Ich will nach draußen gehen;
alter Kummer soll heute vergessen sein,
denn die Luft ist kühl und ruhig, und die Hügel
sind hoch und erstrecken sich bis zum Himmel.
Sylvain Tesson
Es hat die ganze Nacht geregnet, und morgens noch eine Weile. Alles ist nass, und der Himmel perfekt Stratus, eine bleigraue Decke. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass sich dahinter ein ganzes Universum befindet, eine Welt, in der jetzt die Sonne an einem tiefblauen Firmament scheint. Warum schafft sie es nicht, wenigstens ein paar Löscher in dieses bleierne Grau zu brennen?
Während ich noch beim Frühstück bin, kann ich mir nicht mehr vorstellen, an die Seen von Covadonga zu wandern. Es ist spät geworden, bevor der Regen aufhört, und ob es bald wieder regnen wird, ist zu erwarten. Wenn ich trotzdem an die Covadonga-Seen aufbreche, bekomme ich keinen Bus mehr zurück nach Arriondas. Für Wanderungen in den Picos de Europa benötigt man ein Auto. Eigentlich weiß ich das, denn es ist nirgendwo anders. Verkehrswende und Naturerlebnis für stadtmüde Großstädter hin oder her.
Zuletzt nehme ich den Bus nach Cangas de Onís und weiter nach Covadonga. Fünf Stunden bleiben mir für eine Idee, was unter einem bleigrauem Himmel in Erwartung des nächsten Regens möglich ist. Sightseeing Covadonga auf jeden Fall, vielleicht mit wenig Besuchern, denn Covadonga ist in Asturien eine nationale Institution, und viel besucht. Als ich gegen Mittag schließlich in Covadonga ankomme, haben sich die Wolken, wie schon gestern, verzogen. Geblieben ist ein bisschen weißes Kumulus auf blau und schüchterner Sonnenschein. Auf einem großen öffentlichen Parkplatz stehen mehrere Reisebusse und der kleine Parkplatz vor dem Gran Hotel Pelayo ist gut genutzt. Besucher gibt es, anders als ich dachte, im Überfluss.
Covadonga ist kein Dorf und auch keine Stadt, sondern ein Ensemble historischer Gebäude am Ende einer Stichstraße in einem Talkessel mit hohen, senkrecht aufragenden Felswänden. Santuatio de Covadonga, ein Marienheiligtum, ein ausgedehntes Sanktuarium mehrerer Kultorte, die Basilica de Santa María la Real de Covadonga, das Höhlenheiligtum La Santa Cueva, ein Wallfahrtsort, eine Etappe des Camin de Los Santuarios von der Kathedrale San Salvador de Oviedo zu dem romanischen Kloster Santo Toribio de Liébana in Camaleño. Die imposanten Gebäude Covadongas gehen letztlich auf eine bedeutende Schlacht zurück, die ein legendärer Pelayo 718 siegreich gegen die vordringendem Mauren schlug, was den Nordwesten der Iberischen Halbinsel vor der islamischen Invasion bewahrte. Covadonga ist der Beginn der Reconquista, der Rückeroberung und Befreiung Spaniens von der maurischen Besatzung. Pelayos Historizität ist, wie die seines britonischen Zeitgenossen Arthur nicht endgültig geklärt. Pelayo ist für Asturien, und darüber hinaus für Spanien, was Arthur für England ist: erster König eines bedrohten Reichs. Und er hat seine letzte Ruhestätte in La Santa Cueva, zusammen mit seiner Königin, Ermesinda und seinem Schwiegersohn Fernando I. Catolico.
Der Ursprung des Toponyms Covadonga, genauer des Oikonyms beziehungsweise Urbanonmys, ist unklar, und ermöglicht zwei Hypothesen:
- Der Name Covadonga ist ein Kompositum aus zwei vulgärlateinischen Begriffen: cova, Höhle, und donga, Herr oder Herrin. Dieser Name wird damit zusammenhängen, dass es in der Felsenhöhle von Covadonga, der rezenten La Santa Cueva, bereits während des Westgotenreichs (418-711) ein Marienheiligtum gab, die Höhle Unserer Lieben Frau María.
Die Jahreszahl 711 markiert einen verhängnisvollen Wendepunkt in der Geschichte Spaniens, die Schlacht am Río Guadalete im Süden von Andalusien, in der Roderich, der letzte Westgotenkönig, gegen ein Invasionsheer aus Arabern und Berbern, unterlag. In nur wenigen Jahren eroberten die Mauren die Iberische Halbinsel. 718 (neuerdings wird 722 diskutiert) stellte sich der Asturier Pelayo ihnen siegreich in der Schlacht von Covadonga entgegen und bewahrte den Nordwesten der Iberischen Halbinsel (Asturien, Galicien, Nordportugal) vor der islamischen Besetzung. Pelayos Sieg bezeichnet in der Geschichte Spaniens ein identitätsstiftendes Jahr, den Beginn der Reconquista, die Rückeroberung und Befreiung der Iberischen Halbinsel von der islamischen Besetzung. Diese Schlacht, so wird überliefert fand an der Höhle mit dem Marienheiligtum statt, und es heißt auch, dass Pelayo mit göttlicher Unterstützung siegte. - Der zweite Ursprung des Toponyms Covadonga lässt sich von dem Begriff Cova d'onnica ableiten, Höhle der Quelle. Die Bezeichnung *onnika, Quelle, ist ein Derivat des keltischen Etymons *onna, Fluss, und tatsächlich stürzt unterhalb der Santa Cueva ein beachtlicher Wasserfall in ein künstliches Auffangbecken an der Basis einer Felswand. Hydronyme wie Güeña (von *onna), ein Fluss der bei Cangas de Onís in den Río Sella mündet, Isongo (*is=onniko, Quelle des Is-Flusses) oder Triongo (*tri=onniko, drei Quellen) sind häufig; ebenfalls Candongo (*kand=onniko‚ klare Quelle).
Wenn auch die Gelegenheit den Lago Enol, einen der drei Covadonga-Seen wiederzusehen vertan ist, will ich nicht zurückfahren, ohne mich in der Umgebung umzusehen. Es führen zwei Wege aus den Talkessel von Covadonga heraus. Ein mit unregelmäßigen Platten gepflasterter Weg endet nach einigen hundert Metern bergan auf einer Landstraße, der andere gleich hinter dem Höhlenheiligtum auf einem schlammigen und mit Steinbrocken durchsetzten Bergpfad, der in engen Serpentinen steil aufwärts strebt. Auf einem in die Jahre gekommenen Wegweiser steht Orandi und Vega de Orandi, was mir nichts sagt, ein Wanderweg offenbar. Aber für einen solchen Weg bin ich nach dem Regen der letzten Tage nicht bereit. Frustriert, schon wieder auf einer Landstraße zu wandern, suche ich Glück in der Hoffnung einen komfortableren Wanderweg zu finden. Irgendwann weist ein Schild auf den Mirador de los Canónigos hin, und ich freue mich wenigstens eine schöne Aussicht in die Bergwelt oder hinab auf Covadonga zu haben. Doch weder das eine, noch das andere finde ich. Es gibt zwar einen Rastplatz, etwas heruntergekommen und nass wie alles andere, aber hoch gewachsene Sträucher und Bäume versperren ein erhofftes Bergpanorama. Mir bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge nach Covadonga und mit dem Bus nach Arriondas zurückzukehren. Doch dazu kann ich mich nicht entschließen, das ist zu frustrierend. Also wandere ich stur weiter die Landstraße hinauf, immer höher, mit dem unangenehmen Gedanken an den letzten Bus am frühen Nachmittag zurück nach Arriondas. Aufgeben und zurückzukehren? Irgendwie ist mir das nicht möglich. Ich will erzwingen, was ich mir wünsche, habe aber keinen Plan und keine Informationen über die Region. Ich will wenigstens einmal in die Picos de Europa vorstoßen, wenigsten ein paar Kilometer einen Berg hinauf, weil der Regen meine bisherigen Pläne zunichte gemacht hat. Ich feststellen, ob dazu unbedingt ein Auto erforderlich ist.
Und dann ist er plötzlich da, wie aus dem Nichts und zur rechten Zeit aufgetaucht. Ein unbefestigter Weg, der bei Moferos von der Landstraße abbiegt, wo die Rua de Reconquista beginnt. Ein Weg, der moderat in die asturische Bergwelt aufsteigt. Wieder das Hinweisschild mit dem mysteriösen Ortsnamen Orandi, ein Gipfel, vielleicht ein Pass, auf den dieser Weg hinaufführt, der PR-AS 224, ein offizell ausgeschilderter Wanderweg. Anders als der schlammige Bergpfad an der Santa Cueva, ist dieser Weg trocken und breit, wenn auch mit losen oder aus dem Boden ragenden Steinen übersät, was aber für einen Weg einen Berg hinauf nicht ungewöhnlich ist. Allmählich, langsam und ohne allzu viele Kurven führt er aufwärts. Wieder denke ich an den Bus, frage mich, ob die Zeit reicht, einen unbekannten Weg zu gehen, kann aber nicht widerstehen. Die acht Kilometer und viereinhalb Stunden, so steht es auf dem Schild, die ich brauche, um zurück nach Covadonga zu kommen, erscheinen mir machbar. Zu viel Wunsch und Gefühl habe ich bereits investiert, um jetzt noch umzukehren. Die Enttäuschung wäre zu groß gewesen. Verpasse ich den Bus, wird es doch ein Taxi geben, und im Gran Hotel Pelayo zu organisieren sein, beruhige ich mich, und biege von der Landstraße auf den Weg ab.
Die Sonne scheint inzwischen von einem fast wolkenlosen Himmel. Ich fühle mich gut und zuversichtlich als ich abbiege und über den steinigen Weg aufwärts wandere. Wie gut, dass ich noch nicht weiß, was mir bevorsteht, meine Euphorie wäre dahin. Zuerst ist der Weg ein angenehm wanderbarer Bergpfad, einer von denen, wie ich sie schon oft gegangen bin. Er schlängelt sich am Hang eines Bergs entlang, mal mehr, mal weniger steil, dazwischen kurze, ebene Passagen. Doch der Weg wird zunehmend anstrengend und fordernd. Schnell bin ich nass geschwitzt und trage bald kein trockenes Kleidungsstück mehr. Ich habe viel zu wenig Wasser dabei, wohl geglaubt, in Covadonga etwas kaufen zu können. Was am Anfang ein erfreulicher Bergweg ist, entpuppt sich schnell als ein Stolperpfad. Von einem gut zu gehenden Weg ist schließlich keine Rede mehr. Ein schmaler Saumpfad schlängelt sich zwischen Steinen, Geröllen, Felsbrocken und größeren Felsen hindurch, alles ungeordnet, als ob jemand einen Anhänger Felsgestein auf eine Bergflanke gekippt hat. Ich komme jetzt immer langsamer voran und befürchte meinen Bus zu verpassen. Nur mühsam finden meine Füße eine Lücke in die ich treten kann. Langsam suchend, einen Fuß nach dem anderen aufsetzend, stolpere ich über lose Steine, rutschte auf glatten Steinen aus und steige, kletterte, über Steine und Felsbrocken immer weiter aufwärts. Doch der Weg nach oben verliert nichts von seiner Schönheit. Malerisch geht es in Bastañar an verlassenen Gebäuden und einem Gehege für Schafe vorbei, zwischen natürlichen Hecken aus Haselnusssträuchern, dornigen Pflanzen und vereinzelt schütteren Bäumen. Bis Las Llaceries, einem zweiten Gehege, bleibt der Weg weitgehend eben, vorbei an Eschen, Kirchbäumen und einzelnen Buchen, dazwischen kniehohe Sträucher, Gestrüpp und blühende Pflanzen. Gelegentlich ein Viehgitter. Rinder, die mich neugierig beobachten, einsame, saisonale Häuser aus Bruchsteinen und mit roten Ziegeln gedeckte Dächer, weit entfernt und verlassen an den gegenüberliegenden Hängen. In einem großen Bogen umrundet der Pfad die Sierra Porciles in Richtung Jou los Cestos und Colladin de Orandi. Weiter aufwärts, über eine Wiese, die sich einen Hang hinaufzieht, auf einem schmalen, erstmals steinfreien Pfad, der sich eng zwischen Büsche und Sträucher schlängelt. Blaue und gelbe Blüten am Wegrand, keiner von ihnen kann ich einen Namen geben. Die Bergwelt ist spektakulär. Ich kann weit zwischen für mich namenlose Berge hindurch sehen. Sie reihen sich nebeneinander und hintereinander auf, anscheinend unendlich weiter bis sie in der Ferne im Dunst verschwimmen. Über diesen Bergen, von denen einige fast an die Baumgrenze reichen, blicken schneebedeckte Gipfel auf mich herab, deren nackter Fels in der Sonne schimmert wie frisch poliert. Ich bin erschöpft von der Kletterei, friere in der leichten Brise, weil alles an mir nass ist. Trotzdem bin ich glücklich hier zu sein, durch diese Landschaft zu wandern, wild und ungezähmt, auf Bergpfaden, die zu Saumpfaden werden, von denen ich mich frage, ob es sich nicht um Maultierpfade oder einen Wildwechsel handelt. Sie führen weiter zwischen den umzingelnden Bergen hindurch, wie sie das schon immer tun, sich nicht darum kümmernd, dass Wind, Regen und Frost, die Meister der Erosion, ihren Verlauf und Zustand ständig verändern. Sie bieten ein Bild der Jahreszeiten, die seit jeher über sie hinwegziehen. Diese natürliche Schönheit, so wild und unwirtlich, die sich menschlichem Zugriff entzieht, mittendrin in der Landschaft und mitten durch sie hindurch, entschädigt für alle Mühe. Erst die Anstrengung, die eine Landschaft fordert, gibt mir das Gefühle, dass sie immer mehr zu einer Verlängerung meines Leibs wird. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber die Schinderei den Berg hinauf, über einen Untergrund, der nur mit viel Liebe und Verständnis ein Weg genannt werden kann, nimmt der Landschaft nichts von ihrer Attraktivität. Der Gegensatz zu der geordneten Welt in der ich sonst lebe ist kaum größer vorstellbar. Ich glaube, es ist dieser Mangel an Ordnung, Kontrolle und Regelmäßigkeit der mich anzieht, und der trotz aller physischen Anstrengung psychisch so entspannend ist. Irgendwann endet der schüttere Wald auf einer Wiese und ich erreiche den höchsten Punkt des Wegs. Der Gipfel liegt nur noch wenige Meter über mir. Ich bin von zweihundertfünfzig Meter in Covadonga nach fünf Kilometer auf über siebenhundert Meter aufgestiegen, stehe hoch oben und blicke einen ausgedehnten Hang hinab, so abschüssig, dass das Haus auf der anderen Seite des Tal winzig klein zwischen den Bäumen wirkt, wie ein Teil einer Landschaftsinstallation in einem Museum.
Die bergauf anstrengende Route entwickelt sich bergab zu einer Strapaze. Unbemerkt hat sich der Himmel in ein dunkles Wolkenmeer verwandelt, das mit Regen droht. Die Schwierigkeit, die der Weg fordert, hat meine Aufmerksamkeit fokussiert. Der aufkommende Wind hat Feuchtigkeit im Gepäck, die nach Regen riecht. Der von Felsgestein übersäte Saumpfad hat sich nicht verändert, doch jetzt führt er auf einem grasbewachsenen Hang steil abwärts, ein abschüssiger Hang, der ins Tal hinunterfällt und meinem Gleichgewichtssinn einiges zumutet. Ein Saumpfad mit Steinen gespickt, kaum noch zu erkennen, lässt den ganzen Hang wie ein Trümmerfeld aussehen. Dann es beginnt zu regnen. Der lehmige Boden zwischen den Steine wird nass und glitschig. Während ich weitergehe, vorsichtig meinen Weg zwischen den Felsen hindurchbahne, nimmt der Regen weiter zu. Es wird immer schwieriger, eine Stelle zu finden, auf der mein Fuß sicher steht ohne abzurutschen, Halt findet, ohne zu stürzen. Immer wenn die Steine zurückweichen, ein schmaler Pfad sichtbar wird, auf dem ich aufrecht gehen kann, hoffe ich, es ist geschafft. Doch nur kurze Zeit später endet die ebene Passage, und die stolpernde Rutschpartie beginnt von vorne.
Es ist eine einsame Wanderung, niemand ist unterwegs, und ich treffe auch nirgendwo auf die Anwesenheit von Menschen. Die kleinen Höfe und saisonalen Hütten liegen verschlossen und verlassen im Regen. Eine menschenleere Landschaft, in denen Berge und ihre Bewohner herrschen, die mitleidlos auf mich herabblicken. Die Vögel, die eben noch fröhlich im Sonnenschein zwitscherten, sind verschwunden, und auch Schafe sehe ich auf den Weiden keine mehr. Die von den Wolken verdrängte Sonne überzieht die Landschaft mit einer unheimlichen Düsternis, das mein Gefühl der Einsamkeit und des Ausgeliefertseins noch verstärkt. Die Berge, die mich umgeben, erzeugen eine klaustrophobische Atmosphäre, drohend und bedrängend, während ich mich den nassen, rutschigen Pfad hinabmühe. Mit einem Mal wird mir bewusst, dass ich mich in dem Gelände bewege, dass die sonnenverwöhnten Invasoren aus Nordafrika durchquert haben, um die Rebellion Pelayos niederzuschlagen. Ich stelle mir vor, es war ein Tag wie dieser, im Juni 718, regnerisch und kalt, eingeschlossen zwischen sichteinschränkenden Bergen in diesem schwer zugänglichen Regenland waren die islamischen Krieger unterwegs nach Covadonga. Jetzt, wo ich selbst mit den Widrigkeiten der asturischen Bergwelt ringe, verstehe ich, dass sie Pelayo und seine Bergbewohner nicht besiegen konnten. In den asturischen Bergen, den Picos, den Spitzen Europas, fand ihr Vordringen auf der Iberischen Halbinsel ein Ende. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, noch einmal nach Covadonga zurückzukehren um das Gelände des Scharmützels, eine Schlacht soll es nicht gewesen sein, wiederzusehen, wo Pelayo die Mauren geschlagen hat. Ich finde es hilfreich, die Landschaften zu sehen, sie physisch und psychisch zu erkunden, deren Geschichte und Legenden ich kenne, und die mich faszinieren. Ich kann dann besser nachspüren, was es bedeutet, wovon die Geschichten erzählen.
Es ist erstaunlich, wie schnell die Freude, das Gewirr der Steine hinter mir zu haben, in die nächste Herausforderung umschlägt. Die hochgelegene Wiese, in die der steinige Saumpfad mündet, erweist sich als ein Feuchtbiotop, nicht im Wortsinn, sondern in Folge der heftigen Niederschläge der letzten Tage. Jeden Schritt abwärts begleitet ein sattes Schmatzen, denn die Wiese ist aufgeweicht, musste mehr Wasser aufnehmen, als sie verkraften kann. Während in anderen Regionen Spaniens Wassermangel herrscht, und der Wasserverbrauch reduziert wird, ist hier, wo Landwirtschaft wegen des Gefälles nicht möglich ist, Wasser im Überfluss vorhanden, das mir gerade heftig zusetzt. Der Boden ist weich, das Gras nass und rutschig, und jeder Schritt versinkt bis über die Sohle im matschigen Untergrund. Mehr rutschend als gehend, und mehrmals ausrutschend und ins nasse Gras fallend, schlittere ich abwärts. Inzwischen ist es zu spät auf meine Kleidung zu achten, die erste Spuren des nassen Bodens zeigt. Der Weg hinauf war trocken und sonnig, nun bin ich auf der Regenseite des Bergs angekommen. Ohne Stöcke müsste ich den Hang auf dem Hinteren rutschend zurücklegen. Einige Meter oberhalb der Talsohle endet die Wiese auf einem Weg, der kein Weg mehr ist, sondern eine Passage tiefer, ausgewaschener Rinnen, in denen das Wasser abfließt und Felsen freigelegt hat. Wieder heißt es abwärts über Felsgestein klettern, einen Platz für den Fuß zu finden wo er nicht wegrutscht, während ich knöcheltief im abfließenden Wasser stehe, das die Wiese entwässert.
Durch das schmale, fast v-förmige Tal rauscht der Río Mestas, ein kleiner Fluss, reißend über Stromschnellen, deren Klatschen und Platschen ich schon von weitem hören kann, ein Bach, der reichlich Nachschub bekommt, und sich wie ein Fluss gebärdet. Auf beiden Seiten ist der Bach von steilen Hängen begrenzt, die in höher gelegene Felswände übergehen. Ein weiterer steiniger Pfad begleitet den Bachlauf in einigen Metern Höhe einen Hang entlang, später abwärts bis ans Ufer und auf eine weitere Wiese, die Vega de Orandi. Vieh weidet auf der Vega über die der Río Mestas fließt um in Covadonga unterhalb der Santa Cueva als Wasserfall wieder an die Oberfläche zu kommen. Eine Kuh im Regen beobachtet mich wiederkäuend. Ein erstaunter Blick, als zweifele sie an meinem Verstand. Ein paar Schritte weiter drängen sich drei Kälber in eine geschützte Nische am Fluss ins Gebüsch. Sie schauen vorwurfsvoll zu mir herüber, fragend warum man sie nur in diese nasse Welt gesetzt hat. Doch der Regen hat inzwischen etwas nachgelassen, und wieder hoffe ich, dass es endlich komfortabler weitergeht. Doch ein weiteres Mal enttäuscht die Landschaft diese Hoffnung.
Die Vega de Orandi ist selbst im Regen ein magischer Ort, eine ausgedehnte Wiese, eingezwängt zwischen den hohen Felswänden des Monte Auvesa, über die ein feuchter Dunst schwebt. Die Luft ist vom leichten Nieselregen geschwängert, auf der Wiese steht das Wasser, und der Mestas rauscht sein Lied unsichtbar zwischen dicht bewachsenen Böschungen. Ein Ort berauschender Stille, traumhaft im Sonnenschein. Doch heute ist alles Wasser, das fließt, in der Luft schwebt und über den Boden schwappt, belebend, heilend, reinigend. Die mit Wasser übersättigte Vega, immerhin eben, ist für mein Bedürfnis nach Erholung viel zu schnell zu Ende. Der Weg endet vor einer senkrecht aufragenden, grauen Felswand, von Moosen und Flechten besiedelt, die auf dem nassen Fels dekorativ wirken. Kleine Höhlungen mit scharfen Kanten durchbrechen die Wand, die zwischen den Bäumen eines Mischwalds verschwindet. Ob es Höhlen in der Wand sind, kann ich durch den Dunst, der alles verschwimmen lässt, nicht erkennen. Vega de Orandi steht auf einem Schild, und Covadonga, und ein Pfeil weist einen aufsteigenden Weg hinauf in einen im Regen düsteren Wald. Als ich ankomme, empfängt mich das Läuten der Glocken der Basilica Santa María la Real, deren Klang zwischen den Bäumen hindurch über die Vega schwebt. Steil geht es die letzten Meter auf den Monte Auvesa hinauf, auf dessen anderer Seite, das verraten mir die Glocken, endlich Covadonga liegt. Obwohl das pfadlose Klettern über Felsgestein nicht noch einmal beginnt, gehe ich über nasse Steine und durch Matsch. Inzwischen achte ich nicht mehr auf Schuhe und Hose. Meine Schuhe überzieht eine hellbraune, lehmige Schlammschicht, die Hose ist bis an die Knie lehmig braun eingefärbt und ich habe schon geraume Zeit nasse Füße. Es wird nur ein kurzer Aufstieg durch den Bergwald, wo der Regen von den Blättern tropft. Die Bäume am Hang stehen so dicht, dass ich die Landstraße nach Covadonga, die irgendwo da unten sein muss, nicht sehen kann. Ich bin noch immer über fünfhundert Meter hoch als ich den Scheitelpunkt des Wegs erreiche und der Abstieg nach Covadonga beginnt. Der Pfad stürzt sich in engen Serpentinen steinig und schlammig in den Felskessel des Sanktuariums hinab, der dreihundert Meter weiter bergabwärts liegt. Meine Wanderung entwickelt sich zu einer Rutschpartie wie ich noch keine erlebt habe. Es ist nicht mein erster steiler Abstieg über Felsen und lose Steine in ein Tal, aber bei weitem der schlammigste. Ein mühsamer Abstieg, immer auf der Hut, wohin ich den Fuß setze, vorsichtig, nicht auszurutschen, was ich nicht vermeiden kann. Ich habe nicht gezählt, wie oft ich ausgerutscht und zwischen Steinen im Matsch gelandet bin. Am Ende sind meine Oberschenkelmuskeln so überlastet und drohen vor Erschöpfung aufzugeben, mein linkes Knie zwickt warnend und im rechten Knie zieht ein Außenband. Noch nie habe ich befürchtet einen Weg nach unten nicht zu schaffen, so erschöpft fühle ich mich. Meine Beine wollen sich nicht mehr bewegen, und mit dem rechten Fuß knicke ich ständig um.
Natürlich komme ich heil unten an, und erkenne den Wegweiser wieder, dem ich vor Stunden nicht folgen wollte. Es war nicht wirklich meine Entscheidung, denke ich, der Weg hat mich gelockt, und ich konnte nicht widerstehen. Manche Wege scheinen ein Eigenleben zu führen. Oder ist es ein Genius loci, der den Wanderer verführt? Erleichtert stehe ich auf den nassen Steinfliesen, die an der Santa Cueva enden, wo die Besucher verschwunden sind, die bei meinem Aufbruch den Wasserfall belagerten. Mit müden Muskeln mühe ich mich die letzten Kurven die Landstraße hinauf zur Bushaltstelle. Zwischen den Gebäuden ist es einsam geworden. Die letzten Besucher eilen zu ihren Fahrzeugen, der Parkplatz ist leer und die Reisebusse sind abgereist. Wieder beginnt es zu regnen. Fünf Minuten später kommt der letzte Bus, der mich mit nach Cangas de Onís nimmt. Ich sitze im Trockenen und denke: Es hätte auch schlimmer kommen können, obwohl mir vor Erschöpfung und Hunger übel ist. Ruckartig fährt der Bus an und folgt schwankend den Serpentinen nach unten. Der Regen nimmt zu. Ein heftiger Schauer, der die Scheibenwischer an ihr Grenzen bringt. Es regnet die ganze Nacht.
Als ich Arriondas am nächsten Tag verlasse, gefällt sich der Himmel noch immer in Stratus, und die Gipfel der Berge stecken neugierig ihre Nasen in den weißen Dunst. Gerne hätte ich die Lagos de Covadonga wiedergesehen oder wäre auf den Pico Pienzu mit seiner atemberaubenden Aussicht auf die asturische Biskayaküste gewandert. Aber was wäre gewesen? Wahrscheinlich hätte ich im Regen triefnass und lehmverschmiert das Ufer oder den Gipfel erreicht und gedacht: Aha, die Seen! Aha, die Küste! Da liegen sie im Regen, und Undinen und Nöcks, vielleicht auch ein Wassermann, aalen sich im Nass wie Urlauber am Strand in der Sonne. Weniger als zwei Stunden, und ich bin in Oviedo (Uviéu), der Hauptstadt der Autonomen Provinz Asturien, zwar nicht den Regen, aber dem Matsch und dem Frust entkommen. Es ist wahr, was mir eine Frau erzählte: In den Picos de Europa, und wohl auch überall sonst in La Espana Verde, kann man an einem Tag das Wetter aller Jahreszeiten erleben.
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