30 November 2018

Alte Wege, neue Spuren


Schichten statt Geschichten!
Hubert Fichte

Eins

Pilgern, wie jede Reise, ist eine Bewegung im Raum, die nachfassende Erinnerung eine Bewegung in der Zeit. Die schreibende Wiederholung der Erfahrung meiner Fußreise auf der Via Regia bildet nicht allein den Ort ab, auf den sich meine Erinnerung bezieht. Frühere Erlebnisse, Bilder, Wege oder Vorbilder mischen sich ein und verändern die Erfahrung zu einem fiktional wirkenden Erlebnis. So ist es gewesen, so hätte es sein können, bilden eine unauflösbare Melange. Bewusst gewordenes, wieder bewusst werdendes. Was war einst Faktum, was ist jetzt Fiktion? Sigmund Freud spricht von einem inneren Ausland, während ich von erinnerten Ausland spreche. Kann ich es durch die gleiche Analyse erkunden, mit der Freud dem Verdrängten auf der Spur war.?

Reisen und erinnern: Der Weg der Erinnerung führt durch die Tiefe innerer Räume. Reiseschreibung, weil das entfernte -be- zur sehr darüber hinwegtäuscht, dass es um subjektive Situationen handelt, eine neutrale Dokumentation vorspiegelt, die es nicht geben kann. Über das Fremde kann ich nicht angemessen schreiben. Meine Aufzeichnungen verweigern sich der rückblickenden Vereindeutigung. Der retrospektive Blick ist Hervorbringung, nicht Nachahmung. Erinnern ist immer eine Konstruktion des einst Gewesenen, das in der Realität so nie existiert hat.
Ein Reisender befindet sich auf seiner spirituellen Queste, die tief in ihn hineinreicht. Zurück gekommen, will er verborgene Schichten ins Licht des Bewusstseins heben.

Jede Exotisierung des Fremden verstellt den Blick auf die erlebte Wirklichkeit, auf den Blick in die äußere Umgebung oder die eigene Innenwelt. Trotz großer Anstrengung bleibt auch der ethnographisch Reisende gleichzeitig Tourist. Niemand kann seine Herkunft wie einen abgetragenen Mantel ablegen. Der Fremde, selbst wenn sie vor der eigenen Haustüre liegt sowie der eigenen Befremdung, muss der Reisende, der Ethnologe und der Tourist Rechenschaft zollen. Der Tourist darf naiv konsumieren, der Ethnologe hat die Pflicht zur Reflexion. Ich mache mir meine Fußreise auf der Via Regia verständlich, indem ich über sie schreibe: Geht das überhaupt?

Ich kann mich in meinem Text nicht verleugnen, auch dann nicht, wenn ich über vermeintlich faktische Sachverhalte schreibe. Der Autor einer Reiseerzählung fragt nicht danach, was ihn glaubwürdig erscheinen lässt. Er fühlt sich seiner Subjektivität verpflichtet: Fremdheit und Befremdung lassen sich nicht gegenseitig ausspielen.

In einem Umfeld von Hypermobilität sind Fußreisen, ganz gleich ob real oder virtuell, revolutionär, und wie jede Revolution subversiv. Revolutionen sind immer visionär. Wer zu Fuß geht, stellt sich eine andere Welt vor: Teilhabe statt Haben. Bewegung statt Konsum. Eine innere und äußere Balance von Natur und Kultur: nachhaltig, ökologisch und friedlich. Eine Welt, die so beschaffen ist, bildet einen sozial gerechten Lebensraum.
Wer hat in einem bestimmten Alter nicht schon einmal gedacht, wenn ich wieder jung wäre. . . . ! Und manchmal, im Stillen, mit dem Nachsatz: Was würde ich dann alles anders machen. Die vergangenen Jahre mit ihren vielfältigen Erfahrungen provozieren solche Gedanken ganz ohne bewusstes Zutun. Eine Veränderung im Leben kann damit beginnen, dass wir wieder zu Fuß gehen. Nur dem Fußgänger rücken die für das Überleben unseres Planeten immer wichtiger werdenden Werte näher: Entschleunigung und Nachhaltigkeit, Autonomie von überholten Gewohnheiten sowie ein alternatives Erleben von Raum und Zeit.
Die Via Regia, die königliche Straße, war im Mittelalter ein Handelsweg, der Ost- und Westeuropa miteinander verband. Die Straße stand im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter dem Schutz der königlichen Zentralgewalt. Solche Land- und Heerstraßen gab es im mittelalterlichen Europa viele. Die bedeutendste von ihnen war die auch als Hohe Straße bezeichnete Via Regia, die das Rheinland mit Schlesien verband.
In einer Urkunde des Markgrafen Heinrich von Meißen wird die Via Regia 1252 zum ersten Mal als Strata Regia, königliche Straße, erwähnt. Ihre Anfänge reichen allerdings bis ins 8. Jahrhundert zurück. Die Hohe Straße folgte den Flusstälern, an deren Furten die Siedlungen lagen und Städte in ihren Verlauf einbezogen werden konnten. Nach dem Niedergang der königlichen Zentralgewalt, spätestens jedoch seit dem 14. Jahrhundert, kann von diesem Handelsweg als von einer rechtlich verbindlichen Via Regia nicht mehr gesprochen werden. In ihrer Funktion, und unter dem eingebürgerten Namen Hohe Straße, bestand die Via Regia als Handelsweg aber weiter. Einzelne Fürsten oder Landesherren, besonders der König von Böhmen sowie die sächsischen Kurfürsten, hatten Kontrolle und Schutz für diese Straße in Mitteldeutschland übernommen, die wirtschaftlich von großer Bedeutung für den überregionalen Handel und Warenaustausch war. Die Via Regia verband die beiden großen Messestädte Frankfurt am Main und Leipzig, und beförderte Textilien und Felle, Wachs, Honig und Holz aus Westeuropa im Tausch gegen den Färberwaid des Thüringer Beckens sowie die Bergbauprodukte Obersachsens.
Auch das Militär machte sich die Via Regia für die Bewegungen ihrer Armeen zunutze. Im Einzugsbereich der Straße fanden historisch bedeutende Schlachten statt, wie die von Hochkirch, Auerstedt, Großgärschen oder Bautzen. Nach der Niederlage Napoleons und den strukturellen Veränderungen des Wiener Kongresses in Mitteldeutschland verlor die Via Regia ab 1815 ihre Regionen verbindende Bedeutung.

2005 wurde die Via Regia vom Europarat zur europäischen Kulturstraße erklärt. Sie verläuft vom Rhein über Frankfurt am Main, Hanau, Gelnhausen, Steinau an der Straße, Neuhof, Fulda, Hünfeld, Eisenach, Erfurt, Eckartsberga, Naumburg (Saale), Weißenfels, Leipzig, Grimma, Eilenburg, Großenhain, Königsbrück, Kamenz, Bautzen und Görlitz bis nach Breslau in Schlesien.

Auf der Via Regia haben im Lauf der Jahrhunderte viele Pilger, die aus dem Osten Europas kamen um an der Aachener Heiligtumsfahrt teilzunehmen, diesen Weg über Eisenach, Marburg und Köln nach Westen genommen. Als Pilgerweg knüpft die Via Regia an das Wegenetz der Jakobswege nach Santiago de Compostela.
Wie die Lutherbibel überliefert, hat der Prophet Jeremias (6.16) die Menschen aufgefordert: Tretet auf die Wege und schauet und fraget nach den vorigen Wegen, welches der gute Weg sei, und wandelt darin, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele! Aber sie sprachen: Wir wollen's nicht tun! Der Ökomenische Pilgerweg, der 2003 eröffnet wurde, und der sich am Verlauf der historischen Via Regia orientiert, stellt diese Jeremia-Stelle, etwas abgewandelt, in seinem Pilgerführer voraus. Wenn dieser Führer den zweiten Satz von Kapitel 6.16 auch auslässt, so ist es doch sein zentrales Anliegen, Menschen aufzufordern, sich auf den Weg zu machen, und sich mit den Pilgern, die in den Jahrhunderten vorausgegangen sind, zu verbinden. Das Zitat lässt offen, mit welchen Motiven und Zielen sich der Pilger aufmachen soll. Jeremia spricht von schauen und fragen, vom richtigen Weg, der nur ein innerer sein kann, von einer inneren Ruhe, die leicht als Weisheit und Gelassenheit aufzufassen ist. Es ist nicht notwendig, eine Pilgerreise mit einer Religion oder Konfession zu begründen. Schauen und fragen sind nicht die schlechtesten Instrumente für einen gelingenden Lebensweg.
Der Pilger, vom Lateinischen Peregrinus abgeleitet, in der Fremde sein, ist eine Einzelperson, der einst angeblich aus religiösen Gründen in die Fremde ging, der zu Fuß eine Wallfahrt zu einem Pilgerort unternahm. So berichten uns Mythenbildung, Heiligenviten und zahlreiche Legenden. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Jakobuspilgerfahrt als Mittel der Reconquista begann, die damit die Aufmerksamkeit des mittelalterlichen Europas auf die Besetzung der iberischen Halbinsel durch den Islam lenken wollte. Jakobus selbst, als Maurentöter, matamoros, führte den Jahrhunderte andauernden Vernichtungsfeldzug der Christenheit gegen die Mauren an. Überall in spanischen Kirchen gibt es Statuen, die den Apostel mit geschwungenem Schwert und hoch zu Ross zeigen, unter den Hufen die erschlagenen Mohamedaner.
Historische und moderne Pilger haben eines gemeinsam: Beide kehren ihrem vertrauten Alltagsleben den Rücken und gehen einsam durch die Fremde. Sie wissen nicht, was sie unterwegs erwartet, oder ob sie je ankommen. Sie pilgern nicht nur aus konfessionellen Motiven, sondern befinden sich auf der Suche nach Sinn und Bedeutung in ihrem Leben, nach einer neuen Perspektive oder auch nur, weil sie einer abtötenden Routine für kurze Zeit entkommen wollen, durchaus eine spirituelle Motivation, die nicht als Buße, sondern als Selbstheilung oder Selbsterkenntnis verstanden wird. Den Ökomenischen Pilgerweg, der ein Teilstück der historischen Via Regia ist, hat ein Verein mit einer gelben Muschel auf blauem Grund durchgehend markiert.

Überall am Weg übernehmen Anwohner die Aufgabe, die Pilger als Herbergseltern zu unterstützen, gewähren ihnen Gastfreundschaft und Ruhephasen. Ein Verein pflegt den Weg, wartet die Beschilderung und sorgt dafür, dass der Pilger sein Ziel erreicht. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist auch auf den Pilgerwegen von Kontrolle und Sicherheit geprägt. Doch die Wegmarkierung mindert das Gefühl der Fremdheit des Pilgern. Er weiß sich auf einem Weg, der ihn nicht in die Irre führt. Er geht ihn nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen, die vor und hinter ihm gehen. Die Muschel verbürgt das. Sie ist das internationale Symbol der Jakobspilger und hängt mit der Legende zusammen, die Jakobus den Älteren zum Patron der Pilger machte, die sein Grab in Santiago de Compostela besuchen. Vor den Augen des Bürgers macht sich der, der sucht, immer lächerlich, da sie wie kleine Kinder nicht verstehen, worüber die Großen reden.

Die Aufforderung zu einer Pilgerschaft auf der Via Regia, dem Ökomenischen Pilgerweg, richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Dogma und Doktrin, sei sie nun weltlich oder religiös motiviert, die sich für ein unverhofftes Miteinander öffnen, die Begegnung mit den Menschen suchen, die am Weg leben, die sich austauschen und aneinander teilnehmen wollen, die mit sich selbst und allein Antworten auf existenzielle Fragen suchen. Ich traf zwei Pilger, die für ein Europa ohne Grenzen bis nach Antwerpen gehen wollten. Auch ein Grund für eine Pilgerreise. Der Weg ermöglicht den Pilgern, Wanderern oder anders Reisenden, gleichgültig wie sie sich selbst verstehen, eine innere Einkehr, eine Rückbesinnung auf das Wesentliche ihres Lebens, Kontemplation, Meditation, Religio im ursprünglichen Wortsinn, fernab von den Reizen und Ablenkungen einer globalisierten Welt, die den Menschen immer mehr von sich selbst entfernt. Entfremdet! Die Rede vom Weg, der das Ziel ist, kommt nicht von ungefähr. Jeden Weg zu gehen, der herausfordert, und deshalb fördert, ist eine leibliche und psychische Erfahrung, die den einsam wandernden Pilger, denn am besten gelingt es allein, in seine Ganzheit zurückbringt.

Geh weiter, schreibt Wolfgang Büscher, auch wenn du es nicht verstehst. Du wirst es morgen verstehen. Es war ein einfaches starkes Mantra, seine Magie funktionierte immer. Als alter, schon lange genutzter Weg, hat ein Teil der ehemaligen Via Regia zwischen Görlitz (an der Neiße) und Vacha (an der Werra) im Ökomenischen Pilgerweg eine neue Funktion gefunden.

Zwei

Alles beginnt mit der Sehnsucht.
Nelly Sachs

Ich schwitze schon, bevor meine Fußreise wirklich begonnen hat. Als ich die U-Bahn am Südstern erreiche, weiß ich, dass mein Rucksack zu schwer ist. Lange habe ich überlegt, was ich wirklich brauche, habe in den letzten Tagen aussortiert und wieder einsortiert, und zuletzt eine Entscheidung getroffen. Während ich zum Südstern gehe, fällt mir nichts ein, was ich wieder auspacken könnte. Einfachheit und Bescheidenheit zu wollen heißt nicht, sie sofort umsetzen zu können. Idealisierung ist leicht, mit den Konsequenzen zu leben, dagegen etwas völlig Anderes. Immer wieder fällt mir mein Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit in den Rücken. Eine Fußreise ist allerdings alles andere als überschaubar oder planbar. Loslassen ist eine Kunst, die ich immer wieder gegen meine Gewohnheiten verteidigen muss. Während ich in den U-Bahnschacht hinuntergehe, fällt mir eine Zeile von Nelly Sachs ein: Alles beginnt mit der Sehnsucht. Doch Sehnsucht ist nicht konkret, sie ist ein imaginärer Ort, den man dort vermutet, wo man nicht ist.
In der überfüllten U-Bahn läuft mir der Schweiß bereits in Strömen den Rücken hinab, und tropft mir von der Stirn. Schon zu Beginn erlebe ich die ersten Konsequenzen der Unsicherheit vor einer Reise, wie ich sie vorher noch nie unternommen habe: Allein durch ein unbekanntes Gebiet zu wandern, eine Gegend in Deutschland, die mehr oder weniger dicht besiedelt und strukturiert ist. Doch es reicht, sie nicht zu kennen, und sofort gewinnt sie etwas Unheimliches hinzu. In meiner Anspannung bin ich viel zu früh am ZOB, wo trotz der morgendlichen Stunde reges Leben herrscht. Der Bus mit dem ich nach Görlitz fahre, ist fast leer. Kein Geschäft für den Postbus, für mich aber eine angenehme, vierstündige Reise.

Ein Jahr später bin ich wieder in Görlitz, Geriz, wie die Sorben die Stadt nennen. Schwer beladen suche ich mir den Weg in die Stadt und lande schwitzend im Café Schwerdtner, genau wie im letzten Jahr, als ich auf Ralf warten musste. Dieses Jahr ohne Fahrrad. Ein Eis-Orange-Drink kühlt mich auf angenehme Temperatur herab, ein nachgeschobener Cappuccino besiegt den Spannungskopfschmerz; die letzte Nacht war viel zu kurz. Haus der Begegnung bereiten mir die Herbergseltern ein freundlich-distanziertes Willkommen. Dann geht es hinab in den zur Herberge ausgebauten Keller. Angenehm empfängt mich die Kühle des Gewölbes. Außer mir ist niemand mehr angemeldet, erklärt mir die Herbergsmutter. Ich bin allein in der Herberge und kann mich erst einmal ausbreiten und mein Gepäck erneut sortieren. Schnell erhole mich in dem kühlen Schlafsaal von den heißen Stunden, die mir so anstrengend vorgekommen sind.

Aber ich fühle mich zuhause in Görlitz, komme mir vor, wie ein alter Bekannter, der noch einmal kurz vorbeischaut.
Die Stadt ist leer, nicht das Gedränge in den Straßen wie vor einem Jahr. Die Touristen sind noch nicht eingetroffen. Die Straße hinab an die Neiße ist noch immer nicht fertig. Zwischen den Absperrungen hat sich nichts getan, breitet sich immer noch ein Sandbett statt einer begehbaren Straße aus. Auch die Brücke über die Neiße, hinüber nach Polen, ist die gleiche geblieben.
Die Kirche Sankt Peter und Paul in Görlitz ist eine historische Sehenswürdigkeit, gleichgültig, ob man religiös ist oder nicht. Ich betrete die große Hallenkirche mit einer beeindruckenden Orgel. Gerne würde ich sie spielen hören. In einer Ecke unter der Empore sind Fragmente der Klaviatur und Register der ehemaligen Sonnenorgel ausgestellt. In der benachbarten Vitrine wird die Sonne aufbewahrt, deren Strahlen Orgelpfeifen sind, und die dem Instrument den Namen gegeben hat.
Die beiden Kirchenpatrone haben am Ende des Zweiten Weltkriegs die polnischen Besatzern gestohlen. Die Podeste auf denen sie einst standen, wirken in ihrer Verlassenheit deplaziert. Die Statuen werden als Beutekunst im Nationalmuseum in Warschau aufbewahrt. Wann werden sie wieder auf ihren vereinsamten Podesten im Eingangsbereich stehen? Porträts der Pfarrer des 17. und 18. Jahrhunderts bevölkern die Wände der Kirche. Strenge Blicke, hoch geschnürt in atembeklemmenden Halskrausen und schwarzen Soutanen, protestantisch düster, lebensfeindlich. Männer, die eine unglückliche Aura ausstrahlen, schauen mich ermahnend an, obwohl sie nicht das Geringste von mir wissen. Ich frage mich nicht zum ersten Mal: Warum hat man solchen Männern einst die Frohe Botschaft abgenommen?

Die Stille in der Kirche entspannt mich von den kleinen Sorgen des Tages. Das Gewicht des Rucksacks und der Smartphone-Akku, der plötzlich schwächelt, verlieren in der beeindruckenden Weite dieser Halle an Wichtigkeit. Die Kühle der Mauern hält die Hitze draußen. Ich sitze auf einer Insel mitten im schwül-drückenden Görlitz. Noch während ich mich mit geschlossenen Augen in einer der Bankreihen entspanne, weiß ich plötzlich, dass alles gut wird, Ich fühle mich getragen und sorgenlos. Im nächsten Augenblick fließt eine Traurigkeit durch mich hindurch, die ich nicht zuordnen kann, die mir die Tränen in die Augen treibt. Grundlos? Um mich herum flanieren fotografierende Touristen durch das Kirchenschiff. Fotografieren ist gebührenpflichtig. Wie in den Brandenburger Kirchen, die ich auf dem Weg nach Wilsnack und Tangermünde gesehen habe. Auch in Görlitz werden Spenden für die sanierungsbedürftige Orgel gesammelt. Eine Kerze für meine Kinder. Ein Impuls aus meiner katholischen Kindheit. Am Eingang bekomme ich meinen Pilgerstempel. Der Anfang ist gemacht. Alles steht auf Start.

Abends ein kleiner Imbiss am Flüsterbogen. Panaché und Lachssandwich, mehr als ich essen kann, für kleines Geld. Ein Pilgerimbiss? Schlemmen in Görlitz! Wenn das ländliche Sachsen, wohin ich morgen früh aufbreche, dem kulinarischen Standard Brandenburgs ähnelt, kommen asketische Tage auf mich zu. Viel Proviant werde ich jedenfalls nicht auf meine Schultern nehmen. Gegenüber das mondäne Hotel Börse. Das Portal steht in einem eigenartigem Kontrast zu der streng gegliederten Fassade. Die Fenster des Erdgeschosses sind vergittert. Schmiedeeiserne Handwerkskunst. Mehr dem Design verpflichtet, als dem Sicherheitsbedürfnis geschuldet. Hand in Hand gehen ein Großvater und seine Enkelin vorüber, das Mädchen nur wenig älter als ein Jahr. Er sicher schon weit über die Siebzig. Sie kann gerade erst gehen, er schleppt sich mühsam vorwärts, gebeugt mit unsicherem Schritt. Gehört es zum Sterben, nur noch mühsam gehen zu können? Ein schönes Paar, die beiden, wie sie behutsam ihren Weg beschreiten; Anfang und das Ende des Lebens symbolisieren. Buen Camino, ihr beiden, wünsche ich ihnen hinterher, wohin euch eure Reise führen mag. Wie lange werden mich meine Füße noch tragen? Wohin werde ich in zehn Jahren gehen?

Auf dem anderer Seite des Platzes hat sich ein elegantes Restaurant unter den Arkaden eingenistet. Schräg scheinen die letzten Strahlen der Abendsonne unter die vier Bögen. Jeder Platz ist besetzt. Stimmengewirr strömt in an- und abschwellenden Wellen über den Platz zu mir herüber. Am Gebäude gegenüber prangen die fünf Wappen des Oberlausitzer Sechs-Städte-Bunds als Kapitelle an der oberen Fensterfront. Das Wappen von Görlitz ist nicht unter ihnen. Zwei Jungen toben lärmend über den Platz, und aus der Tür des Gastraums hinter mir strömt eine Mischung von Musik und Gesprächen in meine Ohren. Die Sonne ist mittlerweile hinter den Häusern verschwunden, vielleicht auch hinter den dunklen Wolken, die aus Südwesten aufziehen, Ob sie den Regen bringen, den sich meine Herbergseltern so sehnsüchtig für ihren schönen Hausgarten wünschen? Der Winter ist viel zu mild gewesen, sagen sie, und nun bleibt auch noch der Regen aus. Ich sehe das am Beginn meiner Fußreise natürlich anders, behalte mein Bedürfnis aber lieber für mich.

Weiterlesen: Ein ostdeutscher Pilgerweg

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