Die Welt ist voller offensichtlicher Dinge,
die nie jemand wahrnimmt.
Arthur Conan Doyle
Dem Regionalzug nach Pamplona fehlen die Fahrgäste. Mein Abteil ist fast leer. Dafür habe ich endlich Raum genug, freie Platzwahl, und muss mich nicht drängeln. Verlassene Landbahnhöfe folgen aufeinander. Casetas, Cabañas de Ebro, Pedrola, Gallur, unmerklich, der Übergang von Catalonia nach Navarra, Cortes de Navarra, Ribaforada, Tudela de Navarra, Castejón de Ebro, Villafranca de Navarra, Marcilla de Navarra, Tafalla, Pamplona / Ituña Estación. Die meisten von ihnen vernachlässigt und altersschwach. Defekte Uhren die irgendwann aufgegeben haben. Die Zeit erstarrt.
Gemächlich gleitet der Zug durch die katalanische Landschaft. Die Fenster sind zur Hälfte mit Graffiti bedeckt. Schwarze, rote und grüne Spitzen, die etwas Scharfes, Stechendes haben. Trotzdem gelangt mein Blick nach draußen. Die Landschaft, die vorüberzieht wie auf einem Schirm, ist trocken. Ein mattes Grün, sandbraun gefleckt. Unter einem bleigrauen Himmel macht das Land einen verschmutzten Eindruck. In der Ferne Hügel, eine Barriere, unüberschaubar. Wie wohl das Land auf der anderen Seite aussieht? Nichts lädt mich zum Wandern ein.
Die Häuser an der Bahnstrecke sind meist eingeschossig, flach, die Fassaden verblasst, schmutzig, ockerfarben, die Dachziegel rot gebrannt. Ein Hauch von Mexiko liegt in der Luft. Es ist, als ob der Zug die Menschen meidet. Gelegentlich Landwirtschaft, das eine oder andere Gewächshaus, schwarze Folientunnel auf Feldern. Einmal ziehen kahle Weinstöcke einen Hang hinauf, während in der Extremadura die Weinstöcke schon Ende April ausschlagen. Gegenüber ein einsamer Berg, in Wald gekleidet, mit spitzem, nacktem Gipfel aus grauem, kantigem Gestein. Auf einem anderen Hügel die Ruine eines Kastells vor der Kulisse eines Steinbruchs. Dazwischen Windparks, ausgedehnte Sonnenkollektorenparks, die auf Felder gepflanzt sind, wo früher Nahrung wuchs. Kein Vieh, keine Herden auf Weiden. Wo sind die Bauern? Vielleicht bevölkern sie die Fabrikhallen neben den Gleisen. Plötzlich ein Rapsfeld, eine gelbgrüne Fläche, die dem Auge guttut. Daneben weitere Reihen schwarze Folie auf trockener, brauner Erde. Eine langweilige Landschaft. Nichts fesselt meinen Blick.
Überall Industrieanlagen, die verschweigen, was produziert wird. Sie verströmen die Aura von Lost Places. Edgelands. Nirgendwo Aktivität auf den Geländen der Industrie, solitäre Fabriken, verstaubte Oasen, Zerrbilder des 20. Jahrhunderts in der leeren Landschaft. Es wundert mich, dass in dieser Monotonie überhaupt Menschen den Zug verlassen. Ich glaube, ich käme nicht auf die Idee. Aus dem Zugfenster wirkt mir die Luft zu staubig. Ich denke an das Intro von Spiel mir das Lied vom Tod, so einsam sind die Bahnsteige. Tudela de Navarra, ein voller Bahnsteig. Plötzlich sind alle Sitze im Waggon besetzt.
Aber ich weiß, ich tue der Landschaft unrecht. An einem anderen Tag wäre es ein anderes Land gewesen. Vielleicht wirkt das Land nur deshalb so verloren, weil ich mich selbst verloren fühle. Der erste Tag einer Reise, die Anreise ist ein Übergang, liminal zwischen Heimat und Fremde.
Je tiefer ich mit dem Zug nordwärts in Navarra eindringe, desto grüner und abwechslungsreicher wird die Landschaft. Es wird hügeliger, ein gewelltes Land. Ginster blüht an den Hängen, am Gleis kontrastiert kilometerweit roter Klatschmohn das kräftig gewordene Grün. Dunkelgraue Wolken hängen regenschwer am Himmel, drohen sich zu entladen. Eine Bogenbrücke überquert bei Andelos (Andión) die Bahngleise. Ein restaurierter römischer Aquädukt - sistema hidráulico romano - des ersten vorchristlichen Jahrhunderts wie ich später im Museo de Navarra erfahre. Der Zug fährt zu schnell, um all die Bögen zu zählen, vielleicht sind es hundert. Sie beginnen niedrig, werden immer höher, um am gegenüberliegenden Ende wieder so niedrig zu werden wie zuvor.
María, meine Gastgeberin ist eine freundliche, ältere Señora, Krankenschwester in Rente, leutselig und gesprächig, deren Tempo mein bisschen Spanisch arg strapaziert. Auf einer umständlichen Führung durch ihre Wohnung erklärt sie mir die Regeln des Zusammenlebens, als käme ich vom Mars und nicht aus Deutschland, wo der Schlüssel auch nach links gedreht wird, um eine Tür zu öffnen. Sie kann nicht verstehen, dass ich drei Tage in der Stadt bleiben will, und schüttelt den Kopf über so viel Unvernunft. Pamplona está pequena. No puedo hacer mucho aqui - Pamplona ist klein. Viel kann man hier nicht machen - behauptet sie mit Nachdruck. Aber sie kennt weder mich noch meine Lust am Flanieren. Und Pamplona ist eine moderne Stadt, in deren Zwischenräumen die Spuren der Jahrhunderte überdauern. Irre ich mich, kommt es mir nur so vor, dass die großen spanischen Städte, in denen sich Antikes und Modernes so unaufgeregt mischen, fußgängerfreundlicher sind als ihre deutschen Geschwister?
Wenn ich in eine neue Stadt komme, tauche ich tief in ihr Innerstes ein. Ich lasse mich durch die Straßen und Gassen treiben, flaniere zwischen den Passanten umher, schaue mich um, beobachte, frage. Ich suche nach den vielen interessanten Möglichkeiten, den unverhofften Blicken und den spannenden Ereignissen. Wie Baudelaire möchte ich ein Botaniker des Gehsteigs sein, Gärtner des mir Zufallenden, und wie Cees Nooteboom ein Chronist des Vorübergehens. Für mich sind Gehen und Schreiben der gleiche Prozess. Zu Fuß allein unterwegs sein, ohne ein Gespräch zu führen. Der innere Monolog, der sich mitunter wie ein Dialog mit mir selbst gebärdet, führt zu einem unkontrollierten Fluss von Gedanken und Gefühlen. Mir scheint es eine Ewigkeit her zu sein, als ich ein Kind war, von Schule und fremdbestimmtem Lernen weit entfernt, als ich nichts anderes begehrte als das, was sich jeden Moment aus meinem Spiel ergab. Ob darüber hinaus etwas wichtig war, so wie später, als ich mir und meiner Welt immer bewusster wurde? Ich weiß es nicht, weil ich es damals vielleicht empfinden, aber nicht ausdrücken konnte. Mein Leben muss sich wie selbstverständlich im Hier und Jetzt bewegt haben.
Wer durch eine Stadt wandert, geht mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in ihr. Die Erfahrung urbanen Wanderns fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen. Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
Ich war nicht immer ein Flaneur, jemand, der umherschlendert, der das planlose Zu-Fuß-Gehen genießt, sich umschaut, immer wieder stehen bleibt, und in den Anblick, der sich ihm bietet, versinkt, ihm die sinnliche Essenz abgewinnt. Es gab eine Zeit, da war ich nicht einmal ein Wanderer, aber immer ein Reisender.
Flanieren ist etwas für sehr geruhsame Leute, für Spaziergänger und Wanderer, die Zeit zu verlieren haben. Das französische Verb flâner, spazieren, entstand in seiner heutigen Bedeutung im 19. Jahrhundert. Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und E.T.A. Hoffmann gebührt die literarische Ehre, Erfinder des Flaneurs zu sein, damals, als die ersten Millionenstädte - London 1810, Paris 1850, Berlin folgte 1870 - entstanden. Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, schreibt Walter Benjamin, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Flanieren ist eine Lebensart, richtig betrieben wird sie zur Lebenskunst, fördert Selbstbestimmung und Selbst-Vergewisserung und transformiert sie in Szenen schlichter Alltäglichkeit.
Die Plaza del Castillo ist ein rechteckiger, ausgedehnter Platz im Zentrum der Altstadt, umgeben von fünfgeschossigen, historischen Gebäuden, auf die mehrere, schattige Gassen der Altstadt wie Bäche in einen See münden. Mit Fliesen ausgelegt, ein Pavillon in der Mitte, an den Rändern Bänke und Blumenrabatten. Es ist Sonntagmittag. Wie überall flanieren auch auf der Plaza del Castillo Familien mit Kindern und Paare, zum sonntäglichen Parcours herausgeputzt. Seit langem bin ich dem Charme und der magischen Atmosphäre spanischer Altstädte erlegen.
Eine schwarze, mannshohe Skulptur bewacht den Eingang der Plaza. Sie erinnert die Passanten an Carlos III. Navarra, den die Spanier El Noble, den Edelmütigen nennen, weil er 1423 die miteinander verfeindeten Gemeinden zur Stadt Pamplona vereinte. Zusammen mit seiner Frau Leonor ruht er seitdem in einem prächtigen Sarkophag in der Catedral Santa María la Real.
Als ich aus der engen, überfüllten Calle de San Nicolás den Platz erreiche, liegt die Plaza del Castillo in der Mittagssonne. Ich bin auf dem Weg in meine neue Unterkunft, nach Mendillorri, in einen der Randbezirke der Stadt, weil ich es bei María, die mich seit Tagen kontrolliert, nicht mehr aushalte. Ich will die Wartezeit bis zum Einchecken auf einer der Bänke auf der Plaza verbringen, entscheide mich aber ins Café Iruña einzukehren, wo Hemingway seine Tage verbrachte, wenn er in Pamplona war.
Pamplona ist auch die Stadt Hemingways und seines unvergessen Romans The Sun Also Rises (1926), der in Deutschland unter dem Titel Fiesta bekannt geworden ist. Auch Pamplona hat Hemingway nicht vergessen. Nebenan die Bar El Rincón de Hemingway, die erst am späten Nachmittag öffnet. Hemingway ist noch nicht aufgewacht. Die Jalousien zu His Place sind noch heruntergelassen.
Die Gäste drängen sich an Hemingways Lieblingsort, dem Café Iruña, wo er jedes Mal logierte, wenn er in der Stadt war. Unter der Markise warten potenzielle Gäste in der vergeblichen Hoffnung, doch noch einen Platz zu ergattern. An den Tischen im Café-Restaurant herrscht Hochbetrieb. Essenszeit. In Spanien immer und überall eine Gelegenheit zu geselligem Beisammensein. Laut und hektisch. Trotzdem will ich es nicht versäumen, dem berühmten Liebhaber Pamplonas die Ehre zu geben. Der letzte freie Stuhl steht an einem kleinen, noch nicht abgeräumten Tisch im Schatten einer der Säulen, wo mich die herumwuselnden Kellner geflissentlich übersehen. Allein einen Platz in der Menge zu bekommen, ist nie schwer. Ich ergattere einen Platz im historischen Ambiente. Opulente Deckenleuchten werfen ihr gedimmtes Licht über eine lebensfroh gestimmte Gesellschaft. Ich fühle mit wie auf einer Feier. Fiesta-Stimmung. Eine Festgesellschaft. Gedränge am historischen Ort, an dem ich mir wie eine kuriose Singularität verkomme. Es fällt mir schwer, Einzelne oder Gruppen aus dem in allen Tonlagen kommunizierenden Gemenge herauszulösen.
Wer kein Literat oder gar bibliophil ist, und nicht weiß, wo er sich befindet, übersieht leicht die Bedeutung des Orts. Dennoch schwitzt das Café Iruńa Geschichte aus. Nicht nur die Architektur der Fassade ist ein Kunstwerk, wie es heutzutage niemand mehr gestaltet. Das Innere ist mondän, ein eleganter Saal. Im Zentrum eine quadratische Pergola auf Säulen, oben mit Plastikfarn dekoriert. Lüster mit Kugelleuchten werfen dezentes Licht auf die Tischplatten aus Resopal, die den weißen Marmor imitieren. Dunkelbraune Holzstühle á la Thonet, mit geschwungenen Lehnen, eng aufgereiht entlang der Tische, elegante Sitzmöbel schlichten Designs, die der Kunsttischlers Michael Thonet zum ersten Mal Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner Werkstatt in Boppard am Rhein herstellte. Mir gefällt die Vorstellung, auf einem der Stühle zu sitzen, wo Hemingway seine Reportagen über den spanischen Bürgerkrieg schrieb, den er als Reporter begleitete. Eine Fantasie meiner Gehirnwindungen, smoke rings of my mind, wie Bob Dylan sie im Tambourine Man poetisch nennt. Hemingway war während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) als Kriegsberichterstatter für die North American Newspaper Alliance (NANA) tätig. Er reiste mehrfach nach Spanien an die Front, um über den Konflikt zwischen der republikanischen Regierung und den faschistischen Truppen Francisco Francos zu berichten. Er sympathisierte mit der republikanischen Fraktion und unterstützte deren Kampf gegen den Faschismus mit Wort und Schrift. An den Kämpfen, wie George Orwell, die er in Mein Katalonien beschreibt, nahm Hemingway nie teil. Doch seine Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg übten einen starken Einfluss auf sein Schreiben und seine politische Haltung aus.
Ein Kellner weckt mich aus meinen Erinnerungen an Hemingway. Es ist jahrzehntelang her, seit ich zuletzt an Hemingway gedacht habe, und noch länger, seit ich etwas von ihm gelesen habe. Zuletzt glaube ich war es For Whom the Bell Tolls (1940), die literarische Verarbeitung seiner Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg. Der Roman erzählt eine dreitägige Episode aus dem Leben des amerikanischen Sprengstoffexperten und Guerilleros Robert Jordan, der sich den Internationalen Brigaden anschließt, gegen die faschistische Falange des von Francisco Franco geführten Militärputsch kämpft. Mit dem niederländischen Filmemacher Joris Ivens arbeitete er an der Dokumentation The Spanish Earth (1937), die dieser zur Unterstützung der Republik drehte. Film und Roman zeigen Hemingways emotionale Verbundenheit mit der spanischen Bevölkerung und seiner Überzeugung, dass der Kampf gegen den Faschismus, wo immer er geführt wird, gerechtfertigt ist.
Ich bestelle mir den üblichen Café con leche. Gegenüber an einer Wand drei große Spiegel, wappengekrönt. Alles wirkt antik, auf alt getrimmt, doch der Wandel des Dekors versteckt sich verschämt zwischen den Zeilen. Das Publikum scheint international gemischt, mehr ältere als junge Gäste. Der Lärmpegel der Unterhaltungen, die durch das Café fluten, ist exorbitant. Es fällt schwer, das eigene Wort zu verstehen, umso mehr bemüht sich jeder um seine eigene Lautstärke. Wie mag es in den Jahren, als Hemingway immer wieder im Iruña residierte, hier zugegangenen sein? Heutzutage wirken die Gäste nicht intellektuell, keine Künstler oder Bohemien. Ein durchschnittliches Publikum, wie überall sonst auch. Wer einen Hauch einstiger Atmosphäre sucht, inspiriert werden möchte, wird enttäuscht. Nichts weist im Iruña auf den berühmten Schriftsteller und seine Zeit hin, wie an manch anderem Ort, wo die Vergangenheit als vergilbte, fotografierte Erinnerung an den Wänden der Etablissements überlebt. Falls doch, dann so versteckt, dass ich sie nicht finden kann. Nicht ein einziges Foto. Keine Inschrift. Nada!
An Hemingway erinnert man draußen vor der Tür. An der Außenwand des Café Iruña und nebenan an der Bar El Rincón de Hemingway, die zum Café Iruña gehört. Auf den berühmten Gast weist ein kleines, kaum zu bemerkendes Schild an der Fassade hin, nichts Besonderes, keine Messingtafel, eine baskische Inschrift: Ruta Hemingway Ibilbedea. Und darunter: Café Iruña. El local más visitado por Hemingway lo recuerdo con una estatua y mantieniendo la antigua la dexoración! - Das Lokal, das Hemingway am meisten besuchte erinnert an ihn mit einer Statue und der Bewahrung der antiken Dekoration! Ich verstehe nicht. Von einer Statue keine Spur. Seine Büste, gebürstete Bronze, thront vor dem Hauptportal der Stierkampfarena auf der Plaza de Torros. Im Hintergrund hängt ein farbiges Transparent mit Superman an einer Säule: mit vor der Brust verschränkten Armen, schwarzem Schnurrbart. Ein ältlicher Held. Ein spanischer Supermann. Ein seltsames Kuriosum, diese Melange von Tradition und Moderne, die zu Hemingways Machismo von Männlichkeit und Ehre passt. Das Fragment einer Performance?
Verborgen hinter einer Jalousie liegt der Eingang in die Bar El Rincón de Hemingway. Eine weitere unscheinbare Tafel mit einer Widmung. Dieses Mal aus Messing. House of Le Tribute. El Rincón de Hemingway! - Haus des Le Tribute. Hemingways Ecke. Le Tribute war Hemingways bevorzugter Gin, aus einer familiengeführten Destillerie in Villanova im Süden Barcelonas, der auch heute noch vertrieben wird.
Für mich ist es Zeit zu gehen. Als mich umdrehe, öffnete Hemingways Ecke, und ich begegne ihm endlich. Lächelnd lehnt der Autor von Fiesta lässig an der Theke. Lebensgroß stürzt er sich mit einem Arm am Tresen ab. Mit einladender Geste blickt zum Eingang, als ob er mich auf einen Drink einladen will. Seinen Lieblingsgin vielleicht, einen Le Tribute? Trotzdem, dem Ort haftet nichts Hemingwaysches an. Sein Name und Image wird vermarktet, lockt Touristen mit dem Glanz und der Aura vergangener Tage ins Innere, die auch ein Le Tribute Gin nicht zurückholen kann.
1971 kam Ich zum ersten Mal nach Spanien. Mit dem Daumen im Wind. On the Road! Getrampt, wie es damals hieß und weit verbreitet war. Auf den Spuren der Beatniks, mit Jack Kerouac, nicht mit Hemingway im Rucksack. Den traf ich erst unterwegs. Nach der Veröffentlichung von On the Road erfand der Journalist Herb Caen vom San Francisco Chronicle die Bezeichnung für die Mitglieder der Beat-Generation, eine Subkultur der US-amerikanischen Literatur, während der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre: Bebop, Modern Jazz und Literatur waren ihre Leidenschaft, Vorväter der Hipster in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Jack Kerouac schrieb seine Erzählungen als Spontaneous Prose, einer von ihm entwickelten, intuitiven Schreibmethode, die von Improvisation, Rhythmus und direkter Ausdruckskraft geprägt war. Keine strenge Struktur, überarbeiteten Sätze, sondern unmittelbares, fließendes, automatisches Schreiben. Seine Prosa hat einen musikalischen Beat. Sein Stil war stark beeinflusst von Jazz, insbesondere vom Bebop, der buddhistischen Philosophie und dem, was die Erzähltextanalyse mittlerweile Stream of Consciousness, Bewusstseinsstrom, nennt. Gedanken, Wahrnehmungen und Erlebnisse fließen ungefiltert ineinander. Trotz der Spontaneität seines Schreibprozesses ist seine Sprache bildhaft und poetisch. Er fängt Landschaften, Städte und Menschen in kurzen, aber eindrucksvollen Skizzen ein. Seine Themen: sind Reisen, Freiheit und Spiritualität. Sein Werk handelt von Aussteigern, von Selbstfindung und spiritueller Suche, das Leben ein unaufhörlicher Fluss aus Bewegung und Erfahrung. Ich war jung, ich war hungrig, ich wollte die ganze Welt und ich wollte sie jetzt, schreibt er in On the Road, wie Jim Morrison einige Jahre später in When the Musik is Over von der Bühne in Publikum schreit. Ich hörte den Lärm der Stadt, das Hupen der Autos, das Murmeln der Stimmen, und ich wusste, dass irgendwo draußen ein Abenteuer auf mich wartete, und ich würde es finden. Ich las, was ich suchte, und wäre ohne Jack ein anderer Mensch geworden. Jack Kerouac, der wichtigsten Vertreter der Beat-Generation, schrieb von dem, wovon ich träumte; seit ich alt genug war, um mich selbstständig zu fühlen, obwohl ich noch die Schulbank drückte. Von der Freiheit ich selbst zu sein und sie zu leben: On the road! So kam ich schließlich nach Spanien.
In Perpignon nahmen mich zwei Berliner mit über die Grenze nach Katalonien und schenkten mir beim Abschied Hemingways Roman Fiesta, der eigentlich The Sun Also Rises heißt und 1925 in Pamplona spielt. In Fiesta porträtiert Hemingway die verlorene Generation nach dem Ersten Weltkrieg, vielleicht fühlte er sich, der Weltbürger, selbst ein bisschen so; an vielen seiner Figuren haftet etwas von unwiederbringlichem Verlust. Im Zentrum der Erzählung stehen Sinnsuche, Entfremdung und eine dekadente Lebensführung. Hemingway nahm damals selbst an den Stierläufen teil, den Encierros, wovon er in zweiten Teil seines Romans erzählt. Sie finden während der jährlichen Fiesta de San Fermines zu Ehren San Fermíns statt, des Schutzpatrons der Stadt, im dritten Jahrhundert in Pamplona geboren und während der diokletianischen Verfolgung in Amien enthauptet. Die Sanfermines werden seit 1591 gefeiert und erinnern an das mittelalterliche Eintreiben (encierro) des Viehs zum Viehmarkt durch die Metzgerburschen. Achthundertfünfzig Meter führt der Parcours heute durch die Altstadt bis zur Arena, wo die Stiere später bei der Corrida de Toros, dem Stierkampf, vom Torero getötet werden. Als Parodie, und aus Protest gegen das Treiben der Stiere durch Pamplonas Altstadt, bei dem die Tiere gehetzt und verletzt werden, veranstaltet die Tierschutzorganisation PETA seit 2002 einen Nacktlauf durch die Gassen der Stadt. (Running of the Nudes).
Hemingway ist anders als Kerouac, eigentlich unvergleichbar. Er war älter, natürlich, und gehörte einer anderen Generation an, der Generation der Väter, die die Beatniks literarisch entmachteten. Ich kannte ihn vom Hörensagen, aus der Schule, wo seine Novelle Der Mann und das Meer zum Pflichtprogramm des Deutschunterrichts gehörte. ich habe die Erzählung nicht gelesen, wie so vieles andere auch, und bin irgendwie damit durchgekommen. Ich habe mich schon früh verweigert. Es war wohl Hemingways sparsame, distanzierte Sprache, die Emotionen nur verhalten, für die ich nicht gestimmt war, die keine Resonanz in mir auslöste. Er bevorzugte einen knappen, direkten und nüchternen Stil, der als Iceberg Theory oder Hemingway Style in die Literaturgeschichte einging, geprägt von Klarheit, Präzision und einer bewussten Reduktion auf das Wesentliche. Er war überzeugt, dass nur ein kleiner Teil seiner Erzählungen sichtbar sein soll, der Rest unter der Oberfläche nur angedeutet. Zwischen den Zeilen zu lesen, mutete er seinen Leser*innen zu. Seinen Erzählungen fehlte der frische Wind Kerouacs, das improvisierte, im Augenblick des Spürens geschriebene Wort, das sich nicht regelgerecht krümmt, das mich durchatmen ließ. Der Hauch von freier Wahl und Selbstbestimmung, auch wenn das Unwägbare, das Risiko größer war. Er passte nicht in meine Welt der beginnenden 1970er Jahre. Und trotzdem bekam ich gerade in diesem Jahr, auf meiner ersten richtigen Reise, seinen Roman Fiesta geschenkt.
Fiesta spielt in Pamplona. Alles scheint sich um den Stierkampf und die Fiesta de San Fermín zu drehen, die für die symbolisch aufgeladene Handlung zentral ist. Die Erzählfiguren Jake Barnes, Robert Cohn und Lady Brett Ashley reisen in die Stadt, um die Fiesta mitzuerleben, eine Woche voller Feste, Trinkgelage und Stierkämpfen. Die Atmosphäre ist ausgelassen, aber die Konflikte innerhalb der Gruppe belasten die Beziehungen. Der Höhepunkt der Sanfermines der Stierlauf durch die Straßen Pamplonas, bei dem die Menschen gemeinsam mit den Bullen rennen. Während der Stierkämpfe in der Arena lernen sie den jungen Torero Pedro Romero. Brett beginnt eine Affäre mit Romero, und die Spannungen in der Gruppe eskalieren. Romero verkörpert eine traditionelle, fast mythologische Männlichkeit, die Hemingway zu einer Symbolfigur für Stärke und Authentizität in einer ansonsten dekadenten und orientierungslosen Welt zeichnet. Hemingway idealisiert die Stierkämpfe, schildert sie beinahe enthusiastisch. Er schwärmt von der ritualisierten Gefahr, dem Mut und der Eleganz des Toreros, und kontrastiert sie mit der Orientierungslosigkeit der übrigen Figuren. Der Stierkampf wird bei ihm zu einem Symbol für Leben und Tod, Ehre und Schönheit – Werte, die den anderen Charakteren verlorengegangen sind. Ganz Iceberg-Autor schreibt er in der englischen Ausgabe von Fiesta: The bull charged with his head low, his tail straight out. His muscles were smooth and hard in the sun. The picador’s horse reared and plunged. The bull caught him and lifted him clear of the ground. The crowd shouted. The horse fell heavily.”
Nur das, was jeder beobachten kann, keine persönliche Einlassung, keine Meinung, kein Gefühl, nichts Autofiktionales. – Die Brutalität des Stierkampfes wird nicht dramatisch ausgeschmückt, sondern lediglich beobachtet. Hemingway: Autor oder Reporter? Mitten im Geschehen stehend, ohne künstlichen Pathos oder moralische Einordnung, lässt er seine Leser*innen allein.
Almadén de la Plata in Andalusien hat eine Plaza de Toros. Die kleine Stierkampfarena liegt am Dorfrand, dort wo die Vía de la Plata weiter nordwärts nach Monesterio, abbiegt. Die Arena liegt verlassen im orangegelben Schein der aufgehenden Sonne und ist von runden, hohen Mauern umgeben, die meine Blicke ausschließen. Hinter ihr öffnet ein Gatter den Weg in die nächste Dehesa.
Gestern Abend übertrug ein spanischer TV-Sender Ausschnitte aus verschiedenen Stierkämpfen mit berühmten Toreros. Ein bizarres Potpourri. Die Zuschauer auf den Rängen der Arena waren begeistert von dem blutigen Morden im Sand. Mir erschien die ritualisierte Darbietung wie eine Botschaft aus einer imaginären Frühzeit, archaisch und befremdlich, vielleicht aus dem minoischen Kreta, das noch immer mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Ich wusste nicht, dass Stierkämpfe in Andalusien noch immer en vogue sind. Während die Arena in Barcelona geschlossen ist, besitzen an der Vía de la Plata viele Dörfer eine eigene Arena. Die Wirklichkeit der Corrida, des Stierkampfs, überkam mich so plötzlich, dass mich die Brutalität und tödliche Präzision der Toreros und die Mitleidlosigkeit seiner Fans entsetzte. Blutkult und Fruchtbarkeitsrituale im modernen Spanien? Im Europa des 21. Jahrhunderts. Leidenschaftlich, emotional aufgewühlt, stürmen stolze, tiefschwarz schimmernde Stiere in die Arena. Am Ende werden sie blutüberströmt mit einem Pferdegespann hinausgeschleift, während ein Mann mit einem Besen hinterhergeht und die blutige Spur verwischt, die der Kadaver des eben noch majestätischen und stolzen, schwarz schimmernden Recken im Sand hinterlassen hat. Wieder liegt der Sand rein und unberührt in der Sonne. Als sei nichts geschehen, wartet er auf das nächste Opfer, dessen Blut ihn tränkt.
Zuerst hat mir der Mut der Toreros imponiert. Doch der Stier hat von Beginn an keine Chance. Er folgt seinem Instinkt, der Torero einer ausgeklügelten Strategie. Der Mann ist ausgebildet, zum raffinierten Töten erzogen, das Tier instinktgesteuert. Sicher, der Torero besitzt Mut und Verwegenheit, wenn er sich nur wenig mehr als einen Meter entfernt vor den spitzen, gebogenen Hörnern des Stiers elegant bewegt. Sie könnten ihn mühelos aufschlitzen, während er das mächtige Tier zum Tanz auffordert. Den Torero unterstützen vier Assistenten, die den Stier im kritischen Moment ablenken. In Situationen, die für ihn wirklich gefährlich werden, flüchtet sich der Held der Arena feige hinter eine Schutzwand, während seine Gehilfen dem überraschten Stier ein halbes Dutzend mit Widerhaken versehene Spieße in den Rücken rammen, deren farbige Banderolen lustig im Wind flattern. Wenn der Stier zuletzt abgehetzt, mühsam nach Luft ringend und vom Blutverlust geschwächt, die Kraft für das grausame Spiel verloren hat, ist auch der Kampf entschieden. Der Torero stößt seinen Degen von oben in den Hals des Stiers, bis die Klinge tief im Fleisch versinkt. Noch ein oder zwei Angriffe, und das prächtige Tier bricht mit den Vorderläufen ein, und kippt auf die Seite. Ein Dolchstoß ins Genick, und alles ist vorbei. Standing Ovation auf den Rängen. Frauen mit strahlenden Augen, Männer mit anerkennenden Blicken. Das Publikum feiert seinen zwielichtigen Helden, den Mörder im bunten Karnevalskostüm. Der verbeugt sich theatralisch, mit ausgestreckten Armen, und fängt die Blumensträuße auf, die durch die Luft wirbeln. Ein Popstar mit blutigen Händen. Das Publikum ist vielschichtig, Menschen jeden Alters und Geschlechts sitzen in den Rängen; viele junge Frauen. Auch das ist Andalusien: blutige, von Viehzüchtern zelebrierte Rituale, die so sehr Kultur sind, dass sie sich jedem Wandel widersetzen.
Hemingways Figuren in Fiesta gehören, wie der Autor selbst, zu den Aficionados, den begeisterten Bewunderern. Sie leben ein ausschweifendes Leben voller Alkohol, Reisen und oberflächlicher Vergnügungen, um ihre innere Leere zu betäuben. Die Ereignisse während der Fiesta entlarven ihren inneren Widerspruch, den Kontrast zwischen emotionaler Distanz, oberflächlich ekstatischer Lebensfreude und innerer Zerrissenheit. Am Ende der Fiesta sind die Beziehungen innerhalb der Gruppe zerrüttet, und Brett trennt sich von Romero, da sie erkennt, dass sie seinen Machismo, seine Werte und Erwartungen nicht erfüllen kann. Es ist Hemingways Figuren nicht gelungen, Sinn und Orientierung in einer Welt zu finden, die von noch Krieg und Entwurzelung geprägt ist.
Die Plaza del Castillo liegt überfüllt noch immer in der Sonne. Menschen, die gemeinsam den Sonntagnachmittag verbringen. Plötzlich muss ich an Berlin denken, an den Pariser Platz und an Nachmittage auf dem Tempelhofer Feld. Wie ähnlich sich Orte und Menschen doch überall auf der Welt sind. Ich schultere meinen Rucksack und mache mich auf den Weg zu Juan nach Mendillorri.
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