17 Mai 2024

Ibarrola in Llanes


Llanes in Asturien und Agustín Ibarrola, der Baske. Ein renommierter Künstler und eine Kleinstadt an der Biskaya. Ich mag Llanes, und ich bewundere sie Arbeit des baskischen Bildhauers. Für mich ist das Zusammentreffen von Stadt und Künstler ein zwingender, kein ungewöhnlicher Kontrast.

Zurück in Llanes. España verde empfängt mich angemessen. Es regnet. Nein, es gießt, in Strömen. Regentage, und es wird in den nächsten Tagen regnen.
Ein Reisetag. In Burgos lange warten auf den Bus nach Torrelavega. In Torrelavega warten auf den Bus nach Llanes. Ein Tag des Wartens dauert, selbst die Zeit wird zur Dauer.
In Burgos ziehen Mittags dunkle Wolken auf, doch sie lassen Lücken für die Sonne. Auf der Fahrt nach Torrelavega droht ununterbrochen Regen, ohne sich entscheiden zu können. Als der Bus nach Llanes den unterirdischen Bushof Torrelavega verlässt, hat der Regen seine Ambivalenz endlich überwunden. Die hellgrauen Kumuluswolken in Burgos haben sich im Tagesverlauf in einen dunkelgrau-schwarzen Stratocumulus verwandelt.
Unterwegs nach Llanes fährt der Bus durch einen heftigen Schauer immer höher in die kantabrische Kordillere. Die Sicht sinkt auf unter hundert Meter, dann löst sich die Landschaft in einem dunstigen Schleier auf. Weich gezeichnet in Grau, und ihrer Farbigkeit beraubt. Absolut Stratus.

Dass ich den Camino Francés hinter mir habe, merke ich sofort als ich in der Albergue La Estación eintreffe. An der Rezeption wird mein Spanisch wie selbstverständlich akzeptiert, ohne gleich beim ersten Stocken ins Englische zu wechseln. Im Zimmer habe ich sofort Kontakt zu den anderen Pilgern, und es ist lustig, sich mit einem 76jährigen Franzosen, der mit drei Flamen auf dem Camino del Norte unterwegs, spanisch-französisch zu unterhalten. Wir verstehen uns hervorragend als ob wir die gleiche Sprache sprechen.

Früh morgens sind Llanes nur zwei Bars geöffnet - Plan B und El Estudiante - und das nur, weil sie gegenüber des Colegio municipale Peña Tú liegen. Als ich in El Estudiante eintrete, schallt mir der Sound unzähliger Stimmen entgegen. Die Bar ist schon um diese Zeit mit Schülern gefüllt, die frühstücken, Neuigkeiten austauschen, vielleicht sich den Unterrichtsbeginn versüßen oder noch eine Weile hinauszuzögern. Es ist so laut in der Bar, dass ich die Serviererin am Tresen nicht verstehe, und sie schnell ins Englische wechselt, vielleicht auch um zu zeigen, dass die es beherrscht. Kurz nach acht Uhr ist der Spuk mit einem Schlag vorbei. Das Geschirr klappert, das TV schickt seine Nachrichten in den leeren Raum. Mehr nicht, die Bar ist leer und verlassen und die eben noch aufgekratzten Schüler*innen drücken hoffentlich aufmerksam die Schulbank, während ich nicht weiß, was ich mit drei Stunden und Gepäck auf dem Rücken bis zur Abfahrt nach Arriondas in Llanes mache.

Llanes, ein quirliges Städtchen am Atlantik, am Fuß der Picos Hibeo, Llabres und Benzúa, ist für mich eine ganz besondere Stadt in Asturien. Es ist mein absoluter Lieblingsort am Camino del Norte. Es heißt, es sei nicht immer gut, an einen Ort zurückzukehren, den man kennt und Jahrelang in guter Erinnerung bewahrt hat. Der Paseo de San Pedro in Llanes bildet eine Ausnahme. Er ist die schönste Promenade, über die ich in Spanien flaniert bin. Und auch an einem Tag, an dem ein böiger Wind schwarze Wolkenberge über den Himmel fegt, die immer nur einen Augenblick die Sonne durchlassen, verliert der Paseo seinen Charme nicht. Hoch über Llanes, auf der Steilküste, die den Ort vor Wind und Wellen der Biskaya schützt, führt die Promenade des Heiligen Petrus nach Westen. Sie ist der Weg, auf dem der Camino del Norte die Pilger nach Ribadasella bringt. Die Ruine eines Wachturms ragt wie ein abgebrochener Zahnstumpf, der im Kiefer des Paseos steckt, ein Felsbogen, durch den eine Treppe hinab- und hindurchführt, mit einem Kreuz auf dem höchsten Punkt, das dem Meer und den ausfahrenden Fischern zugewandt ist, Holzbänke mit Blick auf das Meer und eine Allee brusthohen Nadelgesträuchs, das ist der Paseo de San Pedro.

Llanes ist eine der mittelalterlichen Stödte, an denen Spanien so reich ist. Eine Altstadt mit engen Gassen und gealterten Fassaden, mit einem Ausdruck im Gemäuer, dass viel gesehen hat. Zwei Paläste hinter hohen Mauern, aus groben Steinbrocken gefügt, mit von Wind und Regen zerfressenen Zinnen. Eine Grenze zwischen alt und neu gibt es nicht. Die Jahrhunderte fügen sich in Llanes nahtlos ineinander.

Und es gibt das LandArt-Kunstwerk in Llanes, eine Installation auf der Hafenmole, die kein geringerer entworfen hat als Agustín Ibarrola (1930-2023), die Los Cubos de la Memoria, die Würfel der Erinnerung, an der zerklüfteten Küste, deren Farbigkeit nicht nur das trübe Wetter heute verschluckt. Am besten zu sehen sind sie von oben, vom Paseo de San Pedro
Der Zeichner, Maler und Bilderhauer Agustín Ibarrola Goicoechea (1930-2023) ist ein interdisziplinärer Künstler, weder ein reiner Maler, noch ausschließlich ein Bildhauer, und neben Jorge de Oteiza und Eduardo Chillida, einer wichtigen baskischen Bildhauer der Gegenwart.Die Los Cubos de la Memoria auf der Mole des Hafens von Llanes sind nicht sein erstes Werk, dass die Beziehung des Menschen zur Natur thematisiert.
Sein bekanntestes Werk, El Bosque pintado de Oma, (baskisch: Omako basoa), der bemalte Wald von Oma (1982-1985), ist ein LandArt-Projekt der künstlerischen Bewegung Kunst und Natur. Der Wald gehört zum Reserva de la Biosfera de Urdaibai, wo Ibarrola auf einer Gruppe von lebenden Bäumen Graffiti angebracht hat, die aus bestimmten Positionen betrachtet, geometrische Figuren, Menschen und Tiere, bilden, die auf die menschliche Präsenz in der Natur aufmerksam machen, und auf die Erfordernisse der Koexistenz hinweisen.

Mit Studierenden der Universität Salamanca, Fakultät der Bildenden Künste, schuf er 1996, mit der Förderung der Eisenbahngesellschaft RENFE den Bosque de los Tótems, den Wald der Totems, eine Gruppe bemalter Eisenbahnschwellen, Totempfählen gleich, mit denen er die Geschichte des Waldes und die Verbindung zwischen der Natur und dem Erbe des Menschen ins Zentrum der Urbanität rückte.
Der Bosque de los Tótems wurde erstmals 1997 am Bahnhof Bilbao-Abando gezeigt, danach in den Bahnhöfen weiterer Städte, bevor er im Juli 1997 endgültig im Bahnhof Príncipe Pío in Madrid ankam.

Die Cubos de la Memoria in Llanes (2001-2003), die unterhalb des Paseo de San Pedros wie sind ein ausgestreckter Arm ins Meer greifen, sind eine gewagte und originelle Idee Ibarrolas, der die grauen und inaktiven Betonblöcke des Wellenbrechers, der den Fischereihafen der Stadt Llanes vor den Unbilden des Atlantiks schützt, in eine künstlerische Komposition verwandelte.

Mit Farbe und Bedeutung verlieh er den gleichförmigen Würfeln Ausdruck indem er ein funktionales und notwendiges Element in zu einem sehenswerten Wahrzeichen der Meereslandschaft der Stadt Llanes machte. Die Bilder der Würfel haben landeinwärts einen figurativen Charakter und stellen die physische Realität der Dinge dar. Die dem offenen Meer zugewandte Front zeigt 177 Gesichter, die auf 66 Würfel gemalt wurden. Ibarrolas harmonisch mit abstrakten Symbolen, oder Augen und Fischen, bemalte Würfel verbinden sich durch die Farbenspiele, deren erratische Kanten jeden Moment durch die einwirkenden Elemente Licht und Wasser aufbrechen. Er spielte mit der Geometrie und der Diskontinuität der Betonwürfel, nutzte die optischen Effekte, die sich mit dem Tageslicht und der Bewegung des Wassers ergeben.
Ibarrola würdigt mit seinem LandArt-Projekt die physischen Spuren die Menschen in der Landschaft hinterlassen, das kulturelle und landschaftliche Gedächtnis, das kulturelle Erbe von Llanes. Er bezieht sich mit seinem Werk auf das Meer, einst wirtschaftliche Grundlage und Lebensweise die Llaniscos.
Der berüchtigte Zahn der Zeit ist an Ibarrolas Kunstwerk nicht vorübergegangen. Jahrelange war es den stürmischen Angriffen der Biskaya und den häufigen Regenfällen ausgesetzt. Jetzt weisen Ibarrolas bemalte Würfel einen fortgeschrittenen Verfall auf. Die Stadtverwaltung von Llanes hat seit 2006 nicht die geringsten Maßnahmen zu seiner Erhaltung ergriffen, scheut die hohen Kosten und hält eine Invention für wirtschaftlich nicht rentabel. Nun sind die Farben beschädigt, Müll sammelt an und beeinträchtigt Ibarrolas Werk. Welchen Sinn macht es, ein Werk wie die Würfel der Erinnerung anzufertigen, wenn die Erben es nicht würdigen und nicht bereit sibd, es zu pflegen und zu erhalten?

Am frühen Nachmittag fahre ich hinauf in die Berge nach Arrondias. In Llanes scheint die Sonne, aber an den Bergen steigen schwarze Wolken auf. Schon die Busfahrt ist spektakulär. Die Landstraße von Ribadasella führt durch das Tal des Río Sella. Zu beiden Seiten des Flusses ragen Berge auf, die Gipfel graues Felsgestein oberhalb der Baumgrenze. Allem Anschein Unkenrufen zum Trotz scheint auch in Arriondas die Sonne als ich aus dem Bus steige.


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13 Oktober 2023

Der galicische Karneval


Was du siehst,
hängt von der Richtung ab,
in die du schaust.

Endlich zurück in Galicien. Nach einer Nacht, in der die Schnarcher wieder einmal den Schlafsaal beherrschten, verlasse ich die Altstadt von A Gudiña an der Gabelung Laza - Verin, wo der Camino Sanabrés zwei Varianten nach Ourense ermöglicht: die Südroute über Verin, wo der Caminho Português die Vía de la Plata erreicht, oder die landschaftlich reizvollere Etappe über Laza. Auf einem asphaltierten Höhenweg mäandert der Weg auf tausend Metern auf- und abwärts. Die Ausblicke über Galiciens Rollings Hills sind atemberaubend, die Landschaft weiter karg, die Vegetation spärlich und die wenigen Bäume klein und schmächtig. Endlose Heide. Gelb- und lilablühende Sträucher bedecken die Hänge der weich fließenden Hügellandschaft. Der Camino Sanabrés kreuzt mehrere Vendas, kaum Weiler zu nennen, ehemalige Raststätten an einem alten Handelsweg durch Galicien. In A Venda Do Capelabin bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht durch ein Geisterdorf wandere; verfallene Häuser, fast Ruinen. Selbst ein Hund, der einsam durch das Dorf streift, zieht sich vor mir zurück, als gehöre er nicht hierher. Die Bahnarbeiterunterkünfte am Rand von A Venda do Balaña stehen leer und verfallen, als ob es bereits Jahrzehnte her ist, dass hier jemand gewohnt hat. Der Ort besitzt einen Bahnhof an der alten Bahnstrecke, mit 182 Tunneln ein Meisterwerk der Ingenieurkunst. Ist erst einmal die neue AVE (Linea de Alta Velocidad Madrid - Ourense) fertig, die über Olmedo, Zamora, Pueblo de Sanabria und Lubián nach Ourense führt, dann versinkt die alte Trasse in der Bedeutungslosigkeit, und mit ihr die Ortschaften entlang ihrer Spur. Es sei denn, jemandem fällt es ein, einen regionalen Wanderweg vorzuschlagen. Weiter auf dem Galicien-Höhenweg bleibt der Blick über die Berge spektakulär, die wie hintereinander geschichtet wirken. Immer wieder überholen mich Roadrunner, die, ohne den Blick nach rechts oder links zu wenden, mit schnellem Stechschritt durch die Landschaft eilen, als ob sie schnell irgendwo ankommen müssen. Ein kleiner, kompakt gebauter Spanier, den ich das erste Mal auf den Pass von Dueña, hinauf ans Cruz de Santiago, gesehen habe, wo er auf die Straße abbog, überholt mich auch heute im Marschschritt. Aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass er gerade seinen Militärdienst absolviert hat, und sich so schnell nicht umstellen kann. Wie anders bewegen sich da die passiven Wanderer, die nichts leisten müssen, die in der Landschaft aufgehen, und viel langsamer vorwärtskommen. Ein letzter Pass, steil und steinig, rutschig auf zerbrochenen Schiefer, kleine Steinchen, wie gehäckselter Schrot unter den Sohlen. Überall ragen schräg geschichtete Schieferplatten aus dem Boden hervor. Braun verwittert, wirken sie zerbrechlich. Die dünnen Platten zerbrechen unter meinem Tritt wie morsches Holz. Der Abstieg nach Campobecerros. Meine Etappe neigt sich dem Ende zu, und ich kann den Weiler bereits am Fuß einer steilen Geröllhalde sehen, hier und da grüne Flecken krüppeliges Strauchwerk. Ein letztes Mal stolpere ich steil und rutschig abwärts, das Gefühl über gleitenden Untergrund zu gehen. Mit schmerzenden Knien erreiche ich die Herberge. Zwei Stunden später sind alle 18 Betten belegt.

22 Dezember 2022

Gar nicht weihnachtlich


Ich bekomme Weihnachtsgrüße ohne weihnachtlich gestimmt zu sein. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich Weihnachten immer zu Hause - wo auch immer - aber nie allein. In diesem Jahr ist meine Weihnachtsflucht eine ganz besondere. Bali! Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl, im Herzen oder im Kopf, wo die Gedanken kreisen, wenn das wirklich einen Unterschied macht. Sobald der geographische oder kulturelle Kontext fehlt, bleiben die Gefühle ohnehin aus. Nichts erreicht mich hier, dass sich irgendwie weihnachtlich angefühlt. Nicht der grüne Baum, kein Schmuck, keine Lieder, insbesondere nicht die üblichen Emotionen, die sich trotzdem nicht völlig abstellen lassen. Dazu sind sie zu sehr Kindheit. Für mich gibt es dieses Mal die Tropen als Weihnachtsgeschenk: schwül, heiß und immer wieder regnet es. Die Kerzen würden am Baum schmelzen, und der Baum in Flammen aufgehen, wenn die erste Kerze, weich in den Knien, zur Seite kippt.

21 Dezember 2022

Im Kiez nebenan


Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.
Walter Benjamin


Schon seit Jahren, schreibt Léon-Paul Fargue, träume er davon, einen Plan von Paris zu schreiben, für sehr geruhsame Leute, für Spaziergänger und Flaneure, die Zeit zu verlieren haben und Paris lieben. Er hat seinen Traum in seinem Buch Der Wanderer von Paris umgesetzt. Ich werde es ihm gleichtun, und meinen Spaziergängen durch Berlin nachschreiben. Auch Erling Kagge hat die Stadtteile von Oslo zu Fuß erkundet. Viel Inspirierendes für meine städtischen Wanderungen verdanke ich auch David Le Bretons Essay Lob des Gehens.

20 Oktober 2022

Kleine Gesichter


Wenn mir die Gelegenheit zu einer Reise fehlt, wendet sich mein Blick nach innen, in eine Vergangenheit, die mir allein gehört. Auf eine Spur, die mein Leben jahrzehntelang in die Welt getreten hat, die zurückführt zu den Bildern und Gefühlen, die in Erinnerungspalästen auf mich warten.

29 September 2022

Felsenwelt Schrammsteine


Wem es gefällt, und wer es dringend bedarf, der Enge und Un-Natur Berlins zu entfliehen, kann sich auf den Weg machen. In die Sächsische Schweiz, die gleich vor den Toren der Stadt liegt. Wer vergessen hat, wie sich Euphorie anfühlt, sich nicht mehr vorstellen kann, dass körperliche Anstrengung Dopamin und Serotonin ins Blut pumpt, braucht nur tief ins Felslabyrinth der Schrammsteine einzutauchen. Er wird sich wundern, wie Mensch sich fühlen kann.

Hinter meinem Wanderquartier führt ein Weg den Hang hinauf in den Wald. Ich bin früh aufgestanden. Als ich morgens aus der Tür trete, liegt die vom Tau noch feuchte Wiese in der warmen Morgensonne. Einige Meter nur, und der Weg auf die Ostrauer Ebenheit biegt steil den Hang hinauf unter die Bäume. Ein verwurzelter, mit Steinen übersäter Pfad bergan. Sehr schnell schweißtreibend, wie auf jeder anderen Wanderung auch. Habe ich mich erst einmal an die nasse Haut und das feuchte Hemd gewöhnt, macht der Schweiß mir nichts mehr aus. Meine Aufmerksamkeit wendet sich der Umgebung zu, ist schnell von der Natur um mich herum absorbiert. Ein großer Felsblock hat sich malerisch in einer steilen Serpentine niedergelassen, die nach ein paar hundert Metern in eine Landstraße mündet. Ein Fahrradweg, von Apfelbäumen gesäumt, verläuft am Straßenrand bis an den Ortsanfang von Ostrau. Nicht weit entfernt sehe ich die Schrammsteine durch morgendliche Dunstschleier, wie durch verregnete Fenster, von denen kondensierte Tropfen abperlen. Etwas abseits von ihnen, die schroffen Klippen des Falkensteins. Das Objekt meiner Begierde, zum Greifen nahe. Meine innere Spannung steigt, lange bevor ich selbst bergwärts wandere. Ich spüre mein Herz vor Aufregung schneller schlagen. Diesem Moment habe ich entgegengefiebert.

11 September 2022

Die schwarze Mühle im Koselbruch


Ich kann nicht, alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während meiner Wanderung auf der Via Regia kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Empfindungen abgelöst. Neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess der Verdrängung und Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und Begegnungen, mir geben, nicht alles, was mir unterwegs, auf Schritt und Tritt, einfällt, zustößt und zufällt, hat Beständigkeit. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens, bleibt erhalten, erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher, es wäre schön, doch es ist nicht realistisch. Abends sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in zwei getrennte Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen euphorischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet, aus dem wie ein Berggipfel im Nebelmeer ein besonders psychisch besetztes Detail herausragt. Die Ernte des Reisens!

09 September 2022

Kamm und Flöte


Eins


Was ist erforderlich, das Fremde angemessen darzustellen?


Es ereignete sich an einem meiner letzten Tage in Soë. Jedenfalls in der letzten Woche. Kurz vor meinem Abflug nach Bali. Eines Morgens steht Sapay unerwartet vor der Tür. Es ist noch früh. Für mich, weniger für ihn. Er ist schon einige Stunden unterwegs und muss sein Haus in Nunusunu vor Sonnenaufgang verlassen haben. Ich muss unbedingt noch jemanden kennenlernen, drängt er, fällt gleich mit der Tür ins Haus. Jemand wichtigen. Einen Mann. Er wohnt ganz in der Nähe, am Ende der Jalan Ahmed Yani. Dort, wo es zu den Bungalows der Provinzregierung hinaufgeht.
Meine Arbeit in Amanuban ist beendet. Meinen Abschied habe ich vor einer Woche aufwändig zelebriert. Alle sind gekommen. Reden und Geschenke wurden ausgetauscht. Ein Schwein wurde geschlachtet und gegessen. Und vieles mehr. Der Abschied vollendet. Was bleibt ist ordnen, packen, abreisen. Ob ich will oder nicht. Der neue Beamte im Kantor Imigrasi in Kupang hat ein Machtwort gesprochen. Über meine Wünsche hinweg, meine Beziehungen ignorierend, jeden meiner Freunde in Amanuban beleidigend. Er schickt mich zurück nach Deutschland, weil ich meine Aufenthaltsgenehmigung überzogen habe. Er ist Jawaner. Und das reicht. Wäre ich nicht Deutscher, sagt er, würde er mir Schwierigkeiten machen, die ich nicht vergessen werde.

03 Februar 2022

Im Herzen der Extremadura


Eh das Ziel mir war bewusst,
Wanderte ich leicht,
Habe manche Höhenlust,
Manches Glück erreicht
.
Hermann Hesse

Nur aus weiter Ferne nehme ich am Daheimgebliebenen teil. Es sind Splitter eines Lebens, das anderswo stattfindet und in der Erinnerung weiterlebt. Der lange und trübe Berliner Winter, der oft auf der Schwelle zur Depression schlittert, ging in diesem Jahr früh zu Ende. Es ist immer eine kleine Erlösung, wenn die Frühlingssonne den April beglückt, die Brust weitet, und zum ersten Mal über den Winter triumphiert. Während ich über nasse und schlammige Wege wandere, in feuchter Kleidung, unter viel zu oft grauem Himmel, der kein Foto wirklich gelingen lässt, liegen die Berliner in der Sonne und genießen die Wärme. Zu Hause dürstet die Natur, hier ertrinkt sie. Als ich meine Fußreise im April begann, träumte ich von mediterraner Frühlingssonne, nicht zu heiß, an einem blauen Himmel. Die Wirklichkeit hat meine Vorstellungen korrigiert, und mir neue Erfahrungen bereitet, auf die ich weder vorbereitet war, und die ich mir nicht gewünscht habe. Trotzdem frage ich mich: Ist dieser Frühling in Berlin noch ein Frühling oder ein viel zu früher Sommer?

15 September 2021

Das Museo del Bandolero in Ronda


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puente Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.

17 August 2021

Pilgern - einst und jetzt


Ein peregrinus war im frühen Mittelalter der Fremde, der aus welchen Motiven auch immer unterwegs war. Auch falsche Pilger, Räuber und Betrüger, konnten sich in diese Rolle hüllen, und ihre wahren Absichten verbergen, sodass Pilgerfahrten im Mittelalter weitaus gefährlicher waren, als sie es heute sind. Der mittelalterliche Pilger trug verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitmierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh dem Pilger einen offiziellen Rechtsstatus, den habitus peregrinorum, der ihn schützte und unterwegs unterstützte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben Pilgerhut und -umhang, sind im Jakobusbuch Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert, und machten ihn als Pilger kenntlich. Die Tasche war klein, fasste im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, nur wenig persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der alte Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab als dritter Fuß des Pilgers symbolisierte die göttliche Trinität. Der Pilger ein franziskanischer oder buddhistischer Betelmönch. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im 8. Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben.

30 April 2021

Unterwegs auf der Vía de la Plata


Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar
.
Mario Erdmann

Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und Lebensart und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die sich in einer Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist, und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.