Wenn mir die Gelegenheit zu einer Reise fehlt, wendet sich mein Blick nach innen, in eine Vergangenheit, die mir allein gehört. Auf eine Spur, die mein Leben jahrzehntelang in die Welt getreten hat, die zurückführt zu den Bildern und Gefühlen, die in Erinnerungspalästen auf mich warten.
Mitte der Sechziger. Ich war vierzehn, vielleicht auch schon fünfzehn, ich weiß es nicht mehr genau. Nachkriegsjahre. Ich wuchs inmitten einer reaktionären und kleinbürgerlichen Welt auf, die noch von der Atmosphäre des Faschismus bestimmt war. Ich konnte gar nicht so viel bestraft werden, wie ich aus der Rolle fiel, die Eltern und Lehrer für mich konfiguriert hatten. Das bedeutete: autoritäre Bezugspersonen, leibfeindliche Sexualmoral, erstarrte Regeln und Werte, und Erwachsene, die nicht so handelten, wie sie es von uns verlangten. Ich schwärmte für die Musik der Band The Small Faces. Unter anderen, denn in diesen Jahren schossen sie in einer Vielfalt aus dem Boden, wie Unkräuter, nicht zu bremsen von den Sanktionen, die unsere Eltern und Lehrer Erziehung nannten. Frische Triebe nach einem warmen Frühlingsregen auf den Trümmern einer gebrochenen Gesellschaft. Eins ihrer Alben heißt from the beginning, ihr zweites, und signalisiert, worum es geht. Um einen Neuanfang. My Generation von The Who, eine Hymne, musikalisch so progressiv, dass man sie mittlerweile als den ersten Punksong betrachtet. Auf dem Small-Faces-Cover: fünf Jüngelchen, College Boys, noch grün hinter den Ohren. Jungs wie ich. Sie setzten eine Bewegung in Gang, zusammen mit den vielen anderen, die auch nicht älter waren. Eine Bewegung, die Grenzen sprengte. Von Vietnam, Studentenbewegung und Anti-Atom-Bewegung war noch nicht die Rede. Das kam erst später. Dafür Rote-Punkt-Aktion, das Che-Guevara-Haus in Aachen und der Club Liberté. Und wir, wir gründeten unseren ersten Debattierclub: IDA - Information, Diskussion, Aktion. Im Gefolge von James Dean, der in Jenseits von Eden und in denn sie wissen nicht, was sie tun den Generationskonflikt zum Modell des Widerstands propagierte. Mit diesen Idolen und ihren Botschaften wandten wir uns gegen die Väter, die, versehrt durch das Trauma von zwei Kriegen wie Gespenster ihren Routinen folgten, ängstlich bemüht, sie zu bewahren, um nicht in der Dunkelheit in ihrem Inneren zu versinken. Die ersten Gedanken an eine politische Revolte leuchteten am Horizont. Wir waren Idealisten. Und selbstbezogen, hedonistisch, narzisstisch. Denn zuerst wollten wir uns selbst befreien. Bands wie die Small Faces waren die Aufsteher, Vorbilder und Leuchttürme, um den Kurs zu halten. Visionäre der Tat, gegen eine Gesellschaft, die sich schuldig gemacht hatte, Freiheit und Frieden verraten zu haben. Über ihrem Aufbruch prangt das Label: The Birth of Rock n´Roll. Sie waren eine der ersten. Danach war alles anders.
So war es damals. Ich habe die Small Faces nach Jahrzehnten erstmals wieder gehört. Ich lag müßig auf der Couch und dachte an ihren Hit Lazy Sunday Afternoon. Und an vieles andere aus diesen Jahren, in denen ich unterwegs war, erwachsen zu werden. Im nächsten Moment brach ein Gefühl über mir zusammen, wie eine tiefe Erinnerung. Mir fielen ihre Lieder wieder ein, und der naive Shalala Lala-Refrain vieler ihrer frühen Songs, den sie später in Worte fassten.
Die Musik der Gruppe ist einfach komponiert und unkompliziert gespielt. Viel Können erfordere er nicht, dieser frühe Rock. Das war unwichtig. Wichtig war, dass der Beat stimmte. Aber diese Musik ist nicht nur dazu gedacht, zu gefallen. Nicht nur. Sie wollte aufrütteln, über den Körper ins Fühlen. Dazu ist Musik das ideale Medium. Ein Blick in das andere der westlichen Zivilisation eröffnete sich. Ihre Musik klang anfangs naiv, doch man darf sich nicht von ihrem sinnlich-romantischen Sound verführen lassen, und dabei die Texte überhören.
Eigentlich begann alles harmlos; in der Disco. Damals kam ich zum ersten Mal in diese Heiligen Hallen. Obwohl ich versuchte, früher hineinzugelangen, haben sie mich nicht eingelassen. Drinnen waren die Mädchen, für die wir schwärmten, auch schon einmal alle für die Gleiche. Aber die hielten sich zurück, lächelten, und gaben sich unnahbar. Irgendwie bekamen sie Einlass, obwohl sie auch nicht älter waren als wir. Doch das war nun vorbei, und der DJ legte Shalala Lala von den Small Faces auf, die 1965 als Single erschien. Damals war ich vierzehn Jahre alt, hatte Eltern und Schule reichlich satt, die kein wirkliches Interesse an meinen Vorstellungen von meinem Leben hatten, sondern mich gesellschaftskompatibel machen wollten. Antworten auf meine jugendlichen Fragen und Probleme hatten sie keine. Ich suchte nach dem anderen meiner kleinen Welt und fand sie in der Rock Musik:
Picked her up on a Friday night
And I asked her
If she was gonna be my baby
It felt so good
When she answered me oh yeah, oh yeah
She looked good and she moved so fine
Sha la la la lee, Yeah
And all the guys knew she was mine.
Natürlich: Sie singen vom anderen Geschlecht, dass uns damals geheimnisvoll vorkam. Von dem Wunsch anerkannt, begehrt zu sein, vermischt mit der Angst, abgelehnt zu werden. Ein Gemenge von naiven Wünschen, von dunkel gespürtem Verlangen, das keinen Ausdruck fand, doch genügend drängend klares Denken suspendierte. Schwer zu erringen waren sie, fast unmöglich zu halten. Alle wollten geliebt werden, keiner sich binden. Die Mädchen vielleicht etwas mehr als wir Jungs. Weder an Beziehung noch an Regeln. Die Instrumente der Small Faces untermalten unsere Gefühle mit den Soundtrack, der nackte Beat süßen Sehnens. So wie er am Anfang klang, tief in die Gefühle greifend, klang er nie mehr wieder. Text, Musik und Tanz! Es fühlte sich an wie die Eruption meiner Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Unverhofft waren sie Wort und Klang geworden, magisch, affektiv aufgeladende Wirklichkeit, deren Ritual mich nicht mehr losließ.
Aber die Medaille hatte eine dunkle Seite: Loslassen, Verlassenwerden, Eifersucht. »Noch sind sie zusammen, doch sie denkt bereits an den anderen.« Die Enttäuschung und der psychische Schmerz, selbstsüchtig und ungerecht. Die unbedingte Haltung des We want the World, and we want it now des Rock-Poeten und Doors-Frontmanns Jim Morrison. Das besitzergreifende Haben-Wollen, das unserer Zivilisation im Blut liegt, unwichtig, ob Gegenstände oder Personen:
I know when he's been on your mind
That distant look is in your eyes
I thought with time you'd realise
It's over, over
You know I'd fight for you
But how can I fight someone who isn't even there?
I've had the rest of you
Now I want the best of you
I don't care if that's not fair
'Cause I want it all
Or nothing at all.
Doch ich wusste schon davon, bevor die Small Faces mit All or Nothing in die Charts zogen. Ich war nur ein Jahr älter geworden. Sie sangen von den bitteren Gefühlen, die mich beim ersten Verlust ergriffen, den ich bewusst durchlebte. Die früheren Verluste im Elternhaus, die ich nicht mehr erinnerte, und die trotzdem wirkten. Modelle des einen großen Verlusts, den der Eintritt ins Leben ist, der im Tod seine Vollendung findet. Meine Welt, die ich mir imaginierte, sollte nicht zum letzten Mal zusammenbrechen. Die Musik gab den Takt dazu, die Euphorie und den Trost. Das waren brandneue Erfahrungen, Momente von prägender Macht.
Im gleichen Jahr wiesen mir die Small Faces mit In my mind´s eye einem Ausweg aus dem post-pubertären Dilemma, dieser melancholischen Melange aus Höhenflug und Absturz, die so charakteristisch war für diese Jahre. Fast unmerklich betrat die Reflexion die Bühne meiner Welt. Hinwendung zu mehr Sein. Es ist keine Schande, sich aus seiner Welt zu träumen, besonders dann, wenn sie wieder einmal zu herausfordernd oder unerträglich wird. Eine Meditation, die Geist und Körper reinigt, und zu neuen Entscheidungen führt. Manchmal jedenfalls. Doch immer bleibt eine potenzielle Möglichkeit, der Silberstreif am Horizont, der solchen Momenten eignet. Sein Erscheinen hängt mit der Fähigkeit zusammen, loszulassen:
I sit here every day looking at the sky
Ever wondering why I dream my dreams away
And I'm living for today in my mind's eye
Things are clearer than before
Showing me the way, asking me to stay
I'll never close the door
To all these things and more
People running everywhere
Running through my life
I couldn't give a care,
Because they'll never see
All that I can see with my mind's eye.
In meiner Erinnerung bilden sie ein Duett: In my mind´s eye und Itchyco Park. Beide stimmen das gleiche Thema an, im Abstand von nur einem Jahr. Das Visionäre, Traumhafte, die Sehnsucht, die beides verbindet. Doch der Ton hatte sich geändert. Etwas Neues war hinzugekommen. 1967! Ich war sechszehn. Die erste Hürde war genommen. Ich wurde zwar noch nicht als erwachsen wahrgenommen, doch ich hatte ein paar Rechte mehr. Es war das Jahr, in dem ich zum ersten Mal Haschisch geraucht habe. Nicht nur ich. Meine Idole, meine Freunde. Die Bewegung, die Rock Musik, die psychodelischer wurde, lebte es vor. Die Atmosphäre hing schon damals in der Luft. Doch es dauerte noch zehn Jahre, bis Ian Dury den Motor der Befreiung auf den Punkt brauchte:
They will try their tricky device
Trap you with the ordinary
Get your teeth
into a small slice
The cake of liberty.
Der Slogan Sex and Drugs and Rock and Roll brachte diese Freiheit auf einen fast absurd klingenden Punkt. Etwas, das genau so geheimnisvoll war, wie die Mädchen, die nun fast Frauen waren, für die ich meistens aus der Ferne schwärmte, war in mein Leben getreten. Wieder öffnete sich eine Tür. Dem, der hindurchging, so hieß es, erwarteten nie zuvor gemache Erfahrungen, Bewusstseinserweiterung genannt:
Over Bridge of Sighs
To rest my eyes in shades of green
Under dreaming spires
To Itchycoo Park, that's where I've been
I got high
(What did you feel there?) well, I cried
(But why the tears there?) tell you why
It's all too beautiful, it's all too beautiful?
It's all too beautiful, it's all too beautiful
I'll tell you what I'll do (what will you do?)
I'd like to go there now with you
You can miss out school (won't that be cool?) why go to learn the words of fools?
we'll get high
(What will we touch there?) we'll touch the sky
(But why the tears there?) I'll tell you why
It's all too beautiful, it's all too beautiful It's all too beautiful, it's all too beautiful.
Diese Frage stellt sich heute anders. Doch Steve Marriotts It´s all too beautiful ist noch immer unübertroffen, obwohl unser Leben inzwischen komplexer geworden. Viele von uns haben in den späten 1960er Jahren daran geglaubt, die Schönheit der Welt und das Geschenk des Lebens zu verbessern und zu bewahren. Nach dem vermeintlichen Sturz unmittelbarer Autoritäten, und der nicht wirklich geglückten Befreiung der Sexualität von Schuld und Zwang, fanden wir nach und nach zu einem verbesserten ökologischen Bewusstsein. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind für die meisten nach wie vor ein kaum lösbares Rätsel. Der gleichberechtigte und respektvolle Umgang zwischen den Geschlechtern, der die einzige Voraussetzung für Frieden und Glück auf diesem Planeten ist, noch immer ein Traum. Alles oder Nichts: I've had the rest of you / Now I want the best of you. Die Literatur summiert endlos Antworten. Ich weiß es nicht mehr genau, denn meine Erinnerung gleicht der Mehrdeutigkeit der Gefühle. Ich kann nicht wirklich erklären, was mich als Jugendlicher zu dieser Musik hingezogen hat, deren Texte eine Sehnsucht zum Ausdruck bringen, die in einem Moment die Brust weiten, sie im nächsten Moment der Vergeblichkeit schmerzhaft zusammenziehen. Es war wohl diese Sehnsucht, die ich gut kannte. Ich fühlte mich im Sound der Small Faces gut aufgehoben. All das ist lange her! Erwachsen geworden, frage ich mich, wo dieser Aufbruch über die Grenzen der Konvention hinweg geblieben ist. Es war ein eigenartiges Gefühl, als mir plötzlich bewusstwurde, dass nichts vorbei ist, und dass ich mich, als sei es erst gestern gewesen, an die Eindringlichkeit dieser Musik und ihre Botschaften erinnern kann.
Irgendwann war der Aufbruch vollzogen, die Musiker wurden erwachsen und verloren die prophetische Ausstrahlung ihres Songs Lazy Sunday Afternoon. In dem Jahr, als ich siebzehn war, und es richtig losging, wir die Beachtung bekamen, die an der Zeit war, zogen sich die Small Faces in die Privatheit zurück und schwärmten vom Müßiggang, zum Preis der Anpassung an die Konventionen:
But they make it very clear
They've got no room for ravers
They stop me from groovin'
They bang on me wall
They doing me crust in
Lazy Sunday afternoon
I've got no mind to worry
I close my eyes and drift away-a
Here we all are sittin' in a rainbow
I'll sing you a song with no words and no tune
Tweedle dee bite
Root-de-doo-de-doo, a-root-de-doot-de doy di
A-root-de doot de dum, a-ree-de-dee-de-doo dee
Doo, doo, doo
There's no one to hear me
There's nothing to say
And no one can stop me
From feeling this way, yeah
Lazy Sunday afternoon.
Die Jahre vergingen. Aus The Small Faces wurden The Faces. Gemeinsam wurden wir erwachsen. Nicht alle Konventionen konnten wir überwinden, und manch eine, die wir längst überwunden glaubten, kam plötzlich zurück. Viele Mitstreiter verloren sich unterwegs, andere suchten sich neue Wege, manche resignierten, wurden krank oder starben. Die Möglichkeit aber, sich jederzeit auf den Weg zu machen, gleichgültig, wohin er führt, hat überlebt. Eine der Botschaften der Small Faces hat die Zeit überdauert, eine, die damals richtig war, und es noch immer ist: I'll never close the door // To all these things and more.
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