Ich kann nicht, alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während meiner Wanderung auf der Via Regia kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Empfindungen abgelöst. Neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess der Verdrängung und Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und Begegnungen, mir geben, nicht alles, was mir unterwegs, auf Schritt und Tritt, einfällt, zustößt und zufällt, hat Beständigkeit. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens, bleibt erhalten, erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher, es wäre schön, doch es ist nicht realistisch. Abends sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in zwei getrennte Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen euphorischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet, aus dem wie ein Berggipfel im Nebelmeer ein besonders psychisch besetztes Detail herausragt. Die Ernte des Reisens!
11 September 2022
09 September 2022
Kamm und Flöte
03 Februar 2022
Im Herzen der Extremadura
Eh das Ziel mir war bewusst,
Wanderte ich leicht,
Habe manche Höhenlust,
Manches Glück erreicht.
Hermann Hesse
Nur aus weiter Ferne nehme ich am Daheimgebliebenen teil. Es sind Splitter eines Lebens, das anderswo stattfindet und in der Erinnerung weiterlebt. Der lange und trübe Berliner Winter, der oft auf der Schwelle zur Depression schlittert, ging in diesem Jahr früh zu Ende. Es ist immer eine kleine Erlösung, wenn die Frühlingssonne den April beglückt, die Brust weitet, und zum ersten Mal über den Winter triumphiert. Während ich über nasse und schlammige Wege wandere, in feuchter Kleidung, unter viel zu oft grauem Himmel, der kein Foto wirklich gelingen lässt, liegen die Berliner in der Sonne und genießen die Wärme. Zu Hause dürstet die Natur, hier ertrinkt sie. Als ich meine Fußreise im April begann, träumte ich von mediterraner Frühlingssonne, nicht zu heiß, an einem blauen Himmel. Die Wirklichkeit hat meine Vorstellungen korrigiert, und mir neue Erfahrungen bereitet, auf die ich weder vorbereitet war, und die ich mir nicht gewünscht habe. Trotzdem frage ich mich: Ist dieser Frühling in Berlin noch ein Frühling oder ein viel zu früher Sommer?
15 September 2021
Das Museo del Bandolero in Ronda
Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.
Rainer Maria Rilke
Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puente Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.
17 August 2021
Pilgern - einst und jetzt
Ein peregrinus war im frühen Mittelalter der Fremde, der aus welchen Motiven auch immer unterwegs war. Auch falsche Pilger, Räuber und Betrüger, konnten sich in diese Rolle hüllen, und ihre wahren Absichten verbergen, sodass Pilgerfahrten im Mittelalter weitaus gefährlicher waren, als sie es heute sind. Der mittelalterliche Pilger trug verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitmierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh dem Pilger einen offiziellen Rechtsstatus, den habitus peregrinorum, der ihn schützte und unterwegs unterstützte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben Pilgerhut und -umhang, sind im Jakobusbuch Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert, und machten ihn als Pilger kenntlich. Die Tasche war klein, fasste im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, nur wenig persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der alte Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab als dritter Fuß des Pilgers symbolisierte die göttliche Trinität. Der Pilger ein franziskanischer oder buddhistischer Betelmönch. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im 8. Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben.
30 April 2021
Unterwegs auf der Vía de la Plata
Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar.
Mario Erdmann
Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und Lebensart und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die sich in einer Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist, und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.
22 April 2021
Pilgern? Weshalb überhaupt?
Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert, schreibt Paul Coelho in der im eigenen, oft als schwülstig empfundenen Sprache. Doch es gibt Ausnahmen wie bei Henry David Thoreau, der nicht im Verdacht steht, einer leeren Spiritualität das Wort zu reden. In seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern fordert auch er seine Leser auf, in Richtung ihrer Träume zu leben. Dann werden sie Erfahrungen machen, verspricht er, die sie sich gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Fußreisen, die sich in postmodernen Zeiten vollständig von der ideologischen Doktrin des Pilgerns gelöst und dafür einen Hauch Subversivität gewonnen haben.
06 Oktober 2020
Intermezzo Grünes Band
Der Blues des Wanderns trägt
den Abschied im Gepäck.
Früh am Morgen hat dichter Nebel die Welt am Rennsteig verschluckt. Weit sehen kann ich nicht, denn die wabernde Unschärfe hält meine Umgebung verborgen. Der Weg, der an meinen Füßen beginnt, schlüpft nicht weit entfernt unter die feuchte Decke und bleibt verschwunden. Daran ändert auch nicht, dass ich weiter gehe. Mir kommt es vor, als ob ich Watte vor mir herschiebe, die sich nicht wegschieben lässt, und sich beharrlich an den Abstand zwischen uns klammert. Pedantisch, denke ich, so zwanghaft darauf zu bestehen, sich nicht näher zu kommen. Es riecht erdig, etwas modrig, die Luft ist feucht, benetzt mir Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzen im kühlen Wind. Ich kann sie fühlen, nicht sehen, denn sie verstecken sich vor mir im grauen Nichts. Die Straßen von Schmiedefeld am Rennsteig liegen verlassen. Niemand geht zur Arbeit oder zur Schule. Erst an der Landstraße wird es laut. PKW und Schwerverkehr donnern lärmend an mir vorbei als gibt es niemanden so früh am Tag. Kein Mensch ist unterwegs, nur ein braun gescheckter Hund mit feuchtem Fell schnuppert in alle Ecken. Ich warte lange auf den Bus, der so früh am Morgen bereits verspätet ist. Er kommt erst, als ich ihn fast aufgegeben habe. Und er ist leer. Der Fahrer sitzt in einem Verschlag, isoliert hinter einem durchsichtigen Vorhang aus Plexiglas, der an Ringen von einer Stange herunterhängt. Geschützt vor dem Virus, der die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat. Ganz unten ist ein schmaler Schlitz offengeblieben, durch den ich meine Münzen in eine Mulde legen kann, durch den mir der Fahrer den Fahrschein zuschiebt. Nach Neustadt am Rennsteig bleibe ich der einzige Fahrgast. Für mich eine angenehm maskenfreie Fahrt, was inzwischen schon keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Für den Betreiber ein Verlustgeschäft. Noch einmal schleicht sich das Gefühl der letzten Tage ein, allein auf der Welt zu sein.
25 September 2020
Ankunft in Amanuban
04 Februar 2020
Ein Greenhorn in Amarasi
15 Dezember 2019
Der Yogin im Hinterwald
Im Register der rituellen Rede Tonis ist immer nur von Banam die Rede, auch wenn die Landschaft jetzt Amanuban genannt wird. Das entsprechende Ortsnamenbündel, das Amanuban in diesen Texten repräsentiert lautet: Nenu und Banam, Bunu und Bi Teno, vier Orte, die als Ursprungsort einer Migration aufgefasst werden müssen, von denen einer Banam heißt, der so bedeutend war, dass er die Landschaft und das politische Reich bezeichnete. Die Amanuban benachbarten Territorien Molo und Miomafo besitzen ein eigenes, unterscheidenes Ortsnamenbündel, das die Migrationsgeschichte des Reichs des Sonba`i nachzeichnet: Molo und Miomafo, Pai Neno und Oenam. Das moderne Amanuban ist ein Verwaltungsbezirk der indonesischen Administration, politisch unter javanischer Hegemonie. Kulturell und politisch ist Amanuban besetztes Land. In der Schule lernen und sprechen die Kinder Indonesisch. Das schriftlose Uab Meto, die Landessprache, ist Umgangssprache in den Dörfern. Disqualifiziert zum Dialekt. Dawan, Hinterwälder, oder erst recht fantasielos Timoreezen, nannten die niederländischen Besatzer und frühen Ethnographen verächtlich die einheimische Bevölkerung der Atoin Meto. Als Hinterwälder, Tagediebe, Wegelagerer und gefährliche Kopfjäger sind sie in die Berichte der niederländischen Missionare, Händler und Reisenden eingegangen und abgewertet worden. Ein ethnisches Vorurteil selbstverständlich. Sie selbst nennen sich die Menschen des trockenen Landes: Atoin Pah Meto. Westtimor ist Savanne seit die Chinesen, Araber und zuletzt die Niederländer und Portugiesen die einst reichen Sandelholzwälder der Insel bis auf den letzten Baum abgeholzt haben. Als die verbliebenen Schiffe der Magellan-Weltumseglung unter Kapitän Juan Sebastián Elcano die Nordküste Timors Mitte des 15. Jahrhunderts erreichten, war Timor eine von Sandelholzbäumen bedeckte Insel, ein gigantischer Sandelholzwald, von dem nichts geblieben ist. So jedenfalls berichtet es der Bordchronist der Expediton, Antonio Pigafetta. Eine rezente Wiederaufforstung: bislang negativ. Bis auf einige wenige ökologische Projekte, meist mit ausländischen Geldern finanziert. Tief im Boden der verkarsteten Insel versteckt liegen riesige unterirdische Wasserreservoirs, die ungenutzt ins Meer abfließen. Landwirtschaft ist ein Glücksspiel mit dem Monsun. Hunger noch nicht ganz Vergangenheit.
08 November 2019
Am Achat-Kap
andere welten verspricht
der blick durchs fenster