06 Oktober 2020

Intermezzo Grünes Band

Der Blues des Wanderns trägt
den Abschied im Gepäck.

Früh am Morgen hat dichter Nebel die Welt am Rennsteig verschluckt. Weit sehen kann ich nicht, denn die wabernde Unschärfe hält meine Umgebung verborgen. Der Weg, der an meinen Füßen beginnt, schlüpft nicht weit entfernt unter die feuchte Decke und bleibt verschwunden. Daran ändert auch nicht, dass ich weiter gehe. Mir kommt es vor, als ob ich Watte vor mir herschiebe, die sich nicht wegschieben lässt, und sich beharrlich an den Abstand zwischen uns klammert. Pedantisch, denke ich, so zwanghaft darauf zu bestehen, sich nicht näher zu kommen. Es riecht erdig, etwas modrig, die Luft ist feucht, benetzt mir Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzen im kühlen Wind. Ich kann sie fühlen, nicht sehen, denn sie verstecken sich vor mir im grauen Nichts. Die Straßen von Schmiedefeld am Rennsteig liegen verlassen. Niemand geht zur Arbeit oder zur Schule. Erst an der Landstraße wird es laut. PKW und Schwerverkehr donnern lärmend an mir vorbei als gibt es niemanden so früh am Tag. Kein Mensch ist unterwegs, nur ein braun gescheckter Hund mit feuchtem Fell schnuppert in alle Ecken. Ich warte lange auf den Bus, der so früh am Morgen bereits verspätet ist. Er kommt erst, als ich ihn fast aufgegeben habe. Und er ist leer. Der Fahrer sitzt in einem Verschlag, isoliert hinter einem durchsichtigen Vorhang aus Plexiglas, der an Ringen von einer Stange herunterhängt. Geschützt vor dem Virus, der die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat. Ganz unten ist ein schmaler Schlitz offengeblieben, durch den ich meine Münzen in eine Mulde legen kann, durch den mir der Fahrer den Fahrschein zuschiebt. Nach Neustadt am Rennsteig bleibe ich der einzige Fahrgast. Für mich eine angenehm maskenfreie Fahrt, was inzwischen schon keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Für den Betreiber ein Verlustgeschäft. Noch einmal schleicht sich das Gefühl der letzten Tage ein, allein auf der Welt zu sein.

25 September 2020

Ankunft in Amanuban


Im Zweilicht der kurzen Dämmerung der Tropen hält ein großer Überlandbus aus Kupang in Oebesa. Die vierstündige Fahrt von Kupang herauf war anstrengend, der Bus bis auf den letzten Platz besetzt. Im Gang waren die Notsitze ausgeklappt, Säcke, Taschen und an den Beinen gefesseltes Geflügel verstopfte die letzten freien Stellen. Unter die linke vordere Sitzbank hatte man mitleidlos ein Schwein geklemmt, dessen ängstliches Grunzen schwer zu ertragen war. Auf dem Dach des Busses sah es nicht viel besser aus. Die meisten Fenster fehlten, die übriggebliebenen und die beiden Türen standen offen. Ich saß fröstelnd im Fahrtwind, das Hemd noch feucht von der schwülen Luft der Ebene, die auch Nachts anhielt. Erst als der Bus an Höhe gewann, wurde es kühler. Den einheimischen Passagieren ging es nicht besser. Sie hüllten sich in ihre farbenprächtigen Tücher und blickten stoisch in die Nacht. An der hinteren Tür hatte es sich der Schaffner bequem gemacht, ein junger Mann, der in jedem Ort aus der Tür hing, und den Passanten die Fahrtroute zurief.

04 Februar 2020

Ein Greenhorn in Amarasi


Für meinen ersten Ausflug aus dem Schutz der Stadt wähle ich Baun, eine Ortschaft im Regierungsbezirk Kupang; Landkreis Westamarasi. Dieses Mal will ich es allein versuchen, auf dem Land, mich von jeglicher Bevormundung durch Nachbarn oder Behörden befreien. Keine Empfehlung mehr, nicht mehr an die Hand genommen werden von Gutmenschen, die glauben, besser zu wissen, wonach ich suche, als ich selbst. Meine Versuche, eine Basis für meine Forschung zu finden, waren bisher enttäuschend. Es fällt mir noch immer schwer, mich für eine Region, eine bestimmte Ortschaft, zu entscheiden.

15 Dezember 2019

Der Yogin im Hinterwald


1 Simon Petrus ist ein Asket. Ein Übender. Ein sich bewusst Werdender. Simon Petrus ist ein Mensch. Was ist er noch? Er ist ein Banamtuan, ein Herr von Banam. Und als ein Banamtuan schaut er auf eine Reihe bedeutender Ahnen zurück. Banam heißt heute Amanuban, ein Landkreis der modernen indonesischen Bürokratie. Im Herzen Westtimors gelegen, eine Savanne, ein hügeliges Land, sanfte Hänge, schroff abfallende Schluchten, bizarre Felsformationen (fatu), Skulpturen, von urzeitlichen Bildhauern in die Landschaft geschlagen. Fantastisch!

08 November 2019

Am Achat-Kap


der kuss der freiheit
andere welten verspricht
der blick durchs fenster


1 Drei Regentage in Orgíva sind genug. Ich habe mich von der Enge des österlichen Treibens in Granada erholt. Als ich in Orgíva eintraf, ahnte ich nicht einmal, welche Erinnerungen der Ort ans Licht ziehen würde. In einem Zimmer, gerade einmal groß genug für ein Bett, in einem Städtchen ohne jede Spur touristischen Rummels. Ein paar Tage, ohne mich durch Scharen von Besuchern aus aller Welt zu schieben. Orgíva, die kleine Provinzstadt am Südhang der majestätischen Sierra Nevada, liegt in einer Schwemmlandebene, auf dem Hochufer des Río Chico; nicht verschlafen, aber lange nicht so umtriebig wie Lanjarón mit seinem Kurbetrieb und den vielen älteren Badegästen. Orgívas Charme wirkt versteckt. Er will gefunden werden. Lanjarón gibt sich mondän. Beide Orte beanspruchen, das Tor in die Alpujarras zu sein: für die Durchreisenden, die Wanderer, für die Nostalgiehippies mit ihren Rucksäcken und die Kurgäste mit den großen Rollkoffern. Der fünftausend Seelenort ist ein recht lebendiges, regionales Zentrum mit Markt und Busverkehr zu allen wichtigen Zielen in den Alpujarras, auf halbem Weg zwischen Granada und Almería, die Hauptstadt der Alpujarra Granadina. Orgíva liegt an einem Scheideweg, dort wo sich der Weg in die Alpujarra Alta und Alpujarra Baja gabelt. Hier ist es pauschaltouristenfrei, denn es gibt nichts Aufregendes, nichts zu besichtigen und noch weniger exotische Fotomotive. Einsam stehen die Statuen von zwei Männern neben der Kirche, die in der 1930er Jahren zu Besuch kamen. Sind sie gestrandet wie ich, oder verfolgten sie einen bestimmten Zweck, eine Rast auf dem Weg zur Kur nach Lanjarón. In ihren langen Mänteln stehen sie gelassen neben der Kirche des Sterbenden Christus - Cristo de la Expiración - aus der Bildhauerschule von Martínez Montanés. Aufrechtstehend schauen sie die Straße hinauf, als gäbe es dort mehr zu sehen, als ich erkennen kann. Sie sind schon lange tot und weltberühmt: der Komponist Manuel de Falla und der Dichter Federico García Lorca. Zwei Ikonen der spanischen Kultur. Die Kirche ist stattlich, doch nichts Besonderes, wäre da nicht ihr schöner Glockenklang, der viertelstündlich die Zeit verkündet, denn es ist leicht, sie hier zu vergessen. Für den, der aus den Bergen der Alpujarras kommt, ist die Umgebung uninteressant und langweilig. Er ist so mit den Bildern einer grandiosen Berglandschaft erfüllt, dass es ihm schwer fällt, seinen Blick auf die vielen Kleinigkeiten zu fokussieren, die nichts Spektakuläres, aber viel Einfachheit haben. Sie helfen dem Enthusiasten dabei, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Trotzdem kann mich nichts zum Wandern verführen. Ich bin noch zu sehr beeindruckt. Die Vorstellung, Orgíva und mich weiter träumen zu lassen, gefällt mir.

02 Oktober 2019

In den Gassen von Cádiz


nach der wanderung
tauche ich meine füße
bis ins abendrot


1 Cádiz ist die älteste Stadt Europas, tief im Süden des Kontinents. Sie ist die westlichste, und zugleich die südlichste. Von allen Seiten meergeküsst. Ein schmaler Streifen dem Atlantik abgetrotzte Erde verbindet die Stadt mit dem Land.

Die Zeit zerfließt, und Dalis weiche Uhren erscheinen mir plötzlich real. Ein weißes Kaninchen kreuzt meinen Weg und ein Siebenschläfer denkt auf einer verrückten Teegesellschaft über ein verändertes Bewusstsein nach: zu atmen, wenn ich schlafe, ist dasselbe wie zu behaupten, ich schlafe, wenn ich atme. Ein schönes Koan, über das sich lange nachzudenken lohnt. Grace Slick, die Frontfrau von Jefferson Airplane, inspiriert diese Replik auf dem legendären Woodstock-Festival 1969 zu einer Hymne, die sie der versammelten Hippie-Gemeinde entgegenruft: when logic and proportion have fallen sloppy dead / remember what the doormouse said / feed your head, feed your head. Wenn ich will, kann ich die alltägliche Realität verwerfen, wenn sie nicht zu meinen Träumen passt.

19 September 2019

Ganesha in Bali


Ich sehe überall in Bali Ganesha-Statuen in den Hauseingängen, vor den Geschäften und Restaurants, an Kreuzwegen und im Schatten mächtiger Waringinbäume. Die meisten sind reich geschmückt, tragen Blumenketten um den Hals, viele von ihnen sind bunt bemalt, glänzen in ihrem neuen Kleid. In ihrem Schoß und am Sockel ihres Throns häufen sich die Opferkörbchen und steigt betörender Duft zu ihnen hoch. Ganesha fühlt sich wohl und zuhause in Balis wohlhabenden Kreisen, und wäre er nicht aus Stein, er würde vor Fett glänzen. Zufrieden und selbstgefällig präsentiert er seinem wohlgenährten, runden Kugelbauch, den er von den Passanten, die bei ihm vorübergehen, bewundern lässt. Er ist ein Patriarch, ein Beschützer und Wohltäter, der sich seiner Beliebtheit bewusst ist. Siwas elefantenköpfiger Sohn genießt Prestige und er ist überall in Bali populär, wo sich Touristen niedergelassen haben. Das war vor 20 Jahren nicht so, aber inzwischen hat er den im Tourismus engagierten Balinesen Reichtum und Glück beschert.

10 September 2019

Sommer im Briesefließ


Ein schöner Tag. Ein perfekter Tag um zu wandern. Die Sonne scheint warm vom blauen Himmel, über den dicke Pakete weißer Wolken ziehen. Immer wieder machen die Kumuluswolken der Sonne ihren Auftritt streitig, doch wenn sie sich durchsetzt, wird es gleich warm. Trotzdem weht ein kühler Wind. Abwechselnd wird mir warm oder ich friere wieder, aber dafür schwitze ich nicht, was mir gefällt. Es ist immer ein Kompromiss zwischen der richtigen Kleidung und der herrschenden Temperatur. Mir macht es weniger aus, gelegentlich zu frieren, als zu viel Gewicht auf dem Rücken zu tragen. Gefüllte Wasserflaschen sind mir lieber als eine wärmende Jacke; jedenfalls im Frühling und Sommer. 27 Grad sollen es heute werden. Ich habe mich für ein kurzärmeliges, dünnes Hemd entschieden, und die Jacke zuhause gelassen. Im Wind bedauere ich es beinahe, denn es sind gefühlt höchstens zehn Grad.

07 März 2019

Der Baum von Guernika


Wir träumen von Reisen in das Weltall.
Ist denn das Weltall nicht in uns?
Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.
Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg
.
Novalis

Gernika! Der Name hat einen schrecklichen Klang. Er lässt einen bitteren Geschmack zurück. Für die baskische Bevölkerung muss Picassos Gemälde im Zentrum der Stadt eine ständige Mahnung sein. Angesichts dieses Schreckens und der Zerstörung hätte es die ETA nie geben dürfen. Die Aufgabe der Kreativen besteht darin sich öffentlich zu machen. Pilgern bietet die Möglichkeit der unaufgeregten Besinnung auf das Wesentliche, ist Vorbereitung auf den Prozess der Veräußerung eigener Betroffenheit, die sich in den Erlebnissen und Erfahrungen spiegelt, mit denen man in dieser Welt besser leben kann. Mein affektives Betroffensein durch die Erfahrungen mit der Lebenswelt, gestaltet den inneren Reflex auf meine Wahrnehmungen.

11 Dezember 2018

Das Glück des Gehens: Dritter Teil


Ich wünsche, ich wäre ein Baum! Stark verwurzelt in der Erde, streckt er sich dem Himmel entgegen. Doch ich bin kein Baum, deshalb kann ich nicht bleiben.

Fußreisen, einfaches Gehen, Schritt für Schritt, bietet viele Vorteile für Geist und Körper. Ein alter Terminus hat in der modernen Reiseliteratur wieder Fuß gefasst: Solvitur ambulando: Es löst sich durch Gehen, schlug der Heilige Augustinus für ein Gedankenexperiments des Zenon von Elea vor. Platon und seine Schule lehrten einen objektiven Zeitbegriff, Für sie war die Zeit die Bewegung von Himmelskörpern, die Vollendung eines Tages, die Bewegung von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der Vorsokratiker Zenon beschäftigte sich insbesondere mit dem Verhältnis von Raum, Zeit und Bewegung. Mit seinem Konzept der unendlichen Teilbarkeit von Raum und Zeit wollte er beweisen, dass wir nie an ein Ziel ankommen. Sein bekanntestes Paradoxon, der Trugschluss von Achilles und der Schildkröte, behauptet, dass ein schneller Läufer einen langsamen Läufer nicht überholen kann, sofern er jenem einen Vorsprung gewährt. Diogenes von Sinope, Skeptiker und der Bedürfnislosigkeit des Kynismus verschrieben, war vielleicht der Erste, der Zenons Behauptung, Bewegung sei nicht real, widersprach, indem er aufstand und herumging und so einen Zusammenhang zwischen Bewegung und Zeit demonstrierte. Von einem Ziel ist nirgendwo die Rede.

05 Dezember 2018

Eine Pilgeroase in Crotzwitz


Jede Begegnung,
die unsere Seele berührt,
hinterlässt eine Spur,
die nie ganz verweht

Lore-Lillian Boden


Ich nehme Abschied von Astrid und Allan, meinen Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer in Bautzen geteilt habe. Die beiden stehen gerade auf, als ich aufbreche. Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er spricht mich auf die beiden an, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. "Das geht nicht," ereifert er sich, "ich er bekomme Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern. Eine Pilgerherberge ist kostenlos und jeder weiß, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden kann." Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, und ziehe meines Wegs. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben.
Ich finde den Pilgerweg wieder nicht gleich wieder und muss mehrmals fragen, bevor ich den richtigen Weg aus Bautzen finde. Ich werde in verschiedene Richtungen geschickt, laufe den Berg zur Altstadt gleich mehrfach hinauf und hinunter. Zwischen Spree und äußerer Stadtmauer verlasse ich die Stadt. Am Stadtrand treffe ich unerwartet meine Pilgerfreunde wieder, die an einer Kreuzung stehen, und ihre Karte befragen. Ein kurzes Hallo, und jeder zieht seiner Wege. Ich gehe die langsam ansteigende Straße nach Salzenfurt voraus, die aus Bautzen herausführt. Schon bald habe ich Astrid und Allan, die hinter mir zurückbleiben, aus den Augen verloren.

30 November 2018

Alte Wege, neue Spuren


Eins


Schichten statt Geschichten!
Hubert Fichte

Pilgern, wie jede Reise, ist eine Bewegung im Raum, die nachfassende Erinnerung eine Bewegung in der Zeit. Die schreibende Wiederholung der Erfahrung meiner Fußreise auf der Via Regia bildet nicht allein den Ort ab, auf den sich meine Erinnerung bezieht. Frühere Erlebnisse, Bilder, Wege oder Vorbilder mischen sich ein und verändern die Erfahrung zu einem fiktional wirkenden Erlebnis. So ist es gewesen, so hätte es sein können, bilden eine unauflösbare Melange. Bewusst gewordenes, wieder bewusst werdendes. Was war einst Faktum, was ist jetzt Fiktion? Sigmund Freud spricht von einem inneren Ausland, während ich von erinnerten Ausland spreche. Kann ich es durch die gleiche Analyse erkunden, mit der Freud dem Verdrängten auf der Spur war.?
Reisen und erinnern: Der Weg der Erinnerung führt durch die Tiefe innerer Räume. Reiseschreibung, weil das entfernte -be- zur sehr darüber hinwegtäuscht, dass es um subjektive Situationen handelt, eine neutrale Dokumentation vorspiegelt, die es nicht geben kann. Über das Fremde kann ich nicht angemessen schreiben. Meine Aufzeichnungen verweigern sich der rückblickenden Vereindeutigung. Der retrospektive Blick ist Hervorbringung, nicht Nachahmung. Erinnern ist immer eine Konstruktion des einst Gewesenen, das in der Realität so nie existiert hat.
Ein Reisender befindet sich auf seiner spirituellen Queste, die tief in ihn hineinreicht. Zurück gekommen, will er verborgene Schichten ins Licht des Bewusstseins heben. Vielleicht nennt Hubert Fichte seine Texte deshalb