Erst die Möglichkeit einen Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert, schreibt Paul Coelho in der im eigenen, oft als schwülstig empfundenen Sprache. Doch es gibt Ausnahmen wie bei Henry David Thoreau, der nicht im Verdacht steht, einer leeren Spiritualität das Wort zu reden. In seinem Klassiker Walden – oder ein Leben in den Wäldern fordert auch er seine Leser auf, in Richtung ihrer Träume zu leben. Dann werden sie Erfahrungen machen, verspricht er, die sie sich gewöhnlich nicht vorstellen können. Doch dazu ist notwendig, fährt er fort, mancherlei zurückzulassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten, damit sich neue und freiere Gesetze um uns bilden können oder die alten ausgedehnt werden. Wer Thoreau beim Wort nimmt, dem öffnet sich die Welt der Fußreisen, die sich in postmodernen Zeiten vollständig von der ideologischen Doktrin des Pilgerns gelöst und dafür einen Hauch Subversivität gewonnen haben.
22 April 2021
Pilgern? Weshalb überhaupt?
06 Oktober 2020
Intermezzo Grünes Band
Der Blues des Wanderns trägt
den Abschied im Gepäck.
Früh am Morgen hat dichter Nebel die Welt am Rennsteig verschluckt. Weit sehen kann ich nicht, denn die wabernde Unschärfe hält meine Umgebung verborgen. Der Weg, der an meinen Füßen beginnt, schlüpft nicht weit entfernt unter die feuchte Decke und bleibt verschwunden. Daran ändert auch nicht, dass ich weiter gehe. Mir kommt es vor, als ob ich Watte vor mir herschiebe, die sich nicht wegschieben lässt, und sich beharrlich an den Abstand zwischen uns klammert. Pedantisch, denke ich, so zwanghaft darauf zu bestehen, sich nicht näher zu kommen. Es riecht erdig, etwas modrig, die Luft ist feucht, benetzt mir Haar und Jacke. Winzige Wassertropfen tanzen im kühlen Wind. Ich kann sie fühlen, nicht sehen, denn sie verstecken sich vor mir im grauen Nichts. Die Straßen von Schmiedefeld am Rennsteig liegen verlassen. Niemand geht zur Arbeit oder zur Schule. Erst an der Landstraße wird es laut. PKW und Schwerverkehr donnern lärmend an mir vorbei als gibt es niemanden so früh am Tag. Kein Mensch ist unterwegs, nur ein braun gescheckter Hund mit feuchtem Fell schnuppert in alle Ecken. Ich warte lange auf den Bus, der so früh am Morgen bereits verspätet ist. Er kommt erst, als ich ihn fast aufgegeben habe. Und er ist leer. Der Fahrer sitzt in einem Verschlag, isoliert hinter einem durchsichtigen Vorhang aus Plexiglas, der an Ringen von einer Stange herunterhängt. Geschützt vor dem Virus, der die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat. Ganz unten ist ein schmaler Schlitz offengeblieben, durch den ich meine Münzen in eine Mulde legen kann, durch den mir der Fahrer den Fahrschein zuschiebt. Nach Neustadt am Rennsteig bleibe ich der einzige Fahrgast. Für mich eine angenehm maskenfreie Fahrt, was inzwischen schon keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Für den Betreiber ein Verlustgeschäft. Noch einmal schleicht sich das Gefühl der letzten Tage ein, allein auf der Welt zu sein.
25 September 2020
Ankunft in Amanuban
04 Februar 2020
Ein Greenhorn in Amarasi
15 Dezember 2019
Der Yogin im Hinterwald
Im Register der rituellen Rede Tonis ist immer nur von Banam die Rede, auch wenn die Landschaft jetzt Amanuban genannt wird. Das entsprechende Ortsnamenbündel, das Amanuban in diesen Texten repräsentiert lautet: Nenu und Banam, Bunu und Bi Teno, vier Orte, die als Ursprungsort einer Migration aufgefasst werden müssen, von denen einer Banam heißt, der so bedeutend war, dass er die Landschaft und das politische Reich bezeichnete. Die Amanuban benachbarten Territorien Molo und Miomafo besitzen ein eigenes, unterscheidenes Ortsnamenbündel, das die Migrationsgeschichte des Reichs des Sonba`i nachzeichnet: Molo und Miomafo, Pai Neno und Oenam. Das moderne Amanuban ist ein Verwaltungsbezirk der indonesischen Administration, politisch unter javanischer Hegemonie. Kulturell und politisch ist Amanuban besetztes Land. In der Schule lernen und sprechen die Kinder Indonesisch. Das schriftlose Uab Meto, die Landessprache, ist Umgangssprache in den Dörfern. Disqualifiziert zum Dialekt. Dawan, Hinterwälder, oder erst recht fantasielos Timoreezen, nannten die niederländischen Besatzer und frühen Ethnographen verächtlich die einheimische Bevölkerung der Atoin Meto. Als Hinterwälder, Tagediebe, Wegelagerer und gefährliche Kopfjäger sind sie in die Berichte der niederländischen Missionare, Händler und Reisenden eingegangen und abgewertet worden. Ein ethnisches Vorurteil selbstverständlich. Sie selbst nennen sich die Menschen des trockenen Landes: Atoin Pah Meto. Westtimor ist Savanne seit die Chinesen, Araber und zuletzt die Niederländer und Portugiesen die einst reichen Sandelholzwälder der Insel bis auf den letzten Baum abgeholzt haben. Als die verbliebenen Schiffe der Magellan-Weltumseglung unter Kapitän Juan Sebastián Elcano die Nordküste Timors Mitte des 15. Jahrhunderts erreichten, war Timor eine von Sandelholzbäumen bedeckte Insel, ein gigantischer Sandelholzwald, von dem nichts geblieben ist. So jedenfalls berichtet es der Bordchronist der Expediton, Antonio Pigafetta. Eine rezente Wiederaufforstung: bislang negativ. Bis auf einige wenige ökologische Projekte, meist mit ausländischen Geldern finanziert. Tief im Boden der verkarsteten Insel versteckt liegen riesige unterirdische Wasserreservoirs, die ungenutzt ins Meer abfließen. Landwirtschaft ist ein Glücksspiel mit dem Monsun. Hunger noch nicht ganz Vergangenheit.
08 November 2019
Am Achat-Kap
andere welten verspricht
der blick durchs fenster
02 Oktober 2019
In den Gassen von Cádiz
tauche ich meine füße
bis ins abendrot
Die Zeit zerfließt, und Dalis weiche Uhren erscheinen mir plötzlich real. Ein weißes Kaninchen kreuzt meinen Weg und ein Siebenschläfer denkt auf einer verrückten Teegesellschaft über ein verändertes Bewusstsein nach: zu atmen, wenn ich schlafe, ist dasselbe wie zu behaupten, ich schlafe, wenn ich atme. Ein schönes Koan, über das sich lange nachzudenken lohnt. Grace Slick, die Frontfrau von Jefferson Airplane, inspiriert diese Replik auf dem legendären Woodstock-Festival 1969 zu einer Hymne, die sie der versammelten Hippie-Gemeinde entgegenruft: when logic and proportion have fallen sloppy dead / remember what the doormouse said / feed your head, feed your head. Wenn ich will, kann ich die alltägliche Realität verwerfen, wenn sie nicht zu meinen Träumen passt.
19 September 2019
Ganeshas Reich
Ich sehe überall in Bali Ganesha-Statuen in den Hauseingängen, vor den Geschäften und Restaurants, an Kreuzwegen und im Schatten mächtiger Waringinbäume. Die meisten sind reich geschmückt, tragen Blumenketten um den Hals, viele von ihnen sind bunt bemalt, glänzen in ihrem neuen Kleid. In ihrem Schoß und am Sockel ihres Throns häufen sich die Opferkörbchen und steigt betörender Duft zu ihnen hoch. Ganesha fühlt sich wohl und zuhause in Balis wohlhabenden Kreisen, und wäre er nicht aus Stein, er würde vor Fett glänzen. Zufrieden und selbstgefällig präsentiert er seinem wohlgenährten, runden Kugelbauch, den er von den Passanten, die bei ihm vorübergehen, bewundern lässt. Er ist ein Patriarch, ein Beschützer und Wohltäter, der sich seiner Beliebtheit bewusst ist. Siwas elefantenköpfiger Sohn genießt Prestige und er ist überall in Bali populär, wo sich Touristen niedergelassen haben. Das war vor 20 Jahren nicht so, aber inzwischen hat er den im Tourismus engagierten Balinesen Reichtum und Glück beschert.
10 September 2019
Ein Sommer im Briesefließ
Ein schöner Tag. Ein perfekter Tag um zu wandern. Die Sonne scheint warm vom blauen Himmel, über den dicke Pakete weißer Wolken ziehen. Immer wieder machen die Kumuluswolken der Sonne ihren Auftritt streitig, doch wenn sie sich durchsetzt, wird es gleich warm. Trotzdem weht ein kühler Wind. Abwechselnd wird mir warm oder ich friere wieder, aber dafür schwitze ich nicht, was mir gefällt. Es ist immer ein Kompromiss zwischen der richtigen Kleidung und der herrschenden Temperatur. Mir macht es weniger aus, gelegentlich zu frieren, als zu viel Gewicht auf dem Rücken zu tragen. Gefüllte Wasserflaschen sind mir lieber als eine wärmende Jacke; jedenfalls im Frühling und Sommer. 27 Grad sollen es heute werden. Ich habe mich für ein kurzärmeliges, dünnes Hemd entschieden, und die Jacke zuhause gelassen. Im Wind bedauere ich es beinahe, denn es sind gefühlt höchstens zehn Grad.
07 März 2019
Der Baum von Guernika
Wir träumen von Reisen in das Weltall.
Ist denn das Weltall nicht in uns?
Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.
Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.
Novalis
Gernika! Der Name hat einen schrecklichen Klang. Er lässt einen bitteren Geschmack zurück. Für die baskische Bevölkerung muss Picassos Gemälde im Zentrum der Stadt eine ständige Mahnung sein. Angesichts dieses Schreckens und der Zerstörung hätte es die ETA nie geben dürfen. Die Aufgabe der Kreativen besteht darin sich öffentlich zu machen. Pilgern bietet die Möglichkeit der unaufgeregten Besinnung auf das Wesentliche, ist Vorbereitung auf den Prozess der Veräußerung eigener Betroffenheit, die sich in den Erlebnissen und Erfahrungen spiegelt, mit denen man in dieser Welt besser leben kann. Mein affektives Betroffensein durch die Erfahrungen mit der Lebenswelt, gestaltet den inneren Reflex auf meine Wahrnehmungen.
11 Dezember 2018
Das Glück des Gehens 3
Ich wünschte, ich wäre ein Baum! Stark verwurzelt in der Erde, streckt er sich dem Himmel entgegen. Doch ich bin kein Baum, deshalb kann ich nicht bleiben.
Fußreisen, einfaches Gehen, Schritt für Schritt, bietet viele Vorteile für Geist und Körper. Ein alter Terminus hat in der modernen Reiseliteratur wieder Fuß gefasst: Solvitur ambulando: Es löst sich durch Gehen, schlug der Heilige Augustinus für ein Gedankenexperiments des Zenon von Elea vor. Platon und seine Schule lehrten einen objektiven Zeitbegriff, Für sie war die Zeit die Bewegung von Himmelskörpern, die Vollendung eines Tages, die Bewegung von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der Vorsokratiker Zenon beschäftigte sich insbesondere mit dem Verhältnis von Raum, Zeit und Bewegung. Mit seinem Konzept der unendlichen Teilbarkeit von Raum und Zeit wollte er beweisen, dass wir nie an ein Ziel ankommen. Sein bekanntestes Paradoxon, der Trugschluss von Achilles und der Schildkröte, behauptet, dass ein schneller Läufer einen langsamen Läufer nicht überholen kann, sofern er jenem einen Vorsprung gewährt. Diogenes von Sinope, Skeptiker und der Bedürfnislosigkeit des Kynismus verschrieben, war vielleicht der Erste, der Zenons Behauptung, Bewegung sei nicht real, widersprach, indem er aufstand und herumging und so einen Zusammenhang zwischen Bewegung und Zeit demonstrierte. Von einem Ziel ist nirgendwo die Rede.
05 Dezember 2018
Eine Pilgeroase in Crotzwitz
Jede Begegnung,
die unsere Seele berührt,
hinterlässt eine Spur,
die nie ganz verweht
Lore-Lillian Boden
Ich nehme Abschied von Astrid und Allan, meinen Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer in Bautzen geteilt habe. Die beiden stehen gerade auf, als ich aufbreche. Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er spricht mich auf die beiden an, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. "Das geht nicht," ereifert er sich, "ich er bekomme Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern. Eine Pilgerherberge ist kostenlos und jeder weiß, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden kann." Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, und ziehe meines Wegs. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben.
Ich finde den Pilgerweg wieder nicht gleich wieder und muss mehrmals fragen, bevor ich den richtigen Weg aus Bautzen finde. Ich werde in verschiedene Richtungen geschickt, laufe den Berg zur Altstadt gleich mehrfach hinauf und hinunter. Zwischen Spree und äußerer Stadtmauer verlasse ich die Stadt. Am Stadtrand treffe ich unerwartet meine Pilgerfreunde wieder, die an einer Kreuzung stehen, und ihre Karte befragen. Ein kurzes Hallo, und jeder zieht seiner Wege. Ich gehe die langsam ansteigende Straße nach Salzenfurt voraus, die aus Bautzen herausführt. Schon bald habe ich Astrid und Allan, die hinter mir zurückbleiben, aus den Augen verloren.