrig ist, müssen reichen.
Nach wenigen hundert Metern liegt Pobeña >hinter mir. Der Weg führt eine steile Treppe hinauf auf einen Panoramaweg. Über der Biskaya geht die Sonne auf, ihre Strahlen zaubern tausend glitzernde Sterne auf die Wellen. Zufrieden überlasse ich mich der befreienden Weite des Camino de Santiago. Die nächsten Kilometer führen hoch über dem Meer entlang. Wunderschöne Ausblicke über die Biskaya zurück auf Pobeña und Bilbao, wo Frachter auf der Reede liegen. Über allem steigt die Sonne auf und es wird warm.

Bis nach Ontón verläuft der Weg auf dem glatten Asphalt des Panoramawegs, und dann landeinwärts hinab ins Dorf. Eine Bar, wo ich frühstücken kann, gibt es auch dort nicht. Ontón liegt im Sonntagsmorgen-Koma. Kein Koffein und keine der fantastischen Pintxos mehr, das Baskenland liegt hinter mir.

Die Grenze nac Kantabrien habe ich schon vor ein paar Kilometern überschritten. Das Gelände bleibt bergig. Immer wieder Maultierpfade, die wer weiß wie alt sind, unterbrechen die Eintönigkeit ausgetretener Wege und Straßen. Ich liebe diese steilen und steinigen Pfade durch das Mittelgebirge an der Küste, denn sie verströmen den Duft von Abenteuer. Sie wecken Fantasien an Menschen, die vor mir auf ihnen gewandert sind, von Bandoleros, Schmugglern und Piraten, von Flüchtlingen und Waren, die heimlich ins Land geschmuggelt wurden. Ich denke an David Bafours Flucht durch die schottische Heide, die Robert Louis Stevenson anschaulich in seinem Roman beschrieben hat. Der Anstieg ist anstrengend und schmerzt in den Muskeln, hinab gehe ich oft stolpernd und rutschend. Das Gefühl der Euphorie, auf diesen Wegen zu gehen, drängt alle körperlichen Empfindungen in den Hintergrund. Auf der einen Seite das Meer, weit ausgedehnt und blau, auf der anderen die Berge, begrenzende Barrieren in grün und braun. Es ist eine Freude und ein erhebendes Erlebnis, zwischen Berg und Meer zu wandern. Ein Pass mit spektakulärer Aussicht, über den sich der Pfad windet, ein friedlicher Bergwald voller Vogelgesang, der kühle Wind vom Meer, der meinen Schweiß trocknet, das Wandern auf dem Rand steil in den Atlantik stürzender, wellenumtoster Klippen. Wie weit liegt mein Alltag hinter mir, wie wenig fehlt mir das Vertraute angesichts dieser Schönheit.
Der Weg nach Castro Urdiales bietet das alles: Asphalt, verdichtete Pisten, schmale Maultierpfade und verkehrsreiche Landstraßen. Die Abzweigung auf den letzten Maultierpfad habe ich übersehen, doch ein Spanier bringt mich zurück auf den richtigen Weg. Nur zehn Minuten bis Castro Urdiales, ruft er mir hinterher. Aber es dauert noch über eine Stunde bis ich ankomme.

Die Gegend durch die ich gehe, erinnert mich an die Bretagne, an Irland oder Schottland. Ich empfinde diese mit Steinmauern eingefassten Weiden und Wiesen, die schroffen Klippen an die die Gischt brandet, die Zäune und ihre Tore, die sacht aufschwingen, die Schafherden und Pferde, die großen zottigen Hütehunde und die malerische Klarheit der Landschaft als keltisch. Hat diese Kultur vor Jahrhunderten diese Landschaft geprägt hat oder die Landschaft der Kultur ihren Stempel aufdrückte? Ich frage mich das nicht zum ersten Mal. Es kann nur eine Wechselwirkung gewesen sein, die diese Atmosphäre schuf, die noch immer in der Luft liegt.
Ich klettere ich auf und ab bis nach Castro Urdiales, und tauche wieder in eine spanische Kleinstadt ein, über der eine mächtige Kirche thront. Nun bekomme ich endlich mein Frühstück.

Mein Magen knurrt schon seit langem, und mein Durst hat fürs erste aufgegeben. Wasser gab es unterwegs reichlich. Es ist bereits Mittag, und die Sonne steht hoch am ungetrübten blauen Himmel. Kaffee und ein paar Pinchos, wie die kleinen Happen nun heißen, gibt es in jeder Bar. Der letzte Maultierpfad mündet am Ortsrand in eine kilometerlange Strandpromenade, die einen langen Bogen bis in die historische Altstadt schlägt. Castro Urdiales liegt an der Costa Oriental und ist mit 32 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Kantabriens. Bänke, Palmen, Sträucher und Blumen laden zum Verweilen oder Flanieren ein. Am Sonntagmittag ist die Promenade mit Spaziergängern und Besuchern, die sich fein herausgeputzt haben, überfüllt. Immer sind es Paare mit Kindern oder Familien, denen ich begegne, die laut palavernd vorüberbummeln. Auf einem Hügel, das Städtchen überragend, die wuchtige Kirche Santa Maria.
Ich habe das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, in die ich nicht gehöre. Verschwitzt, in nicht ganz sauberer Wanderkleidung, komme ich mir vor wie ein Alien. Die Buen Camino und Glückwünsche bleiben trotzdem nicht aus, obwohl mich viele ignorieren und Blickkontakt vermeiden. Während ich vor einem Café in der Sonne sitze und meinen zweiten Kaffee trinke, geht Milano auf der anderen Seite vorbei, den ich in Deba kennenlernte. Er hat inzwischen Anschluss gefunden, und pilgert mit einer Deutschen, die viel älter ist als er. Er heißt nicht wirklich so, ist aber in Mailand geboren und in der Schweiz aufgewachsen. Ich gab ihm diesen Trailnamen wie allen anderen auch. Ich habe ihn weit vor mir vermutet, aber nun geht er auf der anderen Seite vorbei. Ich freue mich, ihn wiederzusehen, springe auf, lasse alles liegen, und laufe hinter ihm her. Er hat auch in Pobeña übernachtet. Eigenartig, dass wir uns dort nicht getroffen haben. Er will weiter nach Islares, und ich beschließe spontan, doch nicht in Castro Urdiales zu bleiben.

Am Abend ein Bett zu ergattern, ist des Pilgers wichtigstes Verlangen. Am frühen Nachmittag wird es auf dem Camino de Santiago immer voller. Ich gerate in eine Gruppe, die weit auseinander gezogen wandert, aber den gleichen Rhythmus gefunden hat. Nach und nach werden wir von Roadrunnern überholt, die ein schnelles Tempo gehen, als gäbe es irgendwo eine Medaille. Die frühe Ankunft in einer Herberge garantiert die freie und erste Auswahl unter den vorhandenen Betten. Manchen ist das wichtig, da sie die Angst nicht loslassen können, kein Bett zu bekommen. Doch das schnelle Gehen hat seinen Preis, ermüdet schneller und schadet den Füßen. Viele der schnell voraus Eilende sehe ich abends ihre Füße mit Pflastern und Bandagen versorgen. Unter einen gelben Pfeil hat jemand gesprüht: Going Nowhere fast. Besser auf den Punkt bringen lässt sich meine Wanderphilosophie nicht, denn pilgern, wandern und schnell gehen sind nicht miteinander vereinbar. Die verschiedenen Arten zu gehen korrespondieren mit der geistigen Haltung des Fußgängers. Trotzdem setzen mich die Roadrunner unter Druck.

Bis kurz vor Islares, wo ich übernachten will, bin ich allein unterwegs. Wenige, die ich treffe, haben es eilig. Es herrscht eine entspannte, kontemplative Stimmung auf dem Weg. Jeder kennt sein Tempo, hat seinen Rhythmus gefunden, und lässt die schöne Landschaft, die uns umgibt, auf sich einwirken. Ein Bad im Wald. Eine kurze Rast: schauen, lauschen, genießen. Irgendwann wird es wieder voll und schnell auf dem Camino. Ungewollt gerate ich in die nächste Gruppe
Nach Islares verfallen wir in einen zügigen Schritt, die Stöcke klappern immer hektischer auf den Asphalt. Die Wanderer vor mir erhöhen ihre Geschwindigkeit, und ich gerate in einen Sog. Ich nehme ihr Tempo auf, und beschließe: Überholt werden möchte ich nicht mehr. Schließlich habe ich mich um den Run auf die Betten anstecken lassen. Es hat nichts genutzt, sich zu beeilen.

Die Herberge hinter der Kirche von Islares ist geschlossen. Vierundzwanzig Kilometer liegen hinter mir. An dem zwei Kilometer entfernen Campingplatz, der auch Betten für Pilger anbietet, geht meine Gruppe im Stechschritt vorbei. Und ich, meiner Initiative beraubt, hinterher. Es ist wie im Rausch: Ich kann nicht mehr langsamer gehen. Um die freie Bettenwahl geht es längst nicht mehr. Klack-Klack, Klack-Klack, lautet das Mantra meiner Stöcke, meine Füße folgen fremdbestimmt. Es sind noch drei Kilometer bis El Pontarron del Guriezo, aber das nehme ich nicht mehr wahr. Ich gehe und gehe und gehe einfach immer weiter.

Kurz vor El Pontarron treffe ich Milano und seine Begleiterin wieder, die beiden Wanderer vor meiner Gruppe. Gemeinsam erreichen wir die Bar El Pontarron, während die Gruppe an uns vorbeizieht. In der Bar gibt es den Schlüssel für die Herberge, die etwas außerhalb liegt, und einen Stempel in den Pass, den wir auf den Tresen liegen. Wir sind zu viert in dem kleinen Haus, das die Gemeinde für die Pilger eingerichtet hat. Wo sind die anderen geblieben? Haben wir das Rennen gewonnen, oder waren die Gefühle und Gedanken nur Illusion?
Die Herberge ist viel kleiner als in Pobeña. Es gibt nur einen Raum, den sieben Etagenbetten ausfüllen. Wieder gibt es keinen Platz, keine Kochgelegenheit und nur ein Waschbecken mit Toilette. Dafür liegt das Gebäude auf einem bewaldeten Hang abseits der Straße

An einem weiteren Rennen werde ich nicht mehr teilnehmen. Ich achte zukünftig besser auf mein Gefühl. Ich wollte in Castro-Urdiales bleiben. Aber mein Wunsch, Milano wieder zu treffen, hat mich verführt. Nun liegen wir alle müde und erschöpft auf unseren Betten. Dreißig Kilometer sind mir zu viel. Ich bedauere, was ich alles übersehen habe, wo ich überall unachtsam vorbeigegangen bin. Nicht noch einmal. Ich bin viel zu schnell, was soll ich Mitte Juni in Santiago de Compostela.
Es ist sieben Uhr am Abend. Es ist noch immer heiß, aber der kühle Wind erfrischt und trocknet meine Wäsche. Ich fröstele in der Sonne. Die Abendkühle liegt auf meiner aufgeheizten Haut. Seit Bilbao ist der Himmel blau, viele Cirren, dazwischen ein paar verirrte Kumuli. Meine Regenkleidung musste ich bisher nicht auspacken. Nicht ein einziges Mal. Geregnet hat es immer nur Nachts.

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