Eigentlich hätte das hier ein düsteres Buch werden müssen.
Tatsächlich ist es eher eine Geschichte über Erlösung geworden.
Cal Flyn
Die Autorin und ihr Genre
Die Erzählung Verlassene Orte von Cal Flyn ist eine Empfehlung wert. Ihr ist ein Buch gelungen, das nur auf den ersten Blick ein Sachbuch zu sein scheint, das sich mit dem Phänomen der Lost Places beschäftigt, den Edgelands oder Drosscapes, sowie der Wiedereroberung von Landstrichen und Bauwerken durch die Natur.1 Verlassene Orte ist Cal Flyns zweites Buch, in dem sie an verschiedenen von Menschen verlassenen und von der Natur zurückeroberten Orten weltweit recherchiert und diese Regionen fast poetisch behandelt, wie die Sperrzone von Tschernobyl (Ukraine), Ruinenlandschaften in Detroit (USA) oder Industriebrachen im schottischen Hochland. Für ihre Erzählungen bereiste Cal Flyn ehemals stark genutzte oder besiedelte Orte auf der Welt, die heute entweder teilweise oder vollständig verlassen sind und in denen sich die Natur inzwischen ihren Platz zurückerobert hat. Reisen, das Pendeln zwischen Zivilisation und ihren Resten, den Lost Places in Cal Flyn Buch, ist eine Kontrasterfahrung.
Ohne das eigene Erleben in begehbaren Räumen ist man den medial vermittelten Bildern ausgeliefert. Virtuelle Realitäten werden nur im Gegenlicht von realen Erfahrungen produktiv. [...] Rare Momente, unvorhergesehen, unvorhersehbar. Das Ziel einer Wanderung ist nicht ein topographischer Punkt am Ende eines Weges, sondern der Augenblick, wo die Pforten der Wahrnehmung sich weit öffnen und man «eins wird mit dem Bild seiner Sehnsucht» (Cees Nooteboom).2
Von der Möglichkeit der Annäherung erzählt nicht nur Ulrich Grobers, sonders auch Cal Flyns Buch. Gleich zu Beginn, im Prolog Anrufung, ihres in vier Teile - In Absentia, Die Bleibenden, Der lange Schatten, Endspiel - gegliederten Buchs formuliert sie ihr narratives Programm:
In diesem Buch bereisen wir einige der unheimlichsten und menschenleersten Orte auf Erden. [...] Diesen ungleichen Orten ist gemein, dass der Mensch sie verlassen hat, sei es aufgrund von Krieg oder Katastrophen, Krankheit oder wirtschaftlichem Niedergang.
Ihr Buch handelt von der Natur, von jenen Landschaften an die keine Touristen freiwillig reisen würden, und an die auch die wahren Reisenden nur dann finden, wenn sie genau wissen, wohin sie sich wenden müssen. Diese Orte locken Cal Flyn, die
[...] vom Reiz des Ursprünglichen schwärmt. Das ist gewissermaßen der Not geschuldet. Weltweit können immer weniger Orte die Bezeichnung »unberührt« für sich beanspruchen.
Was mich interessiert, schreibt sie,
ist jedoch nicht der Nachglanz unberührter Natur, während sie hinter dem Horizont verschwindet, sondern der schmale Silberstreif am Himmel, der vielleicht von einem neuen Morgen kündet, einer neuen Wildnis, während weltweit immer mehr Land sich selbst überlassen wird. [...] Das Verlassen von Orten ist Rückverwilderung [Rewilding] im reinsten Wortsinn, da der Mensch sich zurückzieht und die Natur sich holt, was einst ihr gehörte.
Cal Flyns Landschaften sind Edgelands, Randgebiete, komplexe Landschaften, umstrittene Zonen, die sich im Zuge wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen ständig neu erfinden. Es sind Rückzugsgebiete der Natur - für Fauna und Flora - im oft urban-nahen Raum: Edgelands are always on the move. In our own lifetimes, we’ve noticed how they have changed, largely as a result of the big push for the motorways and the rise of out-of-town shopping, as retailers shifted their operations to the huge floor space and parking opportunities available on the margins of our cities.3
Edgelands sind wohl die seltensten, oft irritierende Orte der Welt, die Reisende besuchen können: geheime, unbestimmte Räume in Städten, wilde Plätze, verlorene Regionen, vergessene Inseln, als wertlos angesehene Resträume, tote Zonen, namenlose Orte, doch nur scheinbar leere Räume, Schwellenröume, urbane Leerstelle. Sich immer wieder neu bildende Abfalllandschaften, Etappen im ökonomischen Ablauf, innerstädtische Industriereviere und Investitionsruinen im Umland, Abfallprodukt nicht mehr funktionierender wirtschaftlicher und industrieller Prozesse: die Verschwendung des öffentlichen Raums. Der französische Ethnologe Marc Augé spricht von Nicht-Orten, von Übergangs- oder Grenzzonen, eine sich selbst überlassene Mischung von Urbanem und Natürlichem, die er als unkultivierte Landstriche und verwilderte Parzellen beschreibt, aber auch als Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen, Einkaufszentren, Durchgangslager und Slums, an denen sich die meisten nicht gerne aufhalten.4 Nicht-Orte besitzen in der Wahrnehmung der meisten Menschen eine negative Aura. Aufgrund ihrer Qualität gehören sie nicht ganz in ihre Welt, denn ihrem Zustand haftet etwas Fremdes an, etwas Nicht-Zugehöriges, und deshalb Beunruhigendes. Nicht-Orte sind eine Negation der Orte, an denen Menschen leben und handeln. Cal Flyn zeigt uns aber, was diese Orte auch und mehr sind, und warum wir sie mögen können. Sie zeigt uns ihr Transformationspotenzial und die scheinbar unerschöpfliche Resilienz der Natur. In ihrem Buch widmet sie jedes Kapitel einem anderen Lost Place, darunter eine Halbinsel in Schottland, verlassenen Kolonien auf einem sibirischen Archipel und die verwilderte, sich selbst re-saturierte Sperrzone von Tschernobyl.
Cal Flyn beschreibt nicht nur die geografischen und historischen Hintergründe, sondern zeigt auch, wie sich Flora und Fauna langsam in die post-urbanen und industriellen Ruinen und Edgelands zurückziehen und dabei neue Landschaften schaffen, die sich in neue Lebensräume transformieren. Durch ihre minutiösen Beobachtungen und ihren detaillierten Erzählstil lenkt sie die Aufmerksamkeit der Leser*innen
- auf die Verwüstungen, die Menschen durch die Industrialisierung von Landschaft hinterlassen haben, sowie
- auf die langsame, zähe Rückkehr der Natur.
Das Wiederaufleben der Natur an diesen verlassenen Orten wirkt wie eine Art Reparaturprozess, in dem sich Tier- und Pflanzenarten neue Nischen schaffen und überleben, auch wenn die Spuren menschlichen Eingriffs noch eine lange Zeit überdauern. Die Rückkehr einzelner Spezies, die in dicht besiedelten Gegenden kaum noch eine Überlebenschance haben, finden in diesen vom Menschen ausgebeuteten und als vermeintlich »leer« zurückgelassenen Edgelands für ihr Überleben ungestörte Habitate. In den für menschliches Leben nicht mehr geeigneten, radioaktiven Landschaften Tschernobyls entdeckt die Autorin eine erstaunliche Vielfalt an Wildtieren, die sich innerhalb der menschenleeren Zone wieder angesiedelt haben. Auf seinem Weg von Berlin nach Moskau, auf den Spuren Napoleons, der SS und der Heeresgruppe Mitte, besuchte auch der Spiegel-Reporter Wolfgang Büscher Tschernobyl, die Zone, wie er schreibt, die ihn an Andrei Tarkowskis Film Stalker erinnert. Ihn begleitet ein Guide, den er Myschkin nennt, wie den Fürsten bei Dostojewski, und fragt ihn, ob das Gerücht stimmte, in der Zone wüchsen monströse Pflanzen und Pilze. Er lächelte. Nein, nein, es sei nur so, dass sich die wilden Tiere stark vermehrten. Seit dort keine Menschen mehr leben, gebe es starke Populationen.5
Ähnliche Phänomene beschreibt Cal Flyn in verwaisten Städten in den USA und in Ruinen im europäischen Raum. Dabei macht sie die Leser*innen immer wieder auf das Gleichgewicht der Natur aufmerksam und wie es durch menschliche Eingriffe aus dem Gleichgewicht gerät. Zugleich begeistert sie die bemerkenswerte Resilienz der Natur, sich aus eigener Kraft von diesen verheerendsten Umwälzungen zu erholen. Die Verlassenen Orte, die sie besucht hat, zeigen uns, schreibt sie,
dass die Natur überall, ganz gleich wie groß die Zerstörung ist, einen Weg findet, aber auch, dass der menschliche Einfluss auf Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte wie ein Schatten auf diesen nicht mehr genutzten Flächen liegen wird.
Cal Flyns Perspektive stellt eine Mischung aus wissenschaftlicher Betrachtung, persönlicher Reflexion und einer fast poetischen Wahrnehmung des Verfalls dar. Sie lässt Raum für Melancholie, wenn sie die verlorenen Spuren menschlichen Daseins nachzeichnet, und gleichzeitig vermittelt sie eine tiefe Ehrfurcht vor der Natur und ihrer Fähigkeit zur Selbstheilung, die ohne den Menschen am besten gelingt. Das zumindest zeigen Cal Flyns Erzählungen. Ob es soweit kommt, sich unser Planet erst von Menschen leeren muss, damit die Natur heilt, hängt davon ab, ob wir der Natur mit dem angemessenen Respekt begegnen: Die Weigerung, mitzumachen, ist eine moralische Entscheidung, erklärt Robin Wall Kimmerer in ihrem Manifest eines anderen Umgangs mit der Natur, Geflochtenes Süßgras, das auf der Weltanschauung der amerikanischen Ureinwohner basiert:
Was einem passiert, passiert uns allen. Wir können zusammen hungern oder zusammen prassen. Alles Gedeihen beruht auf Gegenseitigkeit.6
Nature Writing - ein ökotopischer Weckruf
Nature Writing ist ein literarisches Genre, das die Natur und die menschliche Beziehung zu ihr in den Mittelpunkt stellt. Die Autor*innen kombinieren Elemente von Essay, Memoir, Sachbuch und Literatur und behandeln Themen wie die Schönheit und Komplexität der natürlichen Welt, Umweltschutz, Nachhaltigkeit oder die spirituelle und philosophische Bedeutung der Natur. Nature Writing bewegt sich auf der Grenze zwischen
- Erlebnissen in der Natur, persönlichen und philosophischen Reflexionen wie der Mensch mit der Natur verbunden ist oder welche Auswirkungen menschliche Eingriffe auf die Umwelt haben;
- poetischen Darstellungen von Landschaften, Tieren, Pflanzen und natürlichen Phänomenen;
- Wissenschaft, Kunst und Geschichte, um ein umfassenderes Verständnis der Natur zu ermöglichen;
- ökologische Betrachtungen mit einem Engagement für ökologische Themen.
Viele Erzählungen des Genres sind durch Umweltschutzgedanken geprägt, einem Aufruf zu Nachhaltigkeit und der Dokumentation der Zerstörung natürlicher Lebensräume. Als Genre hat sich Nature Writing in den letzten zwanzig Jahren auch im deutschsprachigen Raum zu einem wichtigen Genre entwickelt und einen bedeutenden Aufschwung erlebt; besonders durch das zunehmende Bewusstsein für Klimawandel, Umweltzerstörung und die heilende Kraft der Natur.
Autoren wie Cal Flyn, Robin Wall Kimmerer, Ulrich Grober, Robert Macfarlane und Richard Powers haben daran einen großen Anteil, indem sie ökologische Themen mit persönlichen Geschichten und poetischen Beschreibungen der Natur verknüpfen. Sie verfolgen mit ihren Erzählungen, denn das sind ihre Texte, und nicht einfach Reportagen, das Ziel, uns an unsere Verantwortung für den Planeten Erde zu erinnern, und äußern, wie Cal Flyn die Hoffnung, dass die Menschheit in der Lage ist umzukehren.
Wir haben uns in die DNA dieses Planeten eingeschrieben, die Erde selbst mit der Menschheitsgeschichte durchzogen. Jeder Lebensraum enthält Rückstände seiner Vergangenheit. Jedes Waldgebiet ist ein Memoir aus Blättern und Mikroben, die sein »ökologisches Gedächtnis« bilden. Wir können lernen, es zu lesen und in der Welt, die uns umgibt, die Geschichte ihrer Entwicklung erkennen.
Die Erzählerin Cal Flyn
Cal Flyns Erzählstil ist eine Mischung aus naturwissenschaftlichem Interesse, poetischer Beschreibung und tiefgreifender Reflexion. Ihre Prosa ist bildhaft und detailreich, sodass die Leser*innen sich die von ihr besuchten Orte lebhaft vorstellen können. Was mich interessiert, schreibt sie,
ist jedoch nicht der Nachglanz unberührter Natur, während sie hinter dem Horizont verschwindet, sondern der schmale Silberstreif am Himmel, der vielleicht von einem neuen Morgen kündet, einer neuen Wildnis, während weltweit immer mehr Land sich selbst überlassen wird. [...] Das Verlassen von Orten ist Rückverwilderung [Rewilding] im reinsten Wortsinn, da der Mensch sich zurückzieht und die Natur sich holt, was einst ihr gehörte.
Ihren Stil bestimmt eine beeindruckende Balance zwischen nüchternen Fakten und lyrischen Beschreibungen der Orte, die sie in ihr Buch aufgenommen hat. Die poetische Qualität ihrer Sprache spiegelt die Schönheit und das Grauen gleichermaßen wider, die in den verfallenden und von der Natur zurückeroberten Orten liegen. Ihre Erzählweise lebt von der akribisch beobachteten Polarität von Vergänglichkeit und Erneuerung, die die subtile Spannung ihrer Erzähltexte erzeugt, die das eine Mal faktual, dann wieder fiktional wirken. Vielleicht beschreibt fiktionalisiert die eigentümliche Atmosphäre ihrer Reportagen noch am besten.
In diesem Kontext ist Cal Flyn nicht nur eine autodiegetische Erzählerin, die die Lost Places, die sie besucht, aus ihrer eigenen Perspektive beschreibt, und mit ihren eigenen Eindrücken und Emotionen subjektiv ausschmückt. Ihre Autodiegetik wird noch verstärkt, indem sie ihre persönlichen Beobachtungen und Reflexionen über die Orte in ihre Texte einfließen lässt, womit sie ihre Leser*innen in ihr unmittelbares Erleben einbindet. Andererseits berichtet sie aus einer extradiegetischen Perspektive, entlässt dazu ihr erlebendes Ich aus der Erzählung, und orientiert sich faktisch an wissenschaftlichen Daten. Immer wieder wechselt Cal Flyn zwischen diesen beiden Erzählperspektiven, ist das eine Mal Teil der erzählten Welt und schildert ihre Erlebnisse und Erfahrungen aus ihrer subjektiven Perspektive. Dann wieder beschreibt sie die Orte, an denen sie sich befindet, in einer distanzierten Sicht, und referiert wissenschaftliche und historische Fakten. Durch diesen narrativen Perspektivenwechsel integriert sie ihre persönlichen Erfahrungen und Reflexionen mit wissenschaftlicher Beobachtung und verleiht der Erzählung damit Tiefe und Authentizität.
Als Erzählerin ist sie reflexiv und analytisch. Sie akzentuiert, kommentiert, erklärt und bewertet die Szenerien, die sie beschreibt. In diesen Passagen repräsentiert sie Gérard Genettes kommentierende Erzählinstanz, die im Erzähltext eine erklärende und zugleich wertende Funktion einnimmt. Die subjektive Erzählhaltung (Reflexion und Bewertung) der Autorin äußert sich in einer persönlichen Beziehung zu den Lost Places, von denen sie erzählt, was den Leser*innen das Ausmaß und die Bedeutung der natürlichen Wiederaneignung vermittelt. Gleichzeitig behält sie eine kritische Distanz und erklärt ökologische und geschichtliche Details (Beschreibung und Information), was ihre Erzählung bereichert und sie dem Sachbuch annähert.
Cal Flyn verzichtet ganz auf rührselige Sentimentalitäten, schildert was sie sieht, wie es ist. Obwohl sie die Zerstörungen, die der Mensch verursacht hat, detailliert darstellt, betont sie das Potenzial der Natur, sich aus eigenem Antrieb zu regenerieren. Sie stellt die Natur als autonome Kraft dar, wie sie sich vom menschlichem Handeln losgelöst weiterentwickelt. Ihr narrativer Fokus liegt auf dem Zusammenspiel von Zeit und Natur. Die Randgebiete ihrer Erzähltexte formen sich auf beinahe drastische Weise neu, wenn der Mensch als aktiver Gestalter fehlt.
Ein bedeutsamer Aspekt ihres Erzählstils ist ihre personalisierte Reflexion. Obwohl die Autorin in einem dokumentarischen Reportagestil schreibt, stellt sie häufig ihre eigenen Gefühle und Gedanken zu den Orten dar, die sie besucht hat. Dadurch gewinnen die Leser*innen Einblicke in ihre Faszination für die Thematik und werden gleichzeitig angeregt, über das Verhältnis des Menschen zur Natur und dessen Verantwortung für sie nachzudenken. Sie schreibt Erzählungen darüber,
dass es an einem bis zur Unkenntlichkeit veränderten Ort, wo jede Hoffnung verloren scheint, vielleicht doch noch Potenzial für eine andere Form von Leben gibt.
Ihre Erzählperspektive schwankt zwischen sachlich und emotional, was die Brisanz der ökologischen Themen eindrucksvoll unterstreicht und die Leser*innen geradezu in die Reflexion über ihre eigene Beziehung zu ihrer Umwelt zwingt.
Tiefe, flaschengrüne Teiche hatten sich unten an den Hängen gesammelt, am Fuß jeder Senke und jeder Mulde, die sich im faltigen Relief der Halde geformt hatte, ihre Umrisse zeichneten sich im Giftgrün des Laichkrauts und der haarfeinen Gräser ab, mit denen das seichte Wasser durchsetzt war. Seerosen lugten über die Wasseroberfläche, auf der winzige Insekten vorbeiglitten. Spindeldürre, seidig-glänzende Birken sprossen mit unwahrscheinlichem Elan aus ihrem Schotterbett und trugen Knospen winziger neuer Blätter.
Und gleich darauf wechselt sie ihren Stil, und referiert wissenschaftliche Forschung, wenn sie von fünf Gipfeln erzählt, den Five Sisters, aus roségoldenem Schutt, durch Gras und Moos miteinander verbunden, die sie an Marslandschaften erinnern, eine Landschaft von beinahe unglaublicher Seltsamkeit, in der sie sich wie Pioniere auf einem unbekannten Planeten vorkamen. Bei dieser Landschaft handelt es sich um Schlackenhalden (bings) im schottischen West Lothian, die sie mit ihrem Lebengefährten bestieg:
Im Jahr 2004 hatte die Ökologin Barbra Harvie die Flora und Fauna der Bings untersucht und zur allgemeinen Überraschung herausgefunden, dass sie sich unbemerkt zu einem Hotspot der Tier- und Pflanzenwelt entwickelt hatten. Sie prägte dafür den Begriff »Inselrefugialräume«: kleine verwilderte Inseln in einer von Landwirtschaft und Städtebau geprägten Umgebung.
Cal Flynns erzählerischer Stil priorisiert eine deutlich aufklärerische Komponente. Immer wieder betont sie, dass die Rückkehr der Natur an diesen Orten auch als Warnung und Chance gesehen werden kann. Indem sie zeigt, wie sich Ökosysteme entwickeln, wenn der menschliche Einfluss schwindet, eröffnet sie eine kritische Perspektive auf das menschliche Handeln und seine langfristigen Folgen für die Umwelt. Die Verlassenheit und Abgeschiedenheit dieser Orte und deren langsame, natürliche Rückkehr zu einem ausgeglichenen Ökosystem bieten eine Art Labor für die Beobachtung von Prozessen, die andernorts aufgrund menschlicher Dominanz nicht mehr sichtbar sind.
Auf ihrer Reise zu den ausgewählten Lost Places führt Cal Flyn ihre Leser*innen durch ein bewegendes, informatives Leseerlebnis. Sie zeigt ihnen die Schönheit und den Schrecken von Schwellenräumen, und dass die Natur immer einen Weg findet, sich anzupassen und zu erneuern, was dem Menschen als einem Teil von ihr nur bedingt möglich ist. Beeindruckend und nachdenklich verdeutlicht sie die Zerbrechlichkeit menschlicher Zivilisationen und die Widerstandskraft der Natur. Cal Flyn regt dazu an, die vom Menschen geschaffenen Veränderungen kritischer zu reflektieren. Zugleich hegt sie die Hoffnung, dass eine harmonischere Zukunft zwischen Mensch und Natur doch noch möglich ist.
Leseliste Nature Writing
Es gibt sicherlich viele verschiedene Möglichkeiten eine Bibliographie des Nature Writing zusammenzustellen, und wahrscheinlich ist die eine so gut wie die andere. Welche Autor*innen mit ihren Erzählungen, und ich habe nur eine Auswahl ihrer Veröffentlichungen aufgenommen, in ihnen einen Platz finden, entspricht mit Sicherheit persönlichen Vorlieben. Einige Bücher der letzten beiden Jahrzehnte, denn Nature Writing ist noch ein vergleichsweise junges Genre, sollten aber auf jeden Fall in jeder Bibliographie zu finden sein:
Ulrich Grober ist Pionier des Nature Writing im deutschsprachigen Raum, insbesondere im Hinblick auf den Begriff der Nachhaltigkeit. Seine Werke verbinden Umweltthemen, Kulturgeschichte und die Suche nach einer nachhaltigeren Lebensweise (Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst, Hamburg, 2011; Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München, 2013; Der leise Atem der Zukunft. Vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Krise, München, 2018).
Robin Wall Kimmerer ist für ihre Kombination aus biologischer Forschung und indigenem Wissen bekannt, die ihre Leser*innen auffordert, Natur als lebendiges Gegenüber wahrzunehmen und in einer Beziehung der Fürsorge mit ihr zu leben (Gathering Moss. A Natural and Cultural History of Mosses, Oregon State University, 2003; Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen, Berlin, 2021).
Bei Richard Powers kommt die Stimme der Natur selbst zu Wort. Es zeigt die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Umwelt und ruft zur Bewahrung und Wertschätzung der Natur auf, indem es die zerstörerischen Folgen menschlicher Eingriffe an fiktiven Biografien von Figuren aufzeigt, die, mit dem destruktiven Umgang mit der Natur konfrontiert, nicht anders können, als sich zu widersetzten (Die Wurzeln des Lebens, Frankreich a.M., 2019; Das Große Spiel, München, 2024).
Judith Schalansky thematisiert verlorene oder untergegangene Orte und Dinge, mit einer starken Verbindung zur Natur und den Auswirkungen menschlicher Eingriffe auf diese. Sie beschreibt reale und fiktive Landschaften, die verschwunden sind, und verbindet so Naturbetrachtung mit Kulturgeschichte (Verzeichnis einiger Verluste, Hamburg, 2018).
Robert Macfarlane ist einer der führenden Nature-Writing-Autor*innen, der über Landschaften, Sprache und die Beziehung des Menschen zur Natur schreibt. Seine Erzählungen erkunden das Zusammenspiel von Geografie, Geschichte und menschlichem Erleben in natürlichen Umgebungen. Macfarlanes Schreibstil zeichnet sich durch eine lyrische Sprache und philosophische Tiefe aus, wobei er oft die Schönheit und das Geheimnisvolle der Natur betont (Karte der Wildnis, Berlin, 2015; Alte Wege, Berlin, 2016; Unterland. Eine Entdeckungsreise in die Welt inter der Erde, München, 2020; Berge im Kopf. Geschichte einer Faszination, Berlin, 2022).
Anna Lowenhaupt Tsing verbindet interdisziplinär Anthropologie, Ökologie und Wirtschaftskritik. Bekannt ist sie besonders für ihre Arbeiten zu Anthropozän-Theorien, Umweltzerstörung und alternativen Lebensformen in Zeiten ökologischer Krisen. Ihr Schreibstil ist reflektiert und komplex, und sie hinterfragt westliche Annahmen über Fortschritt und Wachstum, indem sie sich auf das Potenzial von Gemeinschaften und Koexistenz konzentriert. Mit ihrer Arbeit regt sie zu neuen Denkweisen an, die menschliches Handeln in ökologischen Krisenzeiten kritisch hinterfragen und auf die Verflechtung von Mensch und Natur hinweisen (Arts of Living on a Damaged Planet. Ghosts and Monsters of the Anthropocene (ed.), The University of Minnesota Press, 2017; Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin, 2020).
Barry Lopez` Erzählungen sind geprägt von einem ethischen Engagement für den Schutz der Umwelt und der Würde indigener Kulturen. Sein Stil kombiniert wissenschaftliche Genauigkeit mit erzählerischer Tiefe und philosophischer Reflexion. Seine tiefgründigen und poetischen Erzählungen über die Beziehung zwischen Mensch und Natur gelten als Schlüsseltexte des Nature Writing, die die Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur eindringlich ins Bewusstsein rufen (Arktische Träume, Düsseldorf, 1987; Crossing Open Ground. Essays, New York, 2013).
Helen Macdonald erzählt in ihrem preisgekröntes Memoir von einer persönlichen Reflexion über Trauer und Heilung, verwoben mit der Geschichte ihrer Beziehung zu einem Habicht, den sie trainiert. Ihr Buch ist ein herausragendes Beispiel für modernes Nature Writing, das sowohl persönliche als auch ökologische Dimensionen erforscht. Es zeigt, wie Naturbeobachtung und -erfahrung zu persönlichem Wachstum beitragen können (H wie Habicht, Berlin, 2016).
Roger Deakin, Pionier eines persönlichen, immersiven Nature Writing, wird allgemein für sein einfühlsames und originelles Erzählen geschätzt. Sein Schreibstil ist lyrisch und zugleich humorvoll, voller Neugier und Sensibilität für die kleinen Details und Eigenheiten der Natur. Seine Arbeit ist geprägt von einem tiefen Respekt für das Leben in all seinen Formen und vermittelt ein starkes ökologisches Bewusstsein. Deakins Zusammenarbeit mit Robert Macfarlane führte zu den schönsten modernen Naturbeschreibungen. Sein persönlicher Memoirstil lädt geradezu ein, Natur direkt und unverfälscht zu erleben (Logbuch eines Schwimmers, Berlin, 2015; Wilde Wälder, Berlin, 2018).
George Monbiot argumentiert für die Rewilding-Bewegung, die darauf abzielt, große Gebiete der Erde wieder der Natur zu überlassen, um den ökologischen Schaden der Industrialisierung zu beheben. Seine Erzählungen vermitteln persönliche Erfahrungen und wissenschaftliche Überlegungen zum Thema Naturschutz. Er stellt die Forderung nach ökologischer Regeneration und einem neuen Verständnis unserer Beziehung zur Natur ins Zentrum seiner Arbeit (Feral: Rewilding the Land, the Sea, and Human Life, 2013).
Anmerkungen
1 Cal Flyn schreibt nicht-fiktionale Reportagen, Erzähltexte, die am ehesten Nature Writing sind. Sie besitzt einen MA in experimenteller Psychologie und arbeitete anschließend als Reporterin für The Sunday Times und The Daily Telegraph. 2012 gab sie ihren Job auf, um in einem Hundeschlittenzwinger im finnischen Lappland zu arbeiten. Sie ist stellvertretende Herausgeberin der Website Five Books [Books by Cal Flyn - Five Books Expert Recommendations] mit Literaturempfehlungen. 2019 wurde sie zum MacDowell Fellow und 2022 von The Sunday Times zur Young Writer of the Year ernannt. Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt, Berlin, 2023 (engl. Orig. Islands of Abandonment: Life in the Post-Human Landscape, London, 2021) ist ihr zweites Buch. In ihrem ersten Buch erzählt sie die Geschichte eines entfernten Verwandten, Angus McMillan, vermutlich einer der Anführer der Massaker an den Ureinwohnern der Gunaikurnai in Gippsland, einer ländlich geprägten Region im australischen Staat Victoria (Thicker Than Water: History, Secrets and Guilt: A Memoir, London, 2016).
2 Ulrich Grober, Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst, Hamburg, 2011:6; 9.
3 Paul Farley und Michael Symmons Roberts, Edgelands. Journeys into England`s True Wilderness, London, 2011:6.
4 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M., 1994:44ff.
5 Wolfgang Büscher, Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß, Hamburg, 2016:111; 113.
6 Robin Wall Kimmerer, Geflochtenes Süßgras Die Weisheit der Pflanzen, Ebook, Berlin, 2021, Pos. 348; 387; 638.
Copyright 2024. All Rights Reserved
Verlassene Orte ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen