Jede Begegnung,
die unsere Seele berührt,
hinterlässt eine Spur,
die nie ganz verweht
Lore-Lillian Boden
Ich nehme Abschied von Astrid und Allan, meinen Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer in Bautzen geteilt habe. Die beiden stehen gerade auf, als ich aufbreche. Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er spricht mich auf die beiden an, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. "Das geht nicht," ereifert er sich, "ich er bekomme Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern. Eine Pilgerherberge ist kostenlos und jeder weiß, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden kann." Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, und ziehe meines Wegs. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben.
Ich finde den Pilgerweg wieder nicht gleich wieder und muss mehrmals fragen, bevor ich den richtigen Weg aus Bautzen finde. Ich werde in verschiedene Richtungen geschickt, laufe den Berg zur Altstadt gleich mehrfach hinauf und hinunter. Zwischen Spree und äußerer Stadtmauer verlasse ich die Stadt. Am Stadtrand treffe ich unerwartet meine Pilgerfreunde wieder, die an einer Kreuzung stehen, und ihre Karte befragen. Ein kurzes Hallo, und jeder zieht seiner Wege. Ich gehe die langsam ansteigende Straße nach Salzenfurt voraus, die aus Bautzen herausführt. Schon bald habe ich Astrid und Allan, die hinter mir zurückbleiben, aus den Augen verloren.
Salzenfurt ist ein Straßendorf an einer Kiesgrube, wo der Pilgerweg die
Landstraße verlässt. Am Friedhof, der außerhalb des Ortes liegt,
lasse ich mich auf einer Bank in der Sonne nieder. Meine Mitpilger
sind verschwunden, überholen mich nicht, und ich wundere mich, wie
lange die beiden brauchen, mich einzuholen. Haben sie Probleme,
abgebrochen oder ein Auto angehalten? Sie bleiben für die nächsten
Stunden verschwunden.
Bis
zum Millenniumsdenkmal
setze ich Schritt für Schritt auf asphaltierten Straßen durch
kleine Dörfer und vorbei an Feldern, deren Monotonie mich langweilt.
Die gesamten acht Kilometer bis ans Denkmal bringe ich wie
ferngesteuert und ohne Pause hinter mich. Später erinnere ich mich
an nichts mehr.
Die
letzten Kilometer gehe ich die Straße auf einen Hügel hinauf, das
Denkmal immer vor Augen. Die Skulptur der beiden heilig gesprochenen
Missionare der Slawen, die auf einem rechteckigen Sockel stehen,
rückt näher und näher, bis sie weit in den Raum hinaus greifend
über mir aufragen. Oben angekommen steuere ich die einzige Bank im
Schatten an, und lege den Rucksack ab, einschließlich Schuhe und Strümpfe, und lüfte meine heißen Füße.
Eine längere Pause, ein Imbiss, ein Nickerchen auf der Bank. Mehrmals kommen Besucher, werfen einen kurzen Blick auf das Denkmal und fahren weiter. Ein Mann kommt zu Fuß, in kurzärmeligem Hemd, eine Mappe unterm Arm, gibt sich geschäftig, inspiziert die Umgebung des Denkmals gründlich. Er vermutet in mir einen Pilger, ruft mir von weitem ein Buen Camino zu und ist gleich darauf verschwunden. Kurze Zeit später sehe ich von meiner Bank, wie er die Allee nach Crostwitz hinunter geht. Schließlich kommen auch meine Mitpilger im Gänsemarsch den Hügel hinauf, kämpfen sich die letzten Meter zum Denkmal hoch. Ein kurzes Hallo, ein gegenseitiges Fotografieren vor der Infotafel, ein Blick aufs Denkmal, und schon ziehen sie weiter, während ich noch immer in der Sonne faulenze. Endlich habe ein Mobilnetz. Nachdem mein Sohn mich gestern in Bautzen nicht erreichen konnte, kann ich ihn zurückrufen. Er will mir zum Geburtstag gratulieren, und macht sich Sorgen, weil er nichts von mir gehört hat. Allein zu wandern, meint er, was da alles passieren kann. Sich Sorgen zu machen, das hätte ich eher von meiner Tochter gedacht. Als ich wieder der Einzige auf dem großen Platz vor dem Denkmal bin, schaue ich mir die Anlage an, in dessen Schatten ich die letzte Stunde verbracht habe. Das Denkmal, ein Sockel aus übereinander geschichteten, grauen Steinen, auf dem zwei Männer mit ausgebreiteten Armen stehen, die hinunter nach Bautzen blicken. Auf ihrer rechten Seite ein Altar in Form eines weißes, wuchtiges Kreuzes. Zu Füßen des Denkmals versinken weitere Kreuze im Schotter des Boden. Das Milleniumsdenkmal haben katholische Sorben im Jahr 2000 als Dank für das Geschenk des christlichen Glaubens errichtet. Die aus Kupferblech getriebenen Figuren des Kunstbildhauers Droboslaw Bagínski aus Lubin stellen die Slawenapostel Cyrill und Methodius dar, die im 9. Jahrhundert das Evangelium den Slawen im Großmährischen Reich, zu dem auch die Vorfahren der Sorben gehörten, verkündeten. Sie schufen die slawische Schriftsprache, übersetzten die Bibel und feierten bereits damals die Liturgie in der Volkssprache. Die alte Handelsstaße, die schon damals über die Anhöhe führte, ermöglichte früh den Kulturaustausch unter den Völkern Europas. Das Denkmal will, so heißt es auf der Info-Tafel, dazu aufrufen, uns auf den Weg zu machen zu einem geeinten Europa und den christlichen Glauben auch im dritten Jahrtausend zu bekennen. Die herausragende Bedeutung der beiden Missionare veranlasste Papst Johannes Paul II. sie zu Mitpatronen Europas zu ernennen. Schon am Denkmal, unmittelbar an der Landstraße, steht das erste von vielen vergoldeten oder farbigen Wegkreuzen, an denen ich in den nächsten Tagen vorbeigehe. Solche Kreuze sind für das katholische Sorben charakteristisch.
Bis Storcha komme ich an weiteren Wegkreuzen mit gold glänzenden Kruzifixen
vorbei. Am Sockel der Kreuze erzählen vergoldete Szenen aus dem Neuen
Testament. Neben den Kreuzen gibt es farbig gestaltete Bildsäulen, häufig mit einem Heiligen, der oben auf der Säule steht. Solche Säulen sind Stiftungen
für eine Rettung aus höchster Not. Alle Kreuze und Bildsäulen
stammen aus dem 19. Jahrhundert, sind aber in gut gepflegtem Zustand.
Die
Oberlausitz, besonders zwischen Bautzen und Kamenz, ist das Land der
Sorben oder Wenden, wie man sie auch nennt. Ethnisch gibt es keinen
Unterschied. Den Wenden begegnete ich erstmals in Otfried Preußlers
Jugendroman Krabat,
der eine Sage, mit heidnischer, indo-europäischer Symbolik, die in
verschiedenen Versionen vorliegt, aufgreift und in einem Jugendroman
fasst.
In Nebelschütz treffe
ich Krabat, eine Steinskulptur, die ihn als einen Mann mit
beeindruckendem Schnurbart darstellt. Er markiert den Krabat-Radrundweg
(Kolesorwarski pucik), der hier vorbeiführt.
Krabat, abgeleitet von Hrvat, Kroate, ist eine Sagengestalt der Sorben. In den ältesten Versionen der Sage, etwa bei Joachim Leopold Haupt (1837), ist er der böse Herr von Groß-Särchen. Die Info-Tafel in Nebelschütz berichtet, dass sich eines Abends Krabat dringend mit seinem Pferdegespann von Särchen in Richtung Dresden zum Schloss des Kurfürsten aufmachte. In Eile ließ er die Kutsche samt Pferde über die Wolken reiten und überquerte dabei Nebelschütz bis hin nach Kamenz. Im Verlauf der Sagenaufzeichnung wird Krabat, eine Figur ähnlich dem Eulenspiegel, allmählich zu einem guten Herrn, der seine Künste zum Nutzen der Menschen oder zum Schabernack einsetzt. Die Figur Krabat geht anscheinend auf einen Reiterobristen namens Johannes Schadowitz zurück, der aus Kroatien stammte, und den Kurfürst Johann Georg III. bei seiner Rückkehr von einem Feldzug gegen die Türken im Jahr 1691 mitbrachte. Er soll den Kurfürsten vor der Gefangennahme durch die Türken bewahrt haben, der ihm aus Dank das Gut Groß Särchen vor den Toren der Stadt Hoyerswerda schenkte. Im Volksmund geriet er seiner fremden Herkunft, seines Aussehens und seiner Eigenarten wegen in den Ruf, ein Zauberer zu sein, den man Krabat nannte.
Die Sorben zwischen Bauzten und Kamenz sind heute traditionell und strenggläubig katholisch. Ihr Katholizismus ist getragen von einer eigenen, slawischen Sprache, ihren überlieferten, vitalen Trachten, insgesamt kulturelle Elemente, die ihre katholische Frömmigkeit fest im Alltag verankern. Eines dieser Elemente isoliert zu betrachten, ist für sorbische Traditionalisten überhaupt nicht vorstellbar. Es handelt sich nicht um verschiedene Phänomene, sondern um eine Einheit in der Vielfalt. Der innige Zusammenhang von Sprache, Tracht und Religion, Brennpunkt und Marker ihrer ethnischen Identität, garantierte das Überleben dieser Minderheit durch ständige Anfeindungen hindurch, zuletzt auch durch das System der DDR. Heute, so höre ich in den Dörfern immer wieder, erlebt das Sorbische in der Oberlausitz eine Renaissance. Selbst nicht-sorbische Eltern fördern ihre Kinder bilingual.
Ich gehe wieder auf asphaltierten Wegen und Landstraßen, durch kleine Dörfer und noch kleinere Weiler, nach Crostwitz oder sorbisch Chrósćicy. Verkehr herrscht kaum, höchstens alle zwei oder drei Kilometer ein Auto. Kurz vor dem Ort, die Kirchturmspitze und die ersten Häuser des Dorfes schon im Blick, weist mich die gelbe Muschel auf einen Schotterweg, der auf einen Feldweg mündet. Zuletzt stapfe ich auf einem matschigen Trampelpfad ins Dorf. Am Beginn des Pfads steht eine Hinweistafel: Zur Pilgeroase. Der Schlamm, durch den ich gehe ist tief und klebrig, ein lehmig-toniges Sediment, das zäh an meinen Schuhen klebt, die zentimetertief in die nasse Erde einsinken. Nach ein paar Schritten sind meine Hosenbeine bis ans Knie mit hellbraunen Tupfen verziert. Ich wundere mich, wo der schlammige Weg herkommt, die wenigen Regentropfen von Mittwoch müssten bei dieser Hitze doch längst verdunstet sein, selbst auf einem Weg, der im Schatten großer Bäume liegt.
Tiefe Spuren im Schlamm erinnern mich an Astrid und
Allan, die kurz vor mir vorbei gekommen sein müssen. Vielleicht sitzen
die beiden schon in der Pilgeroase, bei Tee und Keksen, wie der
Pilgerführer verspricht.
In
der Pilgeroase geht
es lebhaft zu. Ein herzliches Hallo und Winken, als ich auf die
Herberge zugehe. Es scheint, man habe Angst, ich gehe vorbei, ohne
wenigstens eine Weile zu rasten. Aber ich habe mich längst entschieden,
über Nacht zu bleiben.
Die Pilgeroase ist ein mit Obst, Tee und
Keksen reich gedeckter Tisch unter einem Baldachin. Johannes, ein
Besucher aus Panschwitz-Kukau sitzt erwartungsvoll am Tisch und nimmt
mich gleich in Beschlag; anscheinend hat er auf jemanden wie mich
gewartet. Die Frauen, die im Garten arbeiten, sagen nur kurz Hallo
und fordern mich auf, zuzugreifen. Wenn ich Kaffee will, soll ich mir
den in der Küche kochen. Die Herbergsmutter ist nicht zu
Hause. Sie ist bis Sonntag auf dem Katholikentag in Leipzig. Ich
lasse mich nicht bitten, ziehe die schlammigen Schuhe aus, und setze
mich an den gedeckten Tisch.
Johannes
wundert sich, dass ich bleiben will: Die meisten Pilger gehen weiter
zum Zisterzienserkloster Sankt Marienstern. Ich habe keine Lust
auf ein katholisches Nonnenkloster und all die Erwartungen an mich,
die damit zusammenhängen.
Johannes
erzählt vom Pilgern, und wie sehr er die Pilger bewundert, die so
weite Wege gehen. "Für mich ist das nichts," fährt er
fort, "mir fehlt die Kondition; und überhaupt." Von ihm
erfahre ich auch den Grund für den schlammigen Weg. Er berichtet von
einem schweren Unwetter am Dienstag. In einer Dreiviertelstunde hat ein sintflutartiger Regen neunzig Liter Wasser pro
Quadratmeter über Crostwitz ausgeschüttet. Die Wassermenge verursachte Erdrutsche und Überschwemmungen. Wasser und Schlamm flossen durch
die Dorfstraßen und bis in die Keller. Haselnussgroße Hagelkörner
gingen auf Crostwitz nieder. Aus Angst vor
Verletzungen trauten sich die Leute nicht nach draußen. Auf den Feldern und in den
Gärten hat das Unwetter die Pflanzen umgeworfen, entwurzelt oder
ganz zerstört. Der Hagel hat auch eins der Kirchenfenster
eingeschlagen.
"Solche Unwetter gibt es seit einiger
Zeit immer wieder", sagt Johannes. "Sie sind regional
eng begrenzt, und werden durch die Hochspannungsleitungen angezogen,
die die Regenwolken umleiten oder aufhalten. Der
Pilgerweg weiter durch die Felder nach Panschwitz-Kukau ist
sicher auch morgen noch nicht begehbar."
Eine der Frauen ist mit einem entzündeten Knie in der Pilgeroase gestrandet. Sie ist vor ein paar Tagen mit einer Gruppe Frauen in Görlitz gestartet, und hat sich überfordert. Wissend, dass ihr die Kondition fehlt, wollte sie mit dem Tempo der anderen Frauen mithalten. "Ein Anfängerfehler!", sagt sie. Die andere Frau wohnt als Untermieterin in der Pilgeroase. Sie kümmert sich um die unglückliche Pilgerin, bis ihre Tochter sie heim ins Erzgebirge holt. Dort lebt sie seit ein paar Jahren, nachdem sie ihre Selbständigkeit als Altenpflegerin aufgegeben hat. Bei den beiden Frauen löse ich mütterliche Gefühle auszulösen. Als Johannes mit dem Rad die drei Kilometer nach Panschwitz-Kukau aufgebrochen ist, werde ich königlich versorgt; mit dem ersten frischen Gemüse, Salat aus Nachbars Garten, mit Radler, einem bequemen Platz auf dem Sofa, und Gesprächen bis spät in die Nacht. Von Umweltfragen, über Bio-Bauernhöfe, Merkels Flüchtlingspolitik, Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus im ländlichen Sachsen sowie Pegida ist alles dabei. Auch das Unwetter kommt wieder zur Sprache, und die für mich eigenartige Überzeugung, dass die elektro-magnetischen Felder der Hochspannungsleitungen das Wetter beeinflussen und es regional konzentrieren.
Spät abends kommt Veronika, eine Nachbarin, zu Besuch. Sie ist die
stellvertretende Herbergsmutter, die mich darüber aufklären will,
dass ich mich unter Sorben befinde, und was das bedeutet.
Unter
Sorben! Für mich klingt das, als bin ich in einem fremden Land
mitten in Deutschland gelandet. Veronika ist gut vorbereitet, und
wie ich erfahre, bietet sie allen Pilgern ihren Vortrag über die
sorbische Kultur zwischen Bautzen und Kamenz an.
Mit
60 000 Menschen sind die Sorben, beginnt sie zu erzählen, das
kleinste slawische Volk. Vor mehr als 1400 Jahren haben sich ihre
Vorfahren in dem Gebiet zwischen Oder, Elbe und Saale, zwischen
der Ostsee und den deutschen Mittelgebirgen, angesiedelt. Im Zuge
einer radikalen Germanisierung verloren sie im 10. Jahrhundert ihre politische Autonomie, sodass im Laufe der Zeit nur die
Sorben der Oberlausitz ihre Sprache und Kultur bis in die Gegenwart
bewahren konnten. Heute leben die Sorben nur noch in der Oberlausitz
im Freistaat Sachsen sowie in der Niederlausitz in der Region Cottbus
in Brandenburg.
Die
Lausitzer Sorben wurden früher als Wenden bezeichnet, eine ethnischer Name, der sich vom lateinischen Veneti ableitet. Die Römer verwendeten diesen Sammelbegriff für verschiedene slawische Stämme, die
während der Völkerwanderungszeit in den mitteldeutschen Raum
vorstießen. Der Name Sorben geht auf die sorbischsprachige Eigenbezeichnung Serbja zurück. In der Oberlausitz verwendet man ausschließlich diesen
indigenen Namen; während man in der Niederlausitz
die Bezeichnungen Wenden und Sorben gleichbedeutend verwendet.
Unter
dem Einfluss der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft Mitte
des 19. Jahrhunderts entstand unter den slawischen Völkern ein
Nationalgefühl, dass sich gegen eine zunehmende Assimilierung
wandte. Der
Bund Lausitzer Sorben e.V. - die Domowina - wurde 1912 als Dachverband sorbischer Vereine in Hoyerswerda
gegründet. 1937 wurde er vom NS-Regime verboten und 1945 als
antifaschistisch demokratische Organisation in Crostwitz neu
gegründet.
Um als Massenorganisation anerkannt zu werden, setzte
sich die Domowina für den sozialistischen Aufbau in der DDR ein, was
sich aber als Nachteil für die sorbische Sprache und Kultur erwies.
Mit der politischen Wende 1989 erneuerte sie sich strukturell und
inhaltlich. Inzwischen ist die Domowina ein politisch unabhängiger
und selbständiger Bund Lausitzer Sorben in Deutschland. Ihre
Aufgabe sieht sie in der institutionellen Förderung der sorbischen
Sprache und Kultur. Sie ist heute die Interessensvertretung der
Sorben in Sachsen und Brandenburg mit demokratisch gewählten
Institutionen.
Die
sorbische Lausitz ist eine der größten Trachtenregionen
Deutschlands. Von den ehemals elf regionalen Formen werden
gegenwärtig noch vier Trachten bewahrt: im Norden bei Cottbus, in
der mittleren Lausitz bei Hoyerswerda und Schleife und im Süden in
den katholischen Dörfern westlich von Bautzen, wozu auch Crostwitz
gehört. 2008 war die Tracht für fast 400 Frauen noch die
Alltagskleidung. Für viele der Mädchen und jüngeren Frauen ist sie die Kleidung der religiösen Rituale und Feste sowie ganz
allgemein die Festtagsbekleidung geblieben, sichtbarer Ausdruck
kultureller Identität. Nach dem Untergang der DDR entstand im Rahmen
der Gründung von Heimatvereinen in der Lausitz eine
Trachtenrenaissance.
Hand
in Hand mit den Festen der katholischen Liturgie werden in der
Lausitz abgewandelte, slawische Bräuche heidnischen Ursprungs
bewahrt und selbstbewusst gepflegt, die sich vielfach um die
christlichen Hauptfeste Weihnachten und Ostern oder um den Ablauf
des bäuerlichen Jahres gruppieren. Weit verbreitet sind die Winter-
und Frühlingsbräuche wie die Vogelhochzeit und die wendische
Fastnacht, Osterfeuer und Hexenbrennen sowie das Maibaumaufstellen
und -werfen. Üblich sind immer noch die Erntebräuche wie das
Hahnrupfen, Hahnschlagen, Stoppelreiten und Kranzstechen. Alle diese
Feste bieten einen Anlass für der Tragen der Tracht.
"Gestern,
an Fronleichnam," erzählt eine der Frauen, "zog eine große
Prozession durch das Dorf. Alle Teilnehmer trugen die sorbische
Tracht, besonders die Frauen." Stolz fährt sie fort: "Mit
zwei Bussen sind Touristen aus Köln angereist, um dieses Ereignis
mitzuerleben." Sie zeigt mit ein Video von der Prozession, das sie mit ihrem
Smartphone aufgenommen hat.
Bei mir lösen ihre
Bilder nur unangenehme Erinnerungen aus. Ich denke an meine eigene
katholische Kindheit zurück, an die Fronleichnamprozessionen, die
ich jahrelang selbst in meinem Kommunionsanzug mitgehen mussten. Kein
Wunder, dass mir die vielen gelb-weiß gestreiften Fahnen, die ich
heute Nachmittag überall im Dorf gesehen habe, so vertraut
vorgekommen sind.
Die katholische sorbische Lausitz ist ein
relativ geschlossenes Gebiet zwischen Bautzen, Kamenz und
Wittichenau. In diesem Gebiet leben in acht Pfarrgemeinden mehr als
10 000 sorbische Katholiken. Die Alltagssprache in diesen Familien,
in den Kindergärten und Schulen sowie im öffentlichen Leben ist das
Sorbische. Protestantische Gemeinden mit einer überwiegenden Anzahl
an Sorben gibt es nicht mehr.
Das
Sorbische Oberammergau titelten die Zeitungen, als 2005 zum ersten Mal das Passionsspiel der
Crostwitzer Gemeinde im Pfarrgarten uraufgeführt wurde, das alle
zehn Jahre stattfinden soll. Das sorbischsprachige Passionsspiel
brachten damals 220 Darsteller, Chorsänger, Musiker und Helfer auf
die Bühne. In Crostwitz sprach Jesus sorbisch. Dolmetscher sorgten
für Verständigung. Im September 2015 folgte die zweite Inszenierung
in Crostwitz.
Am
Sonntag gibt es eine zweite Prozession. Wie schade, dass ich die
nicht miterleben kann, sagen die Frauen. Eine Bemerkung, die mich
nachdenklich zurücklässt. Aber zu bleiben ist glücklicherweise
keine Option, denn als Pilger darf ich nur eine Nacht in der selben
Herberge bleiben.
Es ist spät geworden. Heute kommt kein weiterer Pilger mehr nach Crostwitz. Wieder bin ich der einzige Gast in einer Herberge, und habe einmal mehr die freie Auswahl zwischen den Zimmern und Betten. Bevor ich schlafen gehe, blättere in einem der Fotoalben, in denen chronologisch Fotos der Pilger dokumentiert sind, die vor mir hier übernachtet haben. Es ist auffällig, wie viele Menschen aus sozialen Berufen Pilger sind; viele interessante Menschen schauen mich von den Fotos an. 2015 übernachteten 264 Pilger und Pilgerinnen in dieser Herberge. Aber heute Abend sind alle Pilger vor und hinter mir auf dem Weg. Ob sich das nächste Woche ändert.
Weiterlesen: Ein ostdeutscher Pilgerweg
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