Ich bekomme Weihnachtsgrüße ohne weihnachtlich gestimmt zu sein. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich Weihnachten immer zu Hause - wo auch immer - aber nie allein. In diesem Jahr ist meine Weihnachtsflucht eine ganz besondere. Bali! Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl, im Herzen oder im Kopf, wo die Gedanken kreisen, wenn das wirklich einen Unterschied macht. Sobald der geographische oder kulturelle Kontext fehlt, bleiben die Gefühle ohnehin aus. Nichts erreicht mich hier, dass sich irgendwie weihnachtlich angefühlt. Nicht der grüne Baum, kein Schmuck, keine Lieder, insbesondere nicht die üblichen Emotionen, die sich trotzdem nicht völlig abstellen lassen. Dazu sind sie zu sehr Kindheit. Für mich gibt es dieses Mal die Tropen als Weihnachtsgeschenk: schwül, heiß und immer wieder regnet es. Die Kerzen würden am Baum schmelzen, und der Baum in Flammen aufgehen, wenn die erste Kerze, weich in den Knien, zur Seite kippt.
Seit gestern bin ich erkältet. Ein unangenehmes Körpergefühl, dass ich mir zugezogen habe. Vielleicht eine Art Weihnachtsmelancholie. Mein Weihnachtsmenu fällt aus. Vielleicht morgen. Irgendwo müssen doch die vielen Touristen feiern. Kennengelernt habe ich niemanden. Unter den Touristen, die alle aneinander vorbeilaufen, geht es eher anonym zu. Meistens sind es Paare oder Familien mit Kleinkindern, die erschöpft in den Tragen auf Papas Rücken hängen. Ich denke an meine eigene Tochter, die ich vor über zwanzig Jahren im Süden Balis durch die Reisterrassen getragen habe. Mit dem alten Jahr geht auch mein Erwerbsleben endlich zu Ende. Ich finde, mir steht ein guter und verdienter Abschluss zu. Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass mir erst jetzt bewusst wird, wie zufrieden ich mich in einem falschen Leben eingerichtet habe. Dass ein gutes Leben möglich ist, obwohl ich einst für ein anderes angetreten bin. Ohne etwas zu bedauern, ohne das Gefühl, gescheitert zu sein. Ich wundere mich, dass so etwas möglich ist, und frage mich, ob sich Adorno vielleicht geirrt hat.
Ich sitze im Warung Semesta. Meine erste Tasse Kaffee ist eine Überraschung, mit Untertasse. Im Glas bekomme ich ihn nicht. Sehr gewöhnungsbedürftig. Balinesischen Kaffee habe ich anders in Erinnerung. Während meiner ersten Aufenthalte servierte man ihn im Glas: ein Löffel Kaffeepulver, ein Löffel Zucker, mit heißem Wasser aufgefüllt und umgerührt. Räuberkaffee nennt ihn eine Freundin. Während ich wartete, bis sich das Pulver auf dem Boden absetzte, kühlte der Kaffee auf Trinktemperatur ab. Fertig war der Kopi Bali, der mir nun legendär vorkommt. Heute bekomme ich überall Cappuccino.
Made setzt sich zu mir an den Tisch. Er ist Maler, teilt er mir mit verschwörerischem Blick mit, und erzählt von sich und seinen Bildern. Made malt im Batuan-Stil: dörfliche Bali-Szenen, ursprünglich nur in Schwarz-Weiß ausgeführt. Heute male ich gerne in Farbe, sagt Made, den Touristen gefällt das besser. Er zeigt mir seinem Katalog mit verschiedenen Motiven seiner Kunst, auch den dramatisch inszenierten Untergang der Titanic. ComicArt im Batuan-Stil. Mir gefallen die einfachen, monochromen Gemälde besser, die ich aus den Museen kenne. Sie sind atmosphärisch dichter und lassen der eigenen Imagination mehr Raum. Gestern, so erzählt er mir, hat er ein großes Bild an javanische Touristen aus Yogyakarta verkauft. Mit ausgestreckten Armen deutet er die Größe an; zwei Meter lang, einen Meter breit. Als er erkennt, dass ich kein Käufer bin, verabschiedet er sich lächelnd.
Nachmittags bin ich in Puri Lukisan, einem Museum für balinesische Malerei. Ein Weihnachtsbesuch in leeren Räumen. Nyoman, meinem Gastgeber in Pengosekan, kann ich heute Abend berichten, dass ich mich auch als normaler Tourist verhalten kann. Er bezweifelt das nämlich, da ich seine Erwartungen nicht erfülle. Auch Nyoman ist Maler, bereits jenseits der sechzig, schmal gebaut, mit schütterem Haar, und Unternehmer. Er malt farbige Bilder, für den europäischen Geschmack fast schreiend bunt, in einem naiven balinesischen Stil, der unerreicht berühmten Vorbildern nacheifert, wie sie in den Museen in Ubud ausgestellt sind. Er kleidet sich synkretistisch, ein Modemix, indonesisch und westlich. In lokaler Tracht habe ich ihn nie gesehen, kann ihn mir auch nicht gut darin vorstellen. Tagsüber sitzt er in einem kleinen Pavillion, gleich am Eingang in sein Gehöft, wo er seine Gemälde ausstellt und an neuen Werken arbeitet. Dort empfängt er Besucher, scherzt und plaudert und trinkt Tee mit ihnen, erzählt von den Sehenswürdigkeiten, die sie seiner Meinung nach sehen müssen. Wenn es gut läuft, vermittelt er seinem Freund Ketut, der als Chauffeur auf der ganzen Insel unterwegs ist, einen Fahrgast. Selten verkauft er eines seiner Bilder. Er ist es gewohnt, mit Touristen zu verhandeln und zu verkehren. Dann gibt er sich selbstbewusst und kompetent. ist ganz in seinem Element. Manchmal vermietet er auch nur einen der Motorscooter, die vor dem Eingang stehen. Ein guter Geschäftsmann, der es seinen Kunden angenehm und leicht macht. Er ist einer der zahlreichen kleinen Unternehmer, die dem Tourismus ihre Existenz verdanken. Nyoman versteht nicht, dass ich den ganzen Tag durch die Gegend wandere. Für ihn sind Touristen motorisiert. Für mich ist flanieren die richtige Art anzukommen, einfach nur sein, ohne mir konkrete Pläne zu machen oder Sehenswürdigkeiten abzuhaken. Mich interessieren die Kleinigkeiten am Wegesrand, die sich zufällig ergeben. Die meisten Attraktionen, die Touristen suchen, kenne ich bereits, das, was touristisch angesagt ist, aus früheren Jahren, und auch gleich mehrfach. Wo sich die Menge aufhält, gibt es nichts mehr zu erleben. Masse tötel die Authentizität. In dieser Hinsicht hat sich auch in Bali nichts zum Besseren verändert. Besonders der Individualverkehr ist zu einer Plage geworden. Knatternde Motoren, der Gestank der Abgase, die Schwierigkeit von einer bürgersteiglosen Straßenseite auf die andere zu wechseln. Die Landschaft, die Architektur, und auch die Strände, die Tänze und das Gamelan sind die gleichen geblieben.
Abends bin ich im ARMA, Agung Rai Museum Of Art, um mir eine klassische Tanz-Vorstellung ansehen. Legong Telek, Pendet und Baris steht auf einem Aufsteller am Eingang. Alles ist vorbereitet, das Gamelanorchester am Start. Die Musiker warten rauchend und schwatzend im Hintergrund, die Tänzerinnen festlich frisiert und kostümiert, legen letzte Hand an ihre Maskerade. Ich bin das ganze Publikum in einem Auditorium, das mehr als hundert Zuschauern in dem tropischen Park Platz unter freiem Himmel bietet. Es gibt keine Aufführung, denn erst ab sechs Zuschauern reicht der Eintritt von 480.000 IDR pro Zuschauer für die Gage des Ensembles. Ubud an Weihnachten. Einerseits Masse, andererseits Stillstand. Wer verdient in Bali am Tourismus? Essen und Trinken, Übernachtung und Konsum, das geht immer. Und das Eigen-Kulturelle, was wird daraus? Was Bali war, und gerade noch ist, hat sich in die Nischen des kulturellen Wandels geflüchtet.
Viel Neues und Interessantes ist nicht dazu gekommen, wenn ich den Luwak-Kaffee und das umfangreiche Spa-Angebot außer Acht lasse. Heutzutage ist Spa der Trend, wie lange schon, weiß ich nicht. Vielleicht seit dem populären Roman von Elizabeth Gilbert: Eat,
Pray, Love. Spa-Anwendungen für beinahe alles. Massagen für jedes Körperteil oder gleich den ganzen Körper, Reflexzonenmassagen, Shiatsu und Reiki sowie das ganze ayurvedische Spektrum der Öle, Kräuter und Tees. Selbst
heiße Steine und Wärmebehandlungen aus Hawaii sind im Programm. Das ganze aufgehübsch, eine exotische Fassade, die dem westlichen Klischee entspricht. Und dann diese Frauen, wie aus dem Katalog, die in den Studios dominieren.
Auf den Werbeplakaten für den vielgerühmten Luwak-Kaffee schaut ein verstörter Musang ängstlich in die Kamera. Auf dem Speiseplan des Musangs, einer kleinen, nachtaktiven Katzenart, stehen unter anderem die Früchte des Kaffeestrauchs. Die Kerne der Frucht, die Kaffeebohne, soll nach ihrem Weg durch den Verdauungstrakt des Musangs dem Kaffee ein unverwechselbares, köstliches Aroma verleihen. Natürlich die Tasse zu einem Vielfachen von dem, was Kopi Bali sonst kostet. Deshalb hält man Musangs in Gefangenschaft, füttert sie um des Profits wegen einseitig mit Kaffeebeeren, damit sie Kaffeebohnen im Akkord scheißen. Wer kommt auf eine solche perverse Idee?
Die Menschen, die Lebensweise, die
Atmosphäre in den Straßen, die Oberfläche der Kultur, das alles hat sich verändert.
Wer ruhig beobachtet, sich einfühlt, genau hinschaut und nachfragt, dem entgeht
der westliche Hauch nicht, der über allem schwebt.
Zu Fuß gehen ist die richtige Geschwindigkeit für mich. Durch die Straßen flanieren, mich
umsehen, die Atmosphären einsaugen, mit den Leuten reden, an kleinen Ständen
essen, mich treiben lassen, sehen und abwarten was sich ereignet. Und es passiert viel.
In Wirklichkeit sind es diese kleinen Dinge, die entscheidend sind, auf die es
ankommt: Warane, die in den Sawahs vor mir die Flucht ergreifen, fast handtellergroße Schmetterlinge, die auf meiner Hand rasten und meinen Schweiß trinken, der fremden Melodie der Vögel lauschen, zuschauen was die Hühner
treiben, die Kinder, die Hunde, erfahren, was die Menschen bewegt, was sie denken, wie sie arbeiten, was sie essen, zusammen mit den Balinesen den Staub und die Abgase atmen, neue Wege finden, abseits des Trubels, um durch die Natur zu wandern, an einfachen Tempeln und unscheinbaren Schreinen in den Reisfeldern rasten, die Rituale des Alltags beobachten. Aussichten und Einsichten
Ich habe trotzdem bei Starbucks reingeschaut, aus Neugier, ich konnte es nicht lassen. Es gibt keinen Unterschied, weder in der Qualität noch im Preis, weltweit uniform. Die Cafeteria war gut besucht, wie üblich. Starbucks ist unter Balis Touristen beliebt. In Ubud gibt es ein Geschäft mit Kunsthandwerk neben dem anderen. Kaum etwas Brauchbares. Tinnef, wie der Kölner sagt. Das Überangebot verwirrt meine Sinne. Irgendwann hält mein Blick nichts mehr fest. Kaum gesehen, schon vorbei. Das nächste, das nächste, das nächste. Kaum fällt mir etwas auf, schon vorbei, verweht. Ich bin für´s Shoppen nicht gemacht.
Ich habe eine Buslinie gefunden, Perama, die mehrere Orte in Bali bedient. Der Bemotransport hat den steigenden
Wohlstand des letzten Jahrzehnts nicht überlebt. Ich bin ein Liebhaber des alten Transportwesens, damals, als nicht jeder ein Moped, und die Reichen noch keinen SUV hatten. In Ubud haben die letzten Bemounternehmen vor zehn Jahren aufgegeben. Jetzt muss der ein Taxi nehmen, der über kein eigenes Fahrzeug verfügt. Der Individualverkehr hat sich durchgesetzt, die hohe Luftverschmutzung
ist ein schmerzlicher Preis. Ich will keinen Motorroller, Scooter genannt, mieten oder mit dem Taxi fahren, wie inzwischen bei den Touristen üblich. Sie haben einen Chauffeur, der sie hierhin und dorthin fährt, zeigt ihnen nur, was er glaubt, das sie sehen müssen. Dann habe ich keine Ruhe für meinen eigenen Rhythmus mehr.
Morgen fahre ich mit Perama nach Sanur, ans Meer, ins Meer eher nicht. Aber Sanur anschauen, und ein Geschenk
vorbeibringen, leider nicht rechtzeitig zu Weihnachten. Doch das spielt in Bali keine Rolle.
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