05 Juli 2018

Das Glück des Gehens 1


Der Schreibende ist ein Grenzgänger.
Nach seinen Entrückungen kehrt er in die
eigene Welt heim, um sein Lied zu singen,
in dem er seine Gemeinschaft teilnehmen lässt,
was er in der anderen »Welt« erfahren hat
.
Michael Obert

In Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg findet sich eine auf den ersten Blick verstörende Bemerkung: Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste - sagt das Sprichwort - hat immer noch sieben Schönheiten.« Die spröde brandenburgische Landschaft als Flora, Fauna und Klima, durch die der Wanderer geht, bildet den Fokus meines affektiven Betroffenseins. Rationalisierung und Intellektualisierung haben meine Welt entzaubert, sodass ich mich inmitten der urbanen Öde eines extremen Mittels bedienen muss, um mir meiner Herkunft bewusst zu werden: Ich muss wieder zu Fuß gehen. Wo Menschen früherer Kulturen authentische Erzählungen und Mythen besaßen, breiten sich in meinem Leben nun komplexe Erklärungen aus, die mir meine Welt nur mit Mühe erklären. Was Landschaft bedeutet, ist nicht durch deskriptive Beschreibungen oder beeindruckende Hochglanzfotografien zu verstehen. Landschaft, und die Natur, die sie ist, lässt sich nur im unmittelbaren leiblichen Kontakt erfahren. Novalis liegt mir im Ohr, der versucht hat, die Landschaft, die ihn umgab, zu spüren wie eine Erweiterung seines Leibs.
Fontanes Statement für Reisende, die sich aufmachen, die Landschaften, Ortschaften und historischen Hinterlassenschaften Brandenburgs mit feinerem Sinn zu suchen, wurde mein Leitstern, als es darum ging, die Fremde vor meiner eignen Haustüre zu erkunden. Das Besondere auch im Gewohnten zu finden, war zu Beginn nur graue Theorie. Ich beschloss im Nahraum zu wandern, und mich von der touristischen Infrastruktur weitgehend fern zu halten. Ich fand eine ganz besondere Fremde vor, mit der ich zuerst nichts anfangen konnte. Brandenburg ist das Umland von Berlin, dachte ich. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe und Mischung zu erleben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und kreuz und quer durch Brandenburg zurück nach Berlin.