21 Dezember 2022

Im Kiez nebenan


Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.
Walter Benjamin


Schon seit Jahren, schreibt Léon-Paul Fargue, träume er davon, einen Plan von Paris zu schreiben, für sehr geruhsame Leute, für Spaziergänger und Flaneure, die Zeit zu verlieren haben und Paris lieben. Er hat seinen Traum in seinem Buch Der Wanderer von Paris umgesetzt. Ich werde es ihm gleichtun, und meinen Spaziergängen durch Berlin nachschreiben. Auch Erling Kagge hat die Stadtteile von Oslo zu Fuß erkundet. Viel Inspirierendes für meine städtischen Wanderungen verdanke ich auch David Le Bretons Essay Lob des Gehens.

Ein Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Als literarische Figur streift er durch die Gassen, Straßen und Passagen der Städte, treibt mit der anonymen Menschenmenge; er schwimmt mit ihnen im Strom durch Straßen und Gassen und über Plätze. Er versucht die Straßen zu lesen, die Gesichter der Passanten in der Menge, die Fassaden der Gebäude. Sie bieten ihm die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung.
Das französische Verb flâner, spazieren, entstand in seiner heutigen Bedeutung im 19. Jahrhundert. Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und E.T.A. Hoffmann gebührt die literarische Ehre, Erfinder des Flaneurs zu sein. Damals entstanden die ersten Millionenstädte: London 1810, Paris 1850, Berlin folgte 1870. In E.A. Poes Erzählung Der Mann in der Menge betritt der Flaneur die Bühne der Literatur. Bevor er sich selbst unter die Passanten mischt, sitzt der Ich-Erzähler am Bogenfenster des Londoner Cafés D. und beobachtet die auf der Straße vorbeiziehende Menge, in jener glücklichen Stimmung, da man alles andere eher empfindet als Langeweile. Die Sinne sind wacher als sonst, die Schleier lüften sich von den inneren Visionen, und die Gedanken sind geradezu elektrisch geladen; [...] Ich empfand ein ruhiges und dabei regsames Interesse an allem und jedem. In seinem Werk spricht Charles Baudelaire von Botanikern des Gehsteigs, die in die Metropole eintauchen, um sie zu verstehen. Im 19. Jahrhundert bewegte sich der Flaneur langsam, blasiert und dandyhaft, stellte der Öffentlichkeit der Straße seinen wachen, verfeinerten Blick zur Schau, seine Intellektualität, wie Poes erzählendes Ich oder E.T.A. Hoffmanns Protagonist in Das öde Haus. Ein Flaneur ist jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, der immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Der sozialistische Autor Ernst Dronke, Mitstreiter von Karl Marx und Friedrich Engels, nennt sie in seinem Buch Berlin beim Namen: die Eckensteher, die Müßiggänger und späten Nachtvögel. Dieses Milieu bietet dem Flaneur die kleinen Beobachtungen und den Stoff für Reflexion und Erzählung. Sir Arthur Conan Doyle legt seinem Detektiv die passenden Worte in den Mund und bestimmt den Stoff, aus dem der Flaneur schöpft: Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge, die nie jemand wahrnimmt. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit. Der Flaneur hat sich mit dem Wandel seiner Umgebung, urban und sozial, verändert. Den Flaneur des 20. Jahrhunderts porträtiert Walter Benjamin als Fokus sozialer Ereignisse, der versucht, in der Anonymität der Straße aufzugehen, um ungestört und unbemerkt das soziale Geschehen zu beobachten. Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, schreibt er in Berliner Kindheit um 1900, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Straßennamen sprechen zu dem Wanderer wie das Knacken trockener Zweige und die Tageszeiten sind für ihn so klar wie ein Bergtal. Flaneur und Wanderer, Stadt und Land, Natur und Kultur. Einen Unterschied zwischen diesen Polen gibt es nicht.

Die Motivation des Flaneurs spiegelt den Wanderer, der die Natur durchstreift, weil sie in der Urbanität der Städte ein Schattenleben führt. Wie der Flaneur artikuliert der Wanderer seine Gedanken und Gefühle, sucht das Charakteristische wie das Besondere in seiner Umgebung und erzählt davon. Wie Benjamins Flaneur will er in der Umgebung, den Landschaften, durch die er streift, aufgehen, sich verirren, um die Dinge zu finden, die nicht offensichtlich sind. Im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich die Habitate mehr denn je unterscheiden, liegt die Rolle des Wanderers in der Beobachtung der Gegensätze sowie ihrer gegenseitigen Integration, denn keinem öffnen sich diese beiden Umwelten so sehr wie dem flanierenden Fußgänger. Der Gegensatz von Stadt und Land! Die vielen Möglichkeiten von Arbeit, Begegnung, Konsum und Kultur locken die Landbevölkerung erneut aus der freien Weite der Landschaft in die Stadt und verführen sie. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land frustrieren und fordern auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit und soziale Geborgenheit in den Dörfern und Weilern auf dem Land. Macht Stadtluft immer noch frei? Oder inzwischen krank, da ihr der frische Atem der Natur fehlt? Der Wanderer-Flaneur Henning Sußebach, der der Großstadt überdrüssig ist, geht in seinem Buch Deutschland ab vom Wege zu Fuß durch das Hinterland. Dabei stellt er fest, dass Stadtmensch und Landmensch sich nicht mehr verstehen, nicht mehr solidarisch sind. Umwelten und Lebenswelten sind zu verschieden geworden. Kaum das der eine noch vom anderen weiß. Als gebe es kein Leben außerhalb der Großstadt, spricht er von der urbanen Herablassung des Städters. Auf seiner Wanderung durch Deutschland, von Nord nach Süd, kommt es ihm vor, als befände [er sich] exakt auf einer Kluft, auf einer historischen Verwerfung, die zwischen Stadt und Land, zwischen Avantgarde und Abgehängten, zwischen Morgen und Gestern zu verlaufen schien, womöglich aber auch zwischen Arroganten und Ignorierten. Rainald Grebe singt in seinem maskierten Liebeslied von diesem modernen Stadt-Land-Dilemma in Brandenburg, wenn er es auch nicht benennt. Stadt und Land sind nicht länger reziprok, sie sind antipodisch. In der Stadt vermutet man die Lebensqualität, auf dem Land die Zurückgebliebenheit. Daneben kulminieren Arbeitslosigkeit und Langeweile auf dem Land, dominieren Konsum und Wohlstand das Leben in der Stadt. Wer heute noch in den entleerten Dörfern und Regionen der Ökumene lebt, der, das glaubt der Stadtmensch, hat es aus irgendeinem Grund nicht geschafft, von dort fortzukommen. In einer Zeit, in der ein Stadt-Land-Dualismus, nicht länger mehr das Nord-Süd-Gefälle, das Zusammenleben der Menschen bestimmt, fördern die Reflexionen und Erzählungen der Wanderer gegenseitiges Verständnis. Wie dieses Unverständnis für einander, die asymmetrische Sozialisation der Protagonisten in der Stadt oder auf dem Land, das soziale Leben eines brandenburgischen Dorfs eskaliert, das schildert Juli Zeh sarkastisch in ihrem Roman Unterleuten.

In Berlin habe ich meine eigenen Wege, meine eigenen Plätze und Kieze, Etappen, die ich gerne und oft zurücklege. Sie gehören mir allein, denn meine Schritte und Blicke konstruieren diese Umgebung, die subjektiv, aber mitteilbar ist, die sich der Haut der Stadt einschreiben wie ein Tattoo. Sie lässt sich nacherzählen, ist selbst für mich nicht wiederholbar, stimmt nicht mit der eines anderen Wanderers restlos überein. Mein Bedürfnis nach unterschiedlichen Formen der Urbanität, nach städtischen Atmosphären, ändert sich ständig. Jeden Tag den gleichen Weg zu gehen, welch eine schreckliche Vorstellung. Eine Langeweile, die die Mannigfaltigkeit Berlins verhöhnen würde. Berlin ist nie dieselbe. Berlin fühlt sich immer wieder anders an, je nach Temperatur, nach Wetter und Umgebung. Meine Wahrnehmung ändert sich mit meiner Stimmung, mit meinem Bedürfnis zu schlendern, zügig zu gehen oder zu eilen. Ob ich flaniere oder mich beeile, macht bereits den Unterschied. Mein Rhythmus komponiert die städtische Landschaft, die nicht das Geringste mit der anderer zu tun hat. Mein Gehen bestimmt meine Gefühle. In jedem Bezirk liegen andere Atmosphären in der Luft: die Straßen, eng, breit, gerade, gewunden; Bäume oder Autos an ihren Rändern, Kopfsteinpflaster oder Asphalt; die Bebauung aus unterschiedlichen historischen Epochen, mit ihren Kiezen und Parks, menschenleer oder bevölkert, bürgerlich oder multi-kulturell; eine Vielzahl an Geschäften oder Gaststätten, bunte Flecken auf monochromen Hauswänden, unfassbar in ihrer Internationalität. In den Nischen Street Art, einzelne politische, kommerzielle oder absurde Graffiti oder dem Uneingeweihten nicht dekodierbare Tags anonymer Writer, die sich auf ihre eigene Weise in den Körper der Stadt einschreiben.


tief dringt der blues
der stadt in seinen rhythmus.
seine identität ist urban

Wer durch seine Stadt wandert, da wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
In den 1970er Jahren entdeckte man in Kreuzberg die Altbauviertel mit gründerzeitlichem Altbaubestand - eine Bewegung von unten. Die Kiez-Kultur nahm ihren Anfang. Mitte der 1980er Jahre zog die DDR nach und die ersten Friedrichshainer- und Prenslauer Berg-Kieze entstanden. Durch den zunehmenden Niedergang der DDR dehnte Staatsratsvorsitzender Erich Honecker in einer Rede zum 40. Jahrestag den Kiezbegriff auf Lichtenberg und Hohenschönhausen aus - um der Unzufriedenheit mit dem Sozialismus die neue Identität eines Heimatgefühls entgegenzustellen. Mittlerweile ist Wohnen im Kiez im Rahmen der Gentrifizierung bei Berliner Immobilienmaklern eine Marketingstrategie geworden. Ursprünglich war ein Kietz, der das [-t-] inzwischen verloren hat, eine Vorstadt der großen Städte, in der Arbeiter und Fischer lebten, die arme Bevölkerung. Bekannt auch der Köpenicker Kietz mit seiner einst slawischen Bevölkerung. Ein Kiez ist mehr als nur ein Viertel. Viel mehr: ein Quartier, gewachsene Urbanität, Nachbarschaft, Gemeinschaft.
Ich lebe mittendrin. Der Graefekiez geht mitten durch mich hindurch. Unsere Beziehung ist vom ersten Tag an eine leidenschaftliche. Ich wusste nicht, dass es möglich ist, mit einer quirligen Steinwüste eine emotionale Beziehung einzugehen. Mit Hunderte von Metern säumende Steinkisten, mit engen Schluchten, in denen Licht nur aus der Höhe herabfällt, in denen dicht gedrängt Menschen in übereinandergestapelten, rechteckigen Kästen leben, unten gefüllt mit Läden, Cafés und Restaurants, die bis spät in die Nacht geöffnet sind. Inzwischen weiß ich es besser: Meine Identität ist urban. In anderen Vierteln und Städten war meine Aufmerksamkeit von anderen Dingen abgelenkt. Mir war noch nicht bewusst, dass mir das Urbane längst unter die Haut gekrochen ist, mir ihren Rhythmus als Muster auf die Haut tätowiert hat. Noch immer wundert es mich, dass so etwas möglich ist. Doch ohne die vielen Bäume, das holprige Kopfsteinpflaster, das den Verkehr beruhigt, den trägen Kanal mit seinen Wasservögeln und das bunte Treiben in den wenigen Straßen, könnte ich es nicht ertragen. Eingezäunt zwischen Urbanstraße, Landwehrkanal und Kottbusser Damm ist der Graefekiez in Kreuzberg eine zwischen Stein und Asphalt vor sich hin grünende Stadtinsel im Strom der wachsenden Metropole Berlin. Die baumlose, vierspurige Urbanstraße mit den fünfstöckigen, dicht gedrängten Wohnhäusern der anonymem Fassaden, über die ununterbrochen der Verkehr rauscht, gehört nicht wirklich dazu. Und auch nicht der geschäftige Kottbusser Damm, mit dem Flair eines in die Breite gezogenen, deutsch-türkischen Basars. Es sei denn, eine Grenze gehört zu dem Terrain, das sie umschließt. Mit dem Landwehrkanal, eingerahmt von Fraenkelufer und Planufer, ist das etwas völlig anderes.
Der Graefekiez besitzt einen bewachten Eingang, wenn man so will, und wenn die Fantasie ausreicht. Kein Tor, auch keine Schranke, die sich für die Passanten öffnet und sich hinter ihnen wieder schließt. Niemand verlangt ein Weggeld oder will Papiere sehen, die die Identität des Vorbeikommenden bestätigen. Noch nicht. Der Kiez ist eine freie Zone für Jedermann. Nur ein Brunnen, ein respekteinflößender, inspirierender Ort der Wassergeister. Von weitem wirkt der Brunnen wie ein Relikt. Wenige Schritte von der Urbanstraße entfernt, tauche ich am Wrangelbrunnen unter die schattigen Bäume der Grimmstraße. Der Brunnen strahlt alt und ehrfurchtseinflößend, erinnert an einen Krieger, an Papa Wrangel, wie ihn der Volksmund erinnert: den Generalfeldmarschall Friedrich von Wrangel, ein Berliner Original, mit derbem Humor und schlagfertigem Witz, ein inkompetenter Heerführer, wie manche meinen, der preußischen Restaurationszeit. Nicht weit entfernt ist ihm eine ganze Straße gewidmet. Aber das ist schon ein anderer Kiez. Es gab eine Zeit, da schmückte der Wrangelbrunnen den Kemperplatz in Tiergarten. Der Brunnen war noch jung, als Kaiser Wilhelm II. seiner Residenzstadt den monumentalen Rolandbrunnen schenkte. Das aufstrebende Berlin der Jahrhundertwende brauchte einen historisch greifbaren Helden und keine mythische Dramatis personae. Papa Wrangel und die merkwürdigen Gestalten, die auf seinem Brunnen herumlungern, mussten umziehen. Nicht ordentlich genug gekleidet für das prüde protestantische Milieu. Zeitmigranten aus tiefster Vergangenheit, aus einer Zeit, in der die Menschen die Natur noch fühlten und ihren Phänomenen Eigennamen gaben. Die vier Bronzestatuen, ein bärtiger Göttervater und seine barbusigen Gespielinnen mustern durch einen Vorhang fließenden Wassers einladend die Passanten.
Wer sich die Zeit nimmt, auf dem Brunnenrand rastet, mit der Hand durch das flache Wasser streicht und sich Tang ins Haar flechtet, der träumt in ihrer Gegenwart von Wassermännern und Undinen. Den Auserwählten laden sie in ihr aquatisches Reich ein, bezaubern und entlassen ihn reich beschenkt, glaubt man den Märchen von Nixen, Feen und Elfen. Kaiserliche Willkür hat sie an den Landwehrkanal verbannt, der ihrem Wesen besser entspricht. Wer hinter die Oberfläche blickt, dem offenbaren sie ihre Identität. Sie sind die großen deutschen Flüsse: der lässig dasitzende Vater Rhein, mit dem Schwert in der Hand, der die Grenze im Westen beschützt. Neben ihm drei Schwestern: Elbe, mit dem Raddampfer zu ihren Füßen, Oder mit den Türmen der Festung Küstrin auf ihrem Schoß. Das Ruder der dritten Frau erinnert an die Flößer auf der Weichsel. Über ihren Köpfen tanzen vier Putten einen Reigen. Sie heißen Kunst, Wissenschaft, Handel und Industrie, Disziplinen, die einst an den Ufern der großen Flüsse gediehen.

Zur Freude von Kindern und Hundehaltern teilt ein breiter Grünstreifen die gepflasterte Grimmstraße. Sie endet nicht, wie von einer normalen Straße zu erwarten ist. Am Planufer, noch vor der Admiralsbrücke, schlägt sie einen Bogen und führt zurück zum Brunnen, als scheue sie sich, den Kanal zu queren und die grüne Zone jenseits des Landwehrkanals zwischen Häusern zu verlieren. Auf der anderen Seite des Kanals, am Fränkelufer, wo einst Hausbesetzer eine neue Lebensform versuchten, die Häuser des Architektenehepaars Hinrich und Inken Baller. Torhäuser, die Baulücken überspannen und Fassaden, die in Balkone ausschwingen, Traufen und Dachgauben. Eine verspielte Mischung aus Elementen des Jugendstils, des Expressionismus und der Moderne. Wie lange Finger, die in die Zukunft weisen, liegen sie im Schatten eines der berüchtigtsten Sanierungsgebiete Berlins, der Hochhausbebauung am Kottbusser Tor: Neues Zentrum Kreuzberg.
Dem imposanten Gebäudekomplex des alten Krankenhauses an der Ecke der Dieffenbachstraße ist seine Herkunft aus dem 19. Jahrhundert ins Gemäuer geschrieben. Gegenüber die Mohren-Apotheke aus der gleichen Zeit, in der ein älterer Apotheker zugewandt und leutselig Heilung offeriert. Noch weiter westlich versperrt der eckige Betonbau des neuen Klinikums am Urban den Weg. Deutlicher lässt sich keine Grenze ziehen. Die Häuser des alten Krankenhauses wurden in offener Pavillionbauweise errichtet, und strahlen inmitten der Moderne Hochherrschaftliches aus. Architektur, wie sie heute niemand mehr gestalten kann. Wilhelmine Eleonore Ottilie, die Tochter des Sängers Friedrich Jonas Beschort, spendete der Stadtgemeinde 400 000 Mark für den Bau der Krankenheilanstalt am Urban. Die Fassade ist nun denkmalgeschützt, die Gebäude in Wohn-, Sozial- und Gewerberäume umgewandelt. Fast noch Urbanstraße, zwängt sich das Haus am Urban in die Grimmstraße, um seine Zugehörigkeit zum Krankenhauskomplex zu verteidigen. Die Gemeinschaft Triratna hat im alten Gemäuer der Sängerstochter das Buddhistische Tor Berlin gegründet, und führt Zeitgenossen in die Lehre des Buddha ein. In einen lebendigen Buddhismus verrät ein Aushang im Schaukasten. Der britische Schriftsteller Dennis Philip Edward Lingwood, alias Urgyen Sangharakshia, hat die Gemeinschaft als Western Buddhist Order gegründet, einen Orden, der vorgibt, die buddhistische Lehre in ein modernes Gewand zu kleiden. Der Guru ist, wie viele seiner Liga, umstritten, und seine persönliche Integrität zweifelhaft. Ich weiß nicht, ob die Mitglieder des Ordens der Freunde des westlichen Buddhismus unter seinem Ruf leiden. Wem die buddhistische Meditation zu unbeweglich ist, kann auf der anderen Seite der Grimmstraße in dem kleinen Studio in der Nachbarschaft dynamische Yoga-Asanas üben.

Vor dem Eingang der Urbanklinik zögern bandagierte Patienten, ihren Infusionsständer schiebend, ihren Weg zurück ins Krankenzimmer hinaus. Noch eine letzte Zigarette, bevor es zurück ins Sterile geht. Ein Rettungswagen kommt die Einfahrt herauf, ein breitschultriger Pfleger schiebt einen Rollstuhl ans Kanalufer. Die Böschung belagern dicht gedrängt Sonnenhungrige, zwischen die kaum noch eine Decke passt. Eine Frau mit Einkaufswagen sammelt leere Flaschen ein. Schwäne kreuzen gemächlich den Kanal, ihre braun gefiederte Brut im Schlepptau. Gegenüber ein Hausboot, das schon bessere Tage gesehen hat.
Nur ein paar Dutzend Schritte später taucht die untergehende Sonne die Admiralsbrücke in ihr rotoranges Strahlen. Verheißungsvoll scheint sie den Gläubigen ins Gesicht, Jugendliche aus aller Welt, die sich täglich in der Abenddämmerung hier versammeln. Ein Hotspot internationaler Kommunikation. Auf der Bordsteinkante und an das Brückengeländer angelehnt, wartet die touristische Jugend Europas, einen Kaffeebecher oder ein Eis von Isabella in der Hand auf den Start in die Nacht. Der Späti gegenüber versorgt die Angereisten mit dem erforderlichen Konsum für den allabendlichen Event. Hunde schnüffeln in allen Ecken, Fahrräder holpern klappernd über die Pflastersteine, ein langhaariger Barde klimmpert auf seiner Gitarre Oldies in die Menge. Leere Bierflaschen kippen klirrend um, und das süßliche Aroma von Marihuana schwebt in Schwaden durch die warme Luft. Während noch das letzte Rot verglüht, strömen sie in die umliegenden Restaurants. Das Schiffrestaurant van Loon im Urbanhafen schaltet die Beleuchtung ein.
Wer tagsüber eintrifft, kann unter Bäumen an den ehrwürdigen Fassaden des Planufers vorbei zum Kottbusser Damm schlendern, gegenüber in der morbiden Atmosphäre der Ankerklause die Zeit verstreichen lassen und seinen Lunch einnehmen. Wer Glück hat, und rechtzeitig eintrifft, kann sich auf dem Maybachufer ins Markttreiben stürzen - Wochenmarkt, Stoffmarkt oder Flohmarkt. Doch dann ist er bereits in Kreuzkölln.

Der Weg von der Admiralsbrücke zurück in den Graefekiez führt durch den dämmerigen Tunnel der Böckhstraße, in dem kaum Sonnenstrahlen zwischen die Häuser passen. Die Böckhstraße mit dem überflüssig anmutenden Buchstaben im Namen, ist das Stiefkind des Graefekiez. Wie das Planufer endet sie etwas weiter südlich auf dem Kottbusser Damm und kreuzt dabei die Graefestraße, das Herz des Kiez. Ganz anders die Dieffenbachstraße. Sie ist der Prachtboulevard des Graefekiez; en miniature und idealisiert. Eine Parallele, die den Kiez in zwei Hälften schneidet, im Nordosten der Landwehrkanal, im Südwesten die Urbanstraße. Im Frühling und Sommer erstrahlt sie in mediterranen Flair. Fast glaubt sich der Flaneur in Straßencafés in Südfrankreich, wo unter Markisen Kaffee, Pastis oder ein Imbiss eingenommen wird. Sie ist ein Star unter den wenigen Straßen, mit lässigem Touch und attraktivem Savoir Vivre. Unter Plantanen, deren Äste sich über Straßencafés und Restaurants verzweigen, sitzen tagsüber die Bewohner zwischen den Touristen, die im Sommer zahlreich vorbeischauen, schwatzen, lesen in der Tageszeitung oder verzehren das eine oder andere. Cappucino oder Latte macchiato, in italienischer Qualität, stehen hoch im Kurs. Abends füllen sich die Kneipen und Restaurants, die Dildile, Zitrone, Zazza, Datscha, Schönes Café, Room 66 oder Grünfisch heißen. Dann öffnen auch die wenigen Bars ihre Türen, darunter, so will ich meinen, die kleinste Bar Berlins. Einen Spätkauf gibt es an vielen Stellen, Brot und Kuchen im luxuriösen Ambiente, die meisten Geschäfte bieten Souvernirs und modischen Chic. Dazwischen, in ehemaligen Wohnungen oder Ladenlokalen, haben sich Start Ups von Freelancern und Influencern gemischt.
Wo sich Graefestraße und Dieffenbachstraße kreuzen, und etwas weiter nördlich die Graefestraße auf die Böckhstraße trifft, liegen die beiden Zentren des Kiez. Ein Tante-Emma-Laden mit Stammkundschaft, ein hipper Getränkemarkt, ein Kinderladen mit dem verblassten Charme anti-autoritärer Erziehung beherrschen die eine Kreuzung. Die Atmosphäre ist vollgesogen mit Zeitkolorit, sodass der Vorübereilende schnell glaubt: So ist es schon immer gewesen, und alles stammt aus alter Zeit. Dem Gepränge hängt etwas Museales an, das ein Stück urbane Ewigkeit bewahrt. An der zweiten Kreuzung verteidigt eine Zahnarztpraxis, in deren Warteraum ein überdimensioniertes Gemälde zwei Sumoringer zeigt, standhaft ihr Territorium gegen das unaufhaltsame Vordringen der Gastronomie. Spätis - türkisch, manchmal arabisch - öffnen bis spät in die Nacht für alle die, deren Konsumbedarf noch immer nicht befriedigt ist. Oder für die, die zu später Stunde hungrig und durstig heimkehren. In den Sommermonaten werden sie zu preiswerten Straßencafés mit schnellem Small Talk, die Gäste auf Treppenstufen oder auf Stühlen zwischen Zeitungsständern.
Jenseits der Urbanstraße endet der Kiez. Die südliche Graefestraße gehört nicht mehr dazu. Sie läuft in der Hasenheide aus, wo Turnvater Jahn residiert, und der Stadtwanderer nach Belieben zwischen Bäumen und Sträuchern verschwinden kann. Im Park verliert der Kiez seine Struktur und das quirlige in den Straßen verblasst in der Erinnerung.

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