andere welten verspricht
der blick durchs fenster
Ich sehe überall in Bali Ganesha-Statuen in den Hauseingängen, vor den Geschäften und Restaurants, an Kreuzwegen und im Schatten mächtiger Waringinbäume. Die meisten sind reich geschmückt, tragen Blumenketten um den Hals, viele von ihnen sind bunt bemalt, glänzen in ihrem neuen Kleid. In ihrem Schoß und am Sockel ihres Throns häufen sich die Opferkörbchen und steigt betörender Duft zu ihnen hoch. Ganesha fühlt sich wohl und zuhause in Balis wohlhabenden Kreisen, und wäre er nicht aus Stein, er würde vor Fett glänzen. Zufrieden und selbstgefällig präsentiert er seinem wohlgenährten, runden Kugelbauch, den er von den Passanten, die bei ihm vorübergehen, bewundern lässt. Er ist ein Patriarch, ein Beschützer und Wohltäter, der sich seiner Beliebtheit bewusst ist. Siwas elefantenköpfiger Sohn genießt Prestige und er ist überall in Bali populär, wo sich Touristen niedergelassen haben. Das war vor 20 Jahren nicht so, aber inzwischen hat er den im Tourismus engagierten Balinesen Reichtum und Glück beschert.
Ein schöner Tag. Ein perfekter Tag um zu wandern. Die Sonne scheint warm vom blauen Himmel, über den dicke Pakete weißer Wolken ziehen. Immer wieder machen die Kumuluswolken der Sonne ihren Auftritt streitig, doch wenn sie sich durchsetzt, wird es gleich warm. Trotzdem weht ein kühler Wind. Abwechselnd wird mir warm oder ich friere wieder, aber dafür schwitze ich nicht, was mir gefällt. Es ist immer ein Kompromiss zwischen der richtigen Kleidung und der herrschenden Temperatur. Mir macht es weniger aus, gelegentlich zu frieren, als zu viel Gewicht auf dem Rücken zu tragen. Gefüllte Wasserflaschen sind mir lieber als eine wärmende Jacke; jedenfalls im Frühling und Sommer. 27 Grad sollen es heute werden. Ich habe mich für ein kurzärmeliges, dünnes Hemd entschieden, und die Jacke zuhause gelassen. Im Wind bedauere ich es beinahe, denn es sind gefühlt höchstens zehn Grad.
Wir träumen von Reisen in das Weltall.
Ist denn das Weltall nicht in uns?
Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.
Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.
Novalis
Gernika! Der Name hat einen schrecklichen Klang. Er lässt einen bitteren Geschmack zurück. Für die baskische Bevölkerung muss Picassos Gemälde im Zentrum der Stadt eine ständige Mahnung sein. Angesichts dieses Schreckens und der Zerstörung hätte es die ETA nie geben dürfen. Die Aufgabe der Kreativen besteht darin sich öffentlich zu machen. Pilgern bietet die Möglichkeit der unaufgeregten Besinnung auf das Wesentliche, ist Vorbereitung auf den Prozess der Veräußerung eigener Betroffenheit, die sich in den Erlebnissen und Erfahrungen spiegelt, mit denen man in dieser Welt besser leben kann. Mein affektives Betroffensein durch die Erfahrungen mit der Lebenswelt, gestaltet den inneren Reflex auf meine Wahrnehmungen.
Ich wünschte, ich wäre ein Baum! Stark verwurzelt in der Erde, streckt er sich dem Himmel entgegen. Doch ich bin kein Baum, deshalb kann ich nicht bleiben.
Fußreisen, einfaches Gehen, Schritt für Schritt, bietet viele Vorteile für Geist und Körper. Ein alter Terminus hat in der modernen Reiseliteratur wieder Fuß gefasst: Solvitur ambulando: Es löst sich durch Gehen, schlug der Heilige Augustinus für ein Gedankenexperiments des Zenon von Elea vor. Platon und seine Schule lehrten einen objektiven Zeitbegriff, Für sie war die Zeit die Bewegung von Himmelskörpern, die Vollendung eines Tages, die Bewegung von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der Vorsokratiker Zenon beschäftigte sich insbesondere mit dem Verhältnis von Raum, Zeit und Bewegung. Mit seinem Konzept der unendlichen Teilbarkeit von Raum und Zeit wollte er beweisen, dass wir nie an ein Ziel ankommen. Sein bekanntestes Paradoxon, der Trugschluss von Achilles und der Schildkröte, behauptet, dass ein schneller Läufer einen langsamen Läufer nicht überholen kann, sofern er jenem einen Vorsprung gewährt. Diogenes von Sinope, Skeptiker und der Bedürfnislosigkeit des Kynismus verschrieben, war vielleicht der Erste, der Zenons Behauptung, Bewegung sei nicht real, widersprach, indem er aufstand und herumging und so einen Zusammenhang zwischen Bewegung und Zeit demonstrierte. Von einem Ziel ist nirgendwo die Rede.
Jede Begegnung,
die unsere Seele berührt,
hinterlässt eine Spur,
die nie ganz verweht
Lore-Lillian Boden
Ich nehme Abschied von Astrid und Allan, meinen Mitpilgern, mit denen ich mir das Petri-Zimmer in Bautzen geteilt habe. Die beiden stehen gerade auf, als ich aufbreche. Unten auf dem Hof kommt ein Offizieller mit dem Fahrrad zur Arbeit. Er spricht mich auf die beiden an, und regt sich darüber auf, dass sie zwei Tage in der Herberge übernachtet haben. "Das geht nicht," ereifert er sich, "ich er bekomme Schwierigkeiten mit den gewerblichen Anbietern. Eine Pilgerherberge ist kostenlos und jeder weiß, dass sie nur für eine Nacht genutzt werden kann." Ich murmele etwas von Bautzen sei doch viel zu schön für einen Tag, und ziehe meines Wegs. Ich habe selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Tag länger zu bleiben.
Ich finde den Pilgerweg wieder nicht gleich wieder und muss mehrmals fragen, bevor ich den richtigen Weg aus Bautzen finde. Ich werde in verschiedene Richtungen geschickt, laufe den Berg zur Altstadt gleich mehrfach hinauf und hinunter. Zwischen Spree und äußerer Stadtmauer verlasse ich die Stadt. Am Stadtrand treffe ich unerwartet meine Pilgerfreunde wieder, die an einer Kreuzung stehen, und ihre Karte befragen. Ein kurzes Hallo, und jeder zieht seiner Wege. Ich gehe die langsam ansteigende Straße nach Salzenfurt voraus, die aus Bautzen herausführt. Schon bald habe ich Astrid und Allan, die hinter mir zurückbleiben, aus den Augen verloren.
Schichten statt Geschichten!
Hubert Fichte
Eins
Pilgern, wie jede Reise, ist eine Bewegung im Raum, die nachfassende Erinnerung eine Bewegung in der Zeit. Die schreibende Wiederholung der Erfahrung meiner Fußreise auf der Via Regia bildet nicht allein den Ort ab, auf den sich meine Erinnerung bezieht. Frühere Erlebnisse, Bilder, Wege oder Vorbilder mischen sich ein und verändern die Erfahrung zu einem fiktional wirkenden Erlebnis. So ist es gewesen, so hätte es sein können, bilden eine unauflösbare Melange. Bewusst gewordenes, wieder bewusst werdendes. Was war einst Faktum, was ist jetzt Fiktion? Sigmund Freud spricht von einem inneren Ausland, während ich von erinnerten Ausland spreche. Kann ich es durch die gleiche Analyse erkunden, mit der Freud dem Verdrängten auf der Spur war.?
Die kleine Herberge in Pobeña hat zwei Zimmer, die mit Etagenbetten vollgestopft sind. Der Schlafraum erinnert an eine Sardinenbüchse, wäre er nicht so groß. In zwei Etagen sind die Pilger übereinander gestapelt. Die Luft ist nachmittags schon verbraucht, und die kleinen Fenster nur gekippt. Zwischen den Betten ist es eng, kaum Platz, sich zu bewegen. Ich arbeite mich über Schuhe und Rucksäcke hindurch zu dem Bett, das mit die Hospitalera, eine freundliche, ältere Frau, die jeden Nachmittag ehrenamtlich die ankommenden Pilger empfängt, zuweist. Als ich meine müden Füße und Beine endlich auf der Matratze ausstrecke, liegt mein Bettnachbar so eng neben mir, dass ich mich wie in einem Doppelbett fühle. Wenn ich die Hand ausstrecke, kann ich die Zimmerdecke über mir berühren. Vielleicht ist es die plötzliche Intimität, die allen nach einem einsamen Tag auf dem Trail zugemutet wird, dass keine Gespräche aufkommen. Alle liegen schweigend auf ihren Betten, lesen oder sind mit ihrem Smartphone beschäftigt. Alle Steckdosen sind belegt, und ich muss ein paar Smartphones anderes arrangieren, damit auch meines an die begehrte Stromquelle kommt. Im Raum ist es dämmrig. Ich sehe niemanden den ich kenne, aber das kann auch daran liegen, dass es um jedes Bett eine unsichtbare Wand gibt. Vertrautheit entsteht nicht so schnell, besonders dann nicht, wenn es keinen Platz gibt, an dem man sich ausbreiten kann. Alle haben sich eingeigelt und blieben für sich. Eine Atmosphäre der Unnahbarkeit breitet sich im Schlafsaal aus.
Ich will nicht pilgern! Ich stelle mir eher eine Fußreise vor, unbelastet durch die Aura von Kirche und Konfession. Schon das Wort ist für mich schwierig, da viel zu religiös besetzt. Und erst recht das Ziel einer Pilgerfahrt: Heiligenverehrung, paradoxe Wunder und ein Reliquienkult, der mittelalterlicher Frömmigkeit entsprungen ist. Die offizielle Amtskirche hat das Pilgern instrumentalisiert, zum Schaden der freien, spirituellen Pilgerfahrt. Osho vertritt die Auffassung, dass alle Ziele, Ideale, Ideologien, Religionen und Morallehren Lügen [sind]. Erkennen Sie die Lüge, folgert er, schauen sie tief in die Lüge Ihrer Persönlichkeit; denn wenn sie die Lüge sehen, verschwindet sie. Oshos Rede von den Lügen allzu wörtlich zu nehmen, führt zu einem Missverständnis. Ihm geht es um ein Phänomen, dass Gustav Jung den Schatten genannt hat. Auf einer Fußreise, die den Reisenden zu sich und seiner Welt in Distanz bringt, erkennt man den eigenen Schatten am besten.
Der Gedanke, auf einem Weg zu gehen, den vor mir Hunderttausende aus Nord- und Osteuropa gegangen sind, fasziniert mich. Die Vorstellung in die Spuren von Menschen zu treten, die diesen Weg mit ihrem Leben und ihren Idealen bevölkerten, manch einer von ihnen mit seinem Leben bezahlt hat, lässt mich nicht mehr los. Auf eine spirituelle Perspektive kann ich mich einlassen. Am ehesten buddhistisch! Auf keinen Fall will ich auf diesem Weg mittelalterlicher Pilgerfahrt katholisch sein. Der Pilgerweg nach Wilsnack, entscheide ich mich, muss eine buddhistische Pilgerreise werden. Die Worte eines fernöstlichen Zenmeisters lösen mein Dilemma auf:
»Wohin gehst du?« fragte Titsang.
»Auf eine Pilgerreise,« antwortete Fayen.
»Was ist der Grund deiner Pilgerreise,« wollte Titsang wissen.
»Ich kenne ihn nicht,« antwortete Fayen.
»Ihn nicht zu kennen kommt ihm am nächsten,« sprach Titsang.
Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel.
In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man sich
in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.
Walter Benjamin
Wer durch seine Welt wandert, wo sie ihm bekannt ist, oder er sie erst kennenlernen will, geht
mit ihr eine sinnliche und emotionale Beziehung ein, macht sich Gedanken über sie und sich in
ihr. Die Erfahrung urbanen Gehens fordert den ganzen Menschen, beeinflusst Sinne, Gefühl
und Gedanken, fördert sie in Abhängigkeit der Umstände, die städtisches Leben ausmachen.
Die Stadt muss Sinn machen, weil sonst die Beziehung stirbt.
Brandenburg heißt eine Stadt, aber in Wirklichkeit ist Brandenburg eine Landschaft mit dem
Titel Mark. Brandenburg kenne ich erst seit fünf Jahren. Unsere Beziehung war vom ersten Tag
an eine leidenschaftliche. Ich wusste damals noch nicht, dass es möglich ist, mit einer
Landschaft eine emotionale Beziehung einzugehen. Wer zu Fuß durch geht, tritt mit seiner
Umgebung nicht nur in eine physische, sondern auch in eine emotionale Beziehung ein. Er spürt
den Boden unter seinen Sohlen, die wechselnde Temperatur, Wind und Regen im Gesicht oder
den Schweiß, der früher oder später seinen Körper bedeckt. Eine Fußreise, ob in der Stadt oder
auf dem Land, ist eine sinnlich ganzheitliche Erfahrung, eine akustisch bis visuelle Odyssee,
selbst ein haptisches Vergnügen, denn der Wanderer kommt nicht umhin, Gegenstände am Weg
zu berühren, auch wenn es manches Mal nicht mehr als eine Tasse Kaffee ist. Von den
Gerüchen einmal ganz zu schweigen, denn die sind unbeschreiblich. Die Erfahrung des Gehens
fordert den ganzen Leib. Dieser spürt sich mit einer Kakophonie angenehmer und
unangenehmer Sinneseindrücke konfrontiert, die eine ständige Sinngebung provozieren. Der
Wanderer streift nicht nur durch seine Umgebung, sie lagert ihrerseits ihre Sedimente in ihm
ab. Plötzlich bemerkt er: Er ist zu einem Teil von ihr geworden. Die eigene Umgebung hat es
verdient, gespürt und gekannt zu werden. Der Mensch muss sich dessen bewusst sein, was er
seiner Geographie zu verdankt.
Der Schreibende ist ein Grenzgänger.
Nach seinen Entrückungen kehrt er in die
eigene Welt heim, um sein Lied zu singen,
in dem er seine Gemeinschaft teilnehmen lässt,
was er in der anderen »Welt« erfahren hat.
Michael Obert
In Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg findet sich eine auf den ersten
Blick verstörende Bemerkung: Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren
Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich
einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause
bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste - sagt
das Sprichwort - hat immer noch sieben Schönheiten.« Die spröde brandenburgische
Landschaft als Flora, Fauna und Klima, durch die der Wanderer geht, bildet den Fokus meines
affektiven Betroffenseins. Rationalisierung und Intellektualisierung haben meine Welt
entzaubert, sodass ich mich inmitten der urbanen Öde eines extremen Mittels bedienen muss,
um mir meiner Herkunft bewusst zu werden: Ich muss wieder zu Fuß gehen. Wo Menschen
früherer Kulturen authentische Erzählungen und Mythen besaßen, breiten sich in meinem Leben
nun komplexe Erklärungen aus, die mir meine Welt nur mit Mühe erklären. Was Landschaft
bedeutet, ist nicht durch deskriptive Beschreibungen oder beeindruckende
Hochglanzfotografien zu verstehen. Landschaft, und die Natur, die sie ist, lässt sich nur im
unmittelbaren leiblichen Kontakt erfahren. Novalis liegt mir im Ohr, der versucht hat, die
Landschaft, die ihn umgab, zu spüren wie eine Erweiterung seines Leibs.
Fontanes Statement für Reisende, die sich aufmachen, die Landschaften, Ortschaften und
historischen Hinterlassenschaften Brandenburgs mit feinerem Sinn zu suchen, wurde mein
Leitstern, als es darum ging, die Fremde vor meiner eignen Haustüre zu erkunden. Das
Besondere auch im Gewohnten zu finden, war zu Beginn nur graue Theorie. Ich beschloss im
Nahraum zu wandern, und mich von der touristischen Infrastruktur weitgehend fern zu halten.
Ich fand eine ganz besondere Fremde vor, mit der ich zuerst nichts anfangen konnte.
Brandenburg ist das Umland von Berlin, dachte ich. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die
Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die
Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und
Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut
noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe und Mischung
zu erleben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und kreuz und quer durch
Brandenburg zurück nach Berlin.