22 Dezember 2022

Gar nicht weihnachtlich


Ich bekomme Weihnachtsgrüße ohne weihnachtlich gestimmt zu sein. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich Weihnachten immer zu Hause - wo auch immer - aber nie allein. In diesem Jahr ist meine Weihnachtsflucht eine ganz besondere. Bali! Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl, im Herzen oder im Kopf, wo die Gedanken kreisen, wenn das wirklich einen Unterschied macht. Sobald der geographische oder kulturelle Kontext fehlt, bleiben die Gefühle ohnehin aus. Nichts erreicht mich hier, dass sich irgendwie weihnachtlich angefühlt. Nicht der grüne Baum, kein Schmuck, keine Lieder, insbesondere nicht die üblichen Emotionen, die sich trotzdem nicht völlig abstellen lassen. Dazu sind sie zu sehr Kindheit. Für mich gibt es dieses Mal die Tropen als Weihnachtsgeschenk: schwül, heiß und immer wieder regnet es. Die Kerzen würden am Baum schmelzen, und der Baum in Flammen aufgehen, wenn die erste Kerze, weich in den Knien, zur Seite kippt.

21 Dezember 2022

Im Kiez nebenan


Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.
Walter Benjamin


Schon seit Jahren, schreibt Léon-Paul Fargue, träume er davon, einen Plan von Paris zu schreiben, für sehr geruhsame Leute, für Spaziergänger und Flaneure, die Zeit zu verlieren haben und Paris lieben. Er hat seinen Traum in seinem Buch Der Wanderer von Paris umgesetzt. Ich werde es ihm gleichtun, und meinen Spaziergängen durch Berlin nachschreiben. Auch Erling Kagge hat die Stadtteile von Oslo zu Fuß erkundet. Viel Inspirierendes für meine städtischen Wanderungen verdanke ich auch David Le Bretons Essay Lob des Gehens.

20 Oktober 2022

Kleine Gesichter


Wenn mir die Gelegenheit zu einer Reise fehlt, wendet sich mein Blick nach innen, in eine Vergangenheit, die mir allein gehört. Auf eine Spur, die mein Leben jahrzehntelang in die Welt getreten hat, die zurückführt zu den Bildern und Gefühlen, die in Erinnerungspalästen auf mich warten.

Mitte der Sechziger. Ich war vierzehn, vielleicht auch schon fünfzehn, ich weiß es nicht mehr genau. Nachkriegsjahre. Ich wuchs inmitten einer reaktionären und kleinbürgerlichen Welt auf, die noch von der Atmosphäre des Faschismus bestimmt war. Ich konnte gar nicht so viel bestraft werden, wie ich aus der Rolle fiel, die Eltern und Lehrer für mich konfiguriert hatten. Das bedeutete: autoritäre Bezugspersonen, leibfeindliche Sexualmoral, erstarrte Regeln und Werte, und Erwachsene, die nicht so handelten, wie sie es von uns verlangten. Ich schwärmte für die Musik der Band The Small Faces. Unter anderen, denn in diesen Jahren schossen sie in einer Vielfalt aus dem Boden, wie Unkräuter, nicht zu bremsen von den Sanktionen, die unsere Eltern und Lehrer Erziehung nannten. Frische Triebe nach einem warmen Frühlingsregen auf den Trümmern einer gebrochenen Gesellschaft. Eins ihrer Alben heißt from the beginning, ihr zweites, und signalisiert, worum es geht. Um einen Neuanfang. My Generation von The Who, eine Hymne, musikalisch so progressiv, dass man sie mittlerweile als den ersten Punksong betrachtet. Auf dem Small-Faces-Cover: fünf Jüngelchen, College Boys, noch grün hinter den Ohren. Jungs wie ich. Sie setzten eine Bewegung in Gang, zusammen mit den vielen anderen, die auch nicht älter waren. Eine Bewegung, die Grenzen sprengte. Von Vietnam, Studentenbewegung und Anti-Atom-Bewegung war noch nicht die Rede. Das kam erst später. Dafür Rote-Punkt-Aktion, das Che-Guevara-Haus in Aachen und der Club Liberté. Und wir, wir gründeten unseren ersten Debattierclub: IDA - Information, Diskussion, Aktion. Im Gefolge von James Dean, der in Jenseits von Eden und in denn sie wissen nicht, was sie tun den Generationskonflikt zum Modell des Widerstands propagierte. Mit diesen Idolen und ihren Botschaften wandten wir uns gegen die Väter, die, versehrt durch das Trauma von zwei Kriegen wie Gespenster ihren Routinen folgten, ängstlich bemüht, sie zu bewahren, um nicht in der Dunkelheit in ihrem Inneren zu versinken. Die ersten Gedanken an eine politische Revolte leuchteten am Horizont. Wir waren Idealisten. Und selbstbezogen, hedonistisch, narzisstisch. Denn zuerst wollten wir uns selbst befreien. Bands wie die Small Faces waren die Aufsteher, Vorbilder und Leuchttürme, um den Kurs zu halten. Visionäre der Tat, gegen eine Gesellschaft, die sich schuldig gemacht hatte, Freiheit und Frieden verraten zu haben. Über ihrem Aufbruch prangt das Label: The Birth of Rock n´Roll. Sie waren eine der ersten. Danach war alles anders.

29 September 2022

Felsenwelt Schrammsteine


Wem es gefällt, und wer es dringend bedarf, der Enge und Un-Natur Berlins zu entfliehen, kann sich auf den Weg machen. In die Sächsische Schweiz, die gleich vor den Toren der Stadt liegt. Wer vergessen hat, wie sich Euphorie anfühlt, sich nicht mehr vorstellen kann, dass körperliche Anstrengung Dopamin und Serotonin ins Blut pumpt, braucht nur tief ins Felslabyrinth der Schrammsteine einzutauchen. Er wird sich wundern, wie Mensch sich fühlen kann.

Hinter meinem Wanderquartier führt ein Weg den Hang hinauf in den Wald. Ich bin früh aufgestanden. Als ich morgens aus der Tür trete, liegt die vom Tau noch feuchte Wiese in der warmen Morgensonne. Einige Meter nur, und der Weg auf die Ostrauer Ebenheit biegt steil den Hang hinauf unter die Bäume. Ein verwurzelter, mit Steinen übersäter Pfad bergan. Sehr schnell schweißtreibend, wie auf jeder anderen Wanderung auch. Habe ich mich erst einmal an die nasse Haut und das feuchte Hemd gewöhnt, macht der Schweiß mir nichts mehr aus. Meine Aufmerksamkeit wendet sich der Umgebung zu, ist schnell von der Natur um mich herum absorbiert. Ein großer Felsblock hat sich malerisch in einer steilen Serpentine niedergelassen, die nach ein paar hundert Metern in eine Landstraße mündet. Ein Fahrradweg, von Apfelbäumen gesäumt, verläuft am Straßenrand bis an den Ortsanfang von Ostrau. Nicht weit entfernt sehe ich die Schrammsteine durch morgendliche Dunstschleier, wie durch verregnete Fenster, von denen kondensierte Tropfen abperlen. Etwas abseits von ihnen, die schroffen Klippen des Falkensteins. Das Objekt meiner Begierde, zum Greifen nahe. Meine innere Spannung steigt, lange bevor ich selbst bergwärts wandere. Ich spüre mein Herz vor Aufregung schneller schlagen. Diesem Moment habe ich entgegengefiebert.

11 September 2022

Die schwarze Mühle im Koselbruch


Ich kann nicht, alle Gedanken, Gefühle und Eindrücke aufschreiben, die während meiner Wanderung auf der Via Regia kommen und gehen. Sie sind an ihren Ort und an ihre Zeit gebunden. Ein paar Schritte später werden sie von anderen Empfindungen abgelöst. Neue Wahrnehmungen, Erinnerungen und Faszinationen schieben sich ungefragt an ihre Stelle. Ein fließender Prozess der Verdrängung und Erneuerung. Nicht alles, was die Natur, die Landschaften und Begegnungen, mir geben, nicht alles, was mir unterwegs, auf Schritt und Tritt, einfällt, zustößt und zufällt, hat Beständigkeit. Ich sollte mein Tagebuch in Schritte gliedern, nicht in Kapitel. Die Kontinuität, der emotionale und mentale Flow des Gehens, bleibt erhalten, erinnert im Vorübergehen an die Vergänglichkeit jeder Existenz. Sicher, es wäre schön, doch es ist nicht realistisch. Abends sind viel zu oft unterschiedlich vage Erinnerungen ohne ihren Kontext übriggeblieben, die ihren Weg aufs Papier finden. Würde ich unterwegs ständig innehalten, den Rhythmus des Gehens unterbrechen, meine Aufmerksamkeit auf konkrete Details richten, mein Notizbuch hervorholen, um in die Welt des Schreibens eintauchen, das ganzheitlich leibliche Erlebnis einer Wanderung zerfiele in seine Einzelteile: sinnlich und kognitiv, emotional und mental, innen und außen, profan und sakral. Es wäre eine seltsame Fußreise, die sich nicht mehr vom Schreiben unterscheidet. Zu intensive Reflexion schadet dem leiblichen Spüren, denn die Gedanken schneiden die sinnliche Wahrnehmung von ihrem Gegenstand ab. Jakob von Uexküls Merkwelt und Wirkwelt zerfielen in zwei getrennte Hälften. Viele Eindrücke und Begebenheiten verlieren ihre holistische Qualität; gehen unwiderruflich verloren. Beim Gehen des Schreibens wegen innezuhalten, eine schlechte Wahl. Was ich zu Fuß gehend denke und fühle, all die Imaginationen und Inspirationen des Unterwegsseins, verschmelzen in meiner Stimmung, tönen die Atmosphären der Landschaft, und machen den einen besonderen Gang aus. Im Gehen spüre und erfahre ich mich, physisch und psychisch, Schritt für Schritt. Die Flüchtigkeit der Eindrücke, Augenblick nach Augenblick vorüberziehend, verdichten sich zu einem Panorama des Loslassens. Das Glücksgefühl stellt sich erst ein, wenn Gefühle und Gedanken zu fließen beginnen, sich innere und äußere Welt, Leib und Geist, miteinander verbinden. In seltenen euphorischen Momenten Einswerden mit der Welt, die uns umgibt – im Gehen. Am Ende des Tages haben sich alle diese Eindrücke und Atmosphären zu einem einzigartigen Gesamteindruck gestaltet, aus dem wie ein Berggipfel im Nebelmeer ein besonders psychisch besetztes Detail herausragt. Die Ernte des Reisens!

09 September 2022

Kamm und Flöte


Eins


Was ist erforderlich, das Fremde angemessen darzustellen?


Es ereignete sich an einem meiner letzten Tage in Soë. Jedenfalls in der letzten Woche. Kurz vor meinem Abflug nach Bali. Eines Morgens steht Sapay unerwartet vor der Tür. Es ist noch früh. Für mich, weniger für ihn. Er ist schon einige Stunden unterwegs und muss sein Haus in Nunusunu vor Sonnenaufgang verlassen haben. Ich muss unbedingt noch jemanden kennenlernen, drängt er, fällt gleich mit der Tür ins Haus. Jemand wichtigen. Einen Mann. Er wohnt ganz in der Nähe, am Ende der Jalan Ahmed Yani. Dort, wo es zu den Bungalows der Provinzregierung hinaufgeht.
Meine Arbeit in Amanuban ist beendet. Meinen Abschied habe ich vor einer Woche aufwändig zelebriert. Alle sind gekommen. Reden und Geschenke wurden ausgetauscht. Ein Schwein wurde geschlachtet und gegessen. Und vieles mehr. Der Abschied vollendet. Was bleibt ist ordnen, packen, abreisen. Ob ich will oder nicht. Der neue Beamte im Kantor Imigrasi in Kupang hat ein Machtwort gesprochen. Über meine Wünsche hinweg, meine Beziehungen ignorierend, jeden meiner Freunde in Amanuban beleidigend. Er schickt mich zurück nach Deutschland, weil ich meine Aufenthaltsgenehmigung überzogen habe. Er ist Jawaner. Und das reicht. Wäre ich nicht Deutscher, sagt er, würde er mir Schwierigkeiten machen, die ich nicht vergessen werde.

03 Februar 2022

Im Herzen der Extremadura


Eh das Ziel mir war bewusst,
Wanderte ich leicht,
Habe manche Höhenlust,
Manches Glück erreicht
.
Hermann Hesse

Nur aus weiter Ferne nehme ich am Daheimgebliebenen teil. Es sind Splitter eines Lebens, das anderswo stattfindet und in der Erinnerung weiterlebt. Der lange und trübe Berliner Winter, der oft auf der Schwelle zur Depression schlittert, ging in diesem Jahr früh zu Ende. Es ist immer eine kleine Erlösung, wenn die Frühlingssonne den April beglückt, die Brust weitet, und zum ersten Mal über den Winter triumphiert. Während ich über nasse und schlammige Wege wandere, in feuchter Kleidung, unter viel zu oft grauem Himmel, der kein Foto wirklich gelingen lässt, liegen die Berliner in der Sonne und genießen die Wärme. Zu Hause dürstet die Natur, hier ertrinkt sie. Als ich meine Fußreise im April begann, träumte ich von mediterraner Frühlingssonne, nicht zu heiß, an einem blauen Himmel. Die Wirklichkeit hat meine Vorstellungen korrigiert, und mir neue Erfahrungen bereitet, auf die ich weder vorbereitet war, und die ich mir nicht gewünscht habe. Trotzdem frage ich mich: Ist dieser Frühling in Berlin noch ein Frühling oder ein viel zu früher Sommer?

15 September 2021

Das Museo del Bandolero in Ronda


Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns,
daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens
, [...] Dauern
ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig
nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild
seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige.

Rainer Maria Rilke

Ronda ist eine besondere andalusische Stadt mit einer äußerst bemerkenswerten Brücke, El Puente Nuevo, die den Ort in zwei Städte trennt: in ein altes, historisches Ronda der dekadenten Architektur, der verwinkelten Gassen und Plätze sowie in das merkantile, das neue, mit moderner Infrastruktur. Ein Ronda, in dem ich für einen Moment aus der Zeit gefallen bin, ein anderes, das in meine Zeit gehört. Ich kam vom Cabo de Gata mit dem Bus hierher, für eine Nacht, auf dem Weg in die Serranía de Ronda, um zu wandern, eine Berglandschaft, die zur Sierra de Grazalema und Sierra de las Nieves gehört, und die im Süden an den Naturpark Los Alcornocales grenzt. Die malerischen, fremd klingenden Namen faszinierten mich aufs Neue und lockten mich zurück in die andalusischen Berge, nordwestlich der Alpujarras. Doch Ronda hielt mich ein paar Tage lang gefangen.
Meine Zeit in Ronda war fast vorbei. Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt nach Grazalema. Ich hatte die Wohnung verlassen, den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und den Rucksack auf den Schultern. Ich ging die Straße hinab zur Stadtmauer und hinauf zur Brücke über die Tajo-Schlucht. Noch einen letzten Blick in die Tiefe, schwindelerregend und weit in die Landschaft, wollte ich mitnehmen. Abschied! Über die Brücke und hinein nach El Mercadillo, zur Estación de Autobuses in die Neustadt. Auch an diesem Morgen drängte ich mich zwischen die zahlreichen Besucher an die Brüstung der Sehenswürdigkeit, mir schmerzlich bewusst, dass die schönsten Orte Welt zu einem Massenerlebnis geworden sind. Das unbestimmte Gefühl, etwas vergessen zu haben, ließ mich zögern. Vielleicht schlich sich in diesem Augenblick etwas in meine Wahrnehmung, bewusst kaum zu fassen, dazu war die Berührung viel zu sanft. Ich dachte an das Museo del Bandolero, und bedauerte plötzlich, es ausgelassen zu haben.

17 August 2021

Pilgern - einst und jetzt


Ein peregrinus war im frühen Mittelalter der Fremde, der aus welchen Motiven auch immer unterwegs war. Auch falsche Pilger, Räuber und Betrüger, konnten sich in diese Rolle hüllen, und ihre wahren Absichten verbergen, sodass Pilgerfahrten im Mittelalter weitaus gefährlicher waren, als sie es heute sind. Der mittelalterliche Pilger trug verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitmierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh dem Pilger einen offiziellen Rechtsstatus, den habitus peregrinorum, der ihn schützte und unterwegs unterstützte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben Pilgerhut und -umhang, sind im Jakobusbuch Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert, und machten ihn als Pilger kenntlich. Die Tasche war klein, fasste im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, nur wenig persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der alte Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab als dritter Fuß des Pilgers symbolisierte die göttliche Trinität. Der Pilger ein franziskanischer oder buddhistischer Betelmönch. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im 8. Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben.

30 April 2021

Unterwegs auf der Vía de la Plata


Kultur ist das, was in Auseinandersetzung
mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt
der Veränderung des Eigenen durch
die Aufnahme des Fremden dar
.
Mario Erdmann

Kultur ist ein großes Wort, das vieles umfasst. Was ist nicht alles Kultur! Vor allem die Sprache, die die vielen Gegenstände bezeichnet, die uns umgeben, damit wir über sie reden können. Kunst und Handwerk, unsere Wirtschaft, unsere sozialen und politischen Systeme und unsere Religion. Weltanschauung, Lebensweise, Moral und Ethik. Kultur ist unsere Lebenswelt und Lebensart und alles, was sie bedeutet. All das sind wir, ob wir wollen oder nicht. Auf einer Wanderung, besonders auf einer Fußreise, bewegt sich jeder durch Kultur, nicht nur die der Städte, auch die, die sich in einer Landschaft äußert, die weitaus subtiler ist, und ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Kultur umgibt den Wanderer unmittelbar. Sie hüllt ihn ein, konfiguriert seine Wahrnehmung, und bietet ihm Herausforderungen, Überraschungen, Spannung und Antworten, oft auf Fragen, die seine Anwesenheit provoziert, und an die er selbst nicht gedacht hat. Die Schwierigkeit besteht darin, dass zu sehen, was wirklich ist. Viele glauben mittlerweile, Kultur erschöpft sich in unseren Freizeitaktivitäten: in Theaterbesuchen, in Literatur und Musik, in Bars, Kinos und Restaurants, in sozialen Events, im alltäglich Vertrauten.

22 April 2021

Pilgern? Weshalb überhaupt?


Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert, schreibt Paul Coelho in der im eigenen, oft als schwülstig empfundenen Sprache. Doch es gibt Ausnahmen wie bei Henry David Thoreau, der nicht im Verdacht steht, einer leeren Spiritualität das Wort zu reden. In seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern fordert auch er seine Leser auf, in Richtung ihrer Träume zu leben. Dann werden sie Erfahrungen machen, verspricht er, die sie sich gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Fußreisen, die sich in postmodernen Zeiten vollständig von der ideologischen Doktrin des Pilgerns gelöst und dafür einen Hauch Subversivität gewonnen haben.

06 Oktober 2020

Intermezzo Grünes Band

Der Blues des Wanderns trägt
den Abschied im Gepäck.

Früh am Morgen hat dichter Nebel die Welt am Rennsteig verschluckt. Weit sehen kann ich nicht, denn die wabernde Unschärfe hält meine Umgebung verborgen. Der Weg, der an meinen Füßen beginnt, schlüpft nicht weit entfernt unter die feuchte Decke und bleibt verschwunden. Daran ändert auch nicht, dass ich weiter gehe. Mir kommt es vor, als ob ich Watte vor mir herschiebe, die sich nicht wegschieben lässt, und sich beharrlich an den Abstand zwischen uns klammert. Pedantisch, denke ich, so zwanghaft darauf zu bestehen, sich nicht näher zu kommen. Es riecht erdig, etwas modrig, die Luft ist feucht, benetzt mir Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzen im kühlen Wind. Ich kann sie fühlen, nicht sehen, denn sie verstecken sich vor mir im grauen Nichts. Die Straßen von Schmiedefeld am Rennsteig liegen verlassen. Niemand geht zur Arbeit oder zur Schule. Erst an der Landstraße wird es laut. PKW und Schwerverkehr donnern lärmend an mir vorbei als gibt es niemanden so früh am Tag. Kein Mensch ist unterwegs, nur ein braun gescheckter Hund mit feuchtem Fell schnuppert in alle Ecken. Ich warte lange auf den Bus, der so früh am Morgen bereits verspätet ist. Er kommt erst, als ich ihn fast aufgegeben habe. Und er ist leer. Der Fahrer sitzt in einem Verschlag, isoliert hinter einem durchsichtigen Vorhang aus Plexiglas, der an Ringen von einer Stange herunterhängt. Geschützt vor dem Virus, der die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat. Ganz unten ist ein schmaler Schlitz offengeblieben, durch den ich meine Münzen in eine Mulde legen kann, durch den mir der Fahrer den Fahrschein zuschiebt. Nach Neustadt am Rennsteig bleibe ich der einzige Fahrgast. Für mich eine angenehm maskenfreie Fahrt, was inzwischen schon keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Für den Betreiber ein Verlustgeschäft. Noch einmal schleicht sich das Gefühl der letzten Tage ein, allein auf der Welt zu sein.